Eine verborgene Welt. Alina Tamasan

Eine verborgene Welt - Alina Tamasan


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auf ihrem Stuhl. Sie blickte in die dunklen Augen des Arztes und wusste, dass er ihre Geschichte kannte.

      „Ich fühlte mich nicht gut“, murmelte sie niedergeschlagen.

      „Was machte dir zu schaffen?“

      „Dieses … Weltenverbinden“, antwortete sie noch leiser. Irgendetwas in ihr wollte plötzlich alles erzählen, es ein für alle Mal loswerden. Nie wieder wollte sie etwas damit zu tun haben. „Dieses Weltenverbinden … und das Bewusstsein, ein Mischwesen zu sein.“

      „Erklär mir, was für ein Mischwesen?“

      „Sie wissen es doch!“

      „Ich möchte es von dir hören.“

      „Ein Mischling aus Naturwesen und Mensch.“

      „Und du glaubst, du bist ein solches? Diese Sprache eben, könnte das die Sprache der Naturwesen sein? Was sagte der Engel doch? Es wird ein Volk zu dir Kontakt aufnehmen, das … wie hieß es gleich?“ Er runzelte die Stirn und sah Noromadi erwartungsvoll an.

      „Gniri“, flüsterte sie.

      „Ja, genau! Also diese Gniri … Was sind das für welche?“

      „Ich weiß es nicht.“

      „Hast du Angst, es zu erfahren?“

      „Ja.“

      „Wenn du fühlst, dass du ein Mischwesen bist, dann weißt du bestimmt auch, was ein Gniri ist. Ich sehe es in deinen Augen. Ganz tief in dir drin spürst du es, oder?“

      „Nein, tue ich nicht!“, wehrte sich Noromadi heftig und verschränkte die Arme vor der Brust.

      „Was spürst du?“, fragte Dr. Müller mit einer Herzenswärme, die nicht zu überbieten war. Wie im Wahn begann sie sich langsam hin und her zu wiegen, derweil sie gegen die Tränen ankämpfte. „Lass es raus, ich sehe doch, wie sehr es dich quält.“

      „Ich … ich habe sie noch nie gesehen. Ich weiß nur, es fühlt sich seltsam an. Na ja, stellen Sie sich vor, Sie stehen morgens auf und blicken in den Spiegel. Sie sehen einen Menschen, aber Sie wissen, da steckt etwas anderes in diesem Körper, kein Mensch. Es ist, als hätten Sie sich verkleidet, um nicht aufzufallen. – Ja! Das ist es: Ich fühle mich, als sei ich zu Gast in diesem Körper, zu Gast in der Menschenwelt, zu Gast bei meinen Eltern. Sie kennen doch meine Eltern. Finden Sie, ich sehe Ihnen ähnlich? Nein! Ich bin klein und hässlich, eine kleine, hässliche Gniri!“

      „Hast du deswegen vor diesen Wesen Angst, weil sie hässlich sind?“

      „Nein, ich habe vor denen Angst, die mich als hässlich bezeichnen. All die, die mich so wie ich bin nicht wollen.“ Noromadi sah den Arzt gequält an.

      „Wenn du glaubst, andere finden dich hässlich, ist das eine Widerspiegelung dessen, was in dir selbst vorgeht. Wenn du dich selbst nicht akzeptierst, wie kannst du dich dann vor anderen selbst vertreten? Diese Gniri, wie du sie nennst, sind Erfindungen deines Geistes, der sich weigert einzusehen, dass er weder klein noch hässlich noch unzulänglich ist. Wenn du dich selbst nicht als Teil der Gesellschaft akzeptierst, wird es kein anderer für dich tun. Als Außenseiter ist es normal, wenn du dich in Fantasiewelten flüchtest, in denen Engel und Naturwesen hausen. Dort wird dir eine hohe Aufgabe anvertraut und du bist die Weltenvereinigerin. Du bist die, die hilft, Mensch, Natur und Äther zu verbinden, damit alle gerettet werden und alle glücklich sind – dich eingeschlossen! – Aber hier, in der Realität, da sieht die Sache anders aus. Hier fühlst du dich wie eine Ausgestoßene, deren Leben gar keinen hohen Zweck haben kann, weil es sich an den Rändern der Gesellschaft bewegt. Aber, Noromadi, du bist keine Ausgestoßene, du machst dich nur selbst dazu! Fakt ist, du bist ein Mensch. Wenn du das angenommen hast, wird alles leichter!“

      „Und was ist mit der Sprache?“, hielt ihm die junge Frau trotzig vor.

      „Ein Produkt deiner Fantasie, wie alles andere. Ich habe in meiner Laufbahn viele Menschen erlebt, die sich irgendeine Sprache zusammenschustern. So drücken sie ihre Weigerung aus, am Leben teilhaben zu wollen und erheischen Aufmerksamkeit, damit sich ihnen jemand widmet, wenn sie etwas wollen ohne etwas dafür zu tun. Ein ‚zurückgebliebener‘ Mensch ist im wahrsten Sinne des Wortes pflegebedürftig. Wenn er Zuwendung wünscht, bekommt er sie. Gleichzeitig ist er so ‚verrückt’, dass sich ihm niemand länger widmet als unbedingt nötig, und das ist es, was er will: in Ruhe gelassen werden, sich seinen Tagträumereien hingeben.“

      „Haben Sie wirklich eine solche Meinung von mir?“

      „Nein, habe ich nicht! Ich möchte dir nur aufzeigen, dass sehr, sehr viel Potential in dir steckt, und dass du aufhören solltest, vor dir selbst wegzulaufen“, antwortete Dr. Müller freundlich.

      Als Noromadi an diesem Abend ihre Pillendosis einnahm, glaubte sie fest, dass es gut für sie ist. Die Argumente des Stationsarztes hatten sie überzeugt. Ja, mehr noch. Er glaubte an sie. Dankbar überantwortete sie sich der beruhigenden Medizin und dämmerte in einen narkotischen Schlaf, den erst das Weckerrasseln abrupt beendete.

      Noromadi erhob sich mühsam und schluckte gleich die morgendliche Ration, die belebend und stimmungsaufhellend wirken sollte. Da sie keine Einzelsitzung hatte, besuchte sie den Malkurs und erheiterte sich mit Bildern von Sonnenblumen, Früchten und Häusern. Die Therapeutin nahm es zufrieden hin und lobte die Frische ihrer Bilder. Noromadi gefielen die Farben, doch ärgerte sie sich über ihre zittrigen Striche.

      „Nur keine Sorge“, tröstete die Therapeutin, „das sind Nebenwirkungen Ihrer Medikamente. Sie werden nachlassen, sobald Sie eine leichtere Dosis erhalten.“ Das Muskelzucken empfand sie als ebenso lästig wie die Übelkeit, die sie vormittags überkam und die sie nur mit einem opulenten Mahl bekämpfen konnte. Nachdem sie einige Wochen in der Klinik verbracht hatte, zitterten ihre Hände so sehr, dass sie sich kaum noch ihre Kleidung zuknöpfen konnte. Die Hosen spannten um Schenkel und Bauch, sie mied den Spiegel, denn ein feistes, aufgedunsenes Gesicht starrte ihr aus matten Murmelaugen entgegen. Sie fühlte sich unförmig und schwer. Ihre Schritte vom Zimmer zu den Einzelsitzungen oder in die Kantine wurden immer kleiner und schlurfender.

      Ihre Bilder behielten ihre prächtigen Farben, doch Blumen und Früchte gerieten zu teigigen absurden Formen. Beim Musizieren begnügte sie sich damit, draufzuhauen, was ihr vor die Nase gelegt wurde. Trotzdem nahm Noromadi weiter ihre Medikamente. Mit trotziger Genugtuung erkannte sie nämlich, dass nach der Einnahme die Auren um Menschen und Gegenstände mehr und mehr verblassten und schließlich ganz verschwanden, genauso wie die seltsamen Träume über Engel und Gniri, auch versiegte allmählich die fremde Sprache, die ihr einst flüssig von den Lippen gegangen war. Der Arzt nahm alles zufrieden zur Kenntnis.

      „Du hast dich hervorragend entwickelt“, teilte er ihr während einer Einzelsitzung mit. „Ich denke, wir können die Dosis heruntersetzen.“ Noromadi nickte erschöpft. „Außerdem möchte ich dir mitteilen, dass dich heute Nachmittag deine Familie besuchen kommt. Du hast dich sicherlich schon gefragt, warum sie sich solange nicht gemeldet haben. Es war keine Nachlässigkeit von ihrer Seite aus. Ich habe ihnen geraten zu warten, bis es dir besser geht. Ihre Anwesenheit hätte dich überfordert.“ Die junge Frau nickte abermals. „Wie würdest du deinen jetzigen Zustand beschreiben?“, er lehnte sich mit gefalteten Händen zurück.

      „K… ggut! Es hat aufgehört.“

      „Was hat aufgehört?“

      „Träume und Erscheinungen.“

      „Empfindest du das als einen Verlust?“

      „Nein.“

      „Was möchtest du nach deiner Entlassung im Leben erreichen?“

      „Sch… studieren“, Noromadi spürte, wie ihr Kinn zuckte, wie die kleinen aufgedunsenen Finger aufgeregt das Stofftaschentuch kneteten und sie hörte ihr linkes Bein rhythmisch gegen das Stuhlbein schlagen. „W… wenn d… das hhier aufhört …“

      „Die Symptome gehen zurück, das verspreche ich dir!“, der Arzt sah sie zuversichtlich an. „Ab morgen reduzieren wir sukzessive


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