für immer 8 Bit. Uwe Post
»Du sabberst rum wie die Jungs in Eis am Stiel. Hast wohl den Brief vergessen.«
Hatte ich nicht. Jedenfalls nicht ganz. Ich warf der Schublade einen Blick zu, in der ich das geheimnisvolle Dokument aufbewahrte.
Tommy zeigte mir einen Vogel. »Hast bloß die Hälfte der Botschaft entschlüsselt, und Knutschen hilft beim Rest ganz sicher nicht.«
Ich trottete zum Schreibtisch. Zog die unterste Schublade ganz heraus und griff tief in die Öffnung.
»Viel Erfolg«, sagte Tommy hämisch. »Ich spiele so lange mit deiner Eisenbahn.«
Wie oft ich den Brief in die Hand genommen hatte, seit ich ihn vor ein paar Wochen erhalten hatte? Keine Ahnung.
Es war ein Luftpost-Umschlag, mit blauen und roten Streifen am Rand. Ganz leichtes Papier, damit sich das Flugzeug nicht überanstrengte. Zwei australische Olympia-Briefmarken aus dem Jahr 1976, ein Air Mail-Aufkleber, abgestempelt am 31. März 1983 in Melbourne. Mit roten Filzstift stand ordentlich meine Adresse drauf geschrieben, aber kein Absender, weder vorn noch hinten.
Im Umschlag steckte eine gefaltete Seite mit Kästchenpapier, anscheinend aus einem Schulheft gerissen. Einige wenige Kästchen waren angekreuzt, das war alles. Die Kreuze bildeten grob gesagt zwei Gruppen zu je vier Zeilen, und das obere der beiden Muster war fast symmetrisch.
Ungefähr eine Woche hatte ich gebraucht, bis ich kapiert hatte, dass es sich um simplen Binärcode handelte. Ein angekreuztes Kästchen war eine 1, ein nicht angekreuztes eine 0. Die ersten vier Zeilen standen für vier Bytes, und jedes entsprach nach dem geläufigen ASCII-Code, zu dem es in einigen Computerzeitschriften Tabellen gab, einem Buchstaben.
A-n-n-a.
Die zweite Gruppe Kreuzchen bildete auch vier Zeichen, aber die ergaben keinen Sinn.
Ohnehin hätte mich nichts mehr elektrisieren können als die ersten vier Buchstaben. Jemand hatte mir aus Melbourne einen Brief mit einer Botschaft geschickt, die zur Hälfte aus dem Vornamen einer Mitschülerin bestand. Ich hoffte, dass der Rest der Nachricht nicht »auf jeden Fall meiden« lautete.
Der Brief verdrängte die Langeweile aus meinem Leben. Und brachte Anna hinein.
Ich war bis Montag, 15 Uhr, der mit Abstand nervöseste Mensch der Welt und dachte keine Sekunde an meinen zweitsehnlichsten Wunsch: Einen Atari.
Eins nach dem anderen.
Am folgenden Montag
Der Unterricht floss an mir vorbei wie die Zeit im Song von Alan Parsons. Nur in Englisch versuchte ich mich zu konzentrieren und weniger als sonst rüber zu Anna zu schauen, um am Nachmittag nicht wie der Ochs vorm Berg dazustehen. In der Pause fragte mich einer meiner Freunde nach meiner Meinung zu den Bundesliga-Ergebnissen. Ich wusste nur, dass die Offenbacher Kickers nach einer saftigen 3:7-Pleite gegen Werder Bremen nunmehr als Absteiger feststanden. Aber dieses Spiel war schon Freitagabend ausgetragen worden. Also einige Stunden vor dem Zwischenfall mit der Luftpumpe. Die Ergebnisse vom Samstag? »Äh, keine Ahnung.«
Mein Klassenkamerad Micky versuchte, mich in eine Diskussion über den TI 99/4A zu verwickeln.
»Wusstest du, dass das der einzige Heimcomputer ist, der 16 Bit auf einmal verarbeiten kann?«
»Ja«, seufzte ich, »dafür hat er bloß einen einsamen Joystickport, und der sieht auch nur so aus wie einer. Atari-kompatible Joysticks passen rein, funktionieren aber nicht.«
»Pah«, machte Micky und pikte mir den Finger in die Seite. Das tat er immer, wenn ihm ein Gespräch unangenehm wurde. Oder wenn ihn jemand Micky nannte.
In der letzten Stunde hatten wir Mathe. Danach beeilte ich mich, nach Hause zu kommen. Nach dem Mittagessen lief ich eine Weile in meinem Zimmer auf und ab. Dann zog ich frische Socken an. Anschließend lief ich wieder eine Weile hin und her. Ich sah mir die Englisch-Aufgaben an. Tigerte erneut hin und her. Schaute dauernd auf die Uhr. Notierte in mein Tagebuch ein einziges Wort, aber das in Großbuchstaben: »NERVÖS!«
Endlich war es halb Drei. Nicht, dass ich eine halbe Stunde gebraucht hätte, um zu Anna zu fahren, aber ich wollte auf keinen Fall zu spät kommen.
Ich fuhr einen Umweg, um nicht zu früh anzukommen, aber immerhin war ich schonmal unterwegs. Das fühlte sich viel besser an, als zu Hause hin und her zu tigern, obwohl leichter Nieselregen meine Kleidung durchnässte.
Die Fohlengasse lag in einem Viertel mit Einfamilienhäusern. Vor Annas Haus stand ein roter VW Golf. Ich kettete mein Fahrrad an den Jägerzaun und lief zur Haustür. Es gab nur eine Klingel. Annas Eltern verdienten eine Menge Geld, verriet das bronzene Namensschild.
Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Es war eine Quarzuhr mit LCD-Digitalanzeige. Sie besaß unter anderem eine Stoppuhr-Funktion, mit der ich in langweiligen Unterrichtsstunden spielte: Ich drückte die Taste zum Starten und Stoppen der Uhr zweimal hintereinander, so schnell ich konnte. Mein Rekord stand bei 13 Millisekunden. Die Uhrzeit wurde leider nur sekundengenau angezeigt. Ich wartete eine ganze Weile. Erst um exakt 15:00:00 drückte ich auf den Klingelknopf. Ich rutschte fast ab, so feucht war mein Zeigefinger.
Anna öffnete und begrüßte mich mit »Schuhe aus!«. Gut, dass ich frische Socken angezogen hatte. Auch Anna trug keine Schuhe. Ansonsten sah sie aus wie während der Englisch-Stunde: Ein dunkelroter Strickpullover mit langen Ärmeln, eine schwarze Jeans. Meine Jeans war blau und mein Pullover weiß.
Der Eingangsraum des Hauses wirkte kahl. Es gab eine Treppe nach oben. Anna schloss die Tür hinter mir, dann zeigte sie auf die Stufen. Ich ging vor und blieb oben stehen. Anna überholte mich und bog links ab. Ihr Zimmer lag also auf der Straßen-Seite des Hauses. Durch das Fenster sah ich den Golf und mein angekettetes Rad. Vermutlich hatte Anna meine Ankunft verfolgt. Vielleicht fragte sie sich, warum ich so lange nach der Klingel gesucht hatte.
Anna stand mitten in ihrem Zimmer. »Ich habe einen Küchenstuhl vor den Schreibtisch gestellt. Es ist etwas eng.«
»Okay«, sagte ich und ging langsam zum Schreibtisch, der unterhalb des Fensters stand.
Annas Zimmer hatte eine Dachschräge und war kleiner als meins, enthielt jedoch deutlich mehr Kuscheltiere. Auf dem Sofa, das sich vermutlich abends in ein Bett verwandelte, saßen einträchtig ein Nashorn, ein Bär und ein Elefant nebeneinander. Sie starrten mich an, als wäre ich ein möglicher Konkurrent um Streicheleinheiten. Schön wär‘s, Sportsfreunde!
Gegenüber gab es Schränke und Regale, in denen ein kleiner Fernseher stand. Daneben warteten einige Singles und LPs auf ihren nächsten Einsatz auf dem silbernen Sony-Plattenspieler. Oben auf dem Schrank stand eine mit einem Tuch abgedeckte Schreibmaschine.
»Okay«, sagte Anna, »shall we start with English?«
»Äh«, machte ich. Streng genommen war es logisch, die Englisch-Hausaufgaben nicht auf Deutsch zu besprechen, aber überrumpelt fühlte ich mich trotzdem. Ich brachte ein gestelztes »jäss« hervor.
Wir mussten einen längeren Text aus einer älteren Zeitung lesen, zusammenfassen und Verständnisfragen dazu beantworten. Anna schlug vor, den Text abwechselnd laut vorzulesen. Sie musste mich mehrmals korrigieren.
Zwischen Frage Drei und Frage Vier kamen wir uns unter dem Tisch mit den Füßen in die Quere. Ich fragte mich, wie jemand, der dicke Wollsocken trug, derart kalte Füße haben konnte. Ich grinste Anna an und sagte: »Cold.«
Sie verdrehte die Augen, schob ihre Zehen unter meine Füße und las die Frage vor.
Ich war in diesem Moment sehr erleichtert. Erleichtert darüber, dass offenbar die lange Zeit vorüber war, in der jegliche Interaktion mit Mädchen für mich ein Ding der Unmöglichkeit gewesen war. Eine Zeitspanne, die immerhin in etwa seit meiner Geburt bestand, mindestens aber seit dem Zeitpunkt, an dem ich begriffen hatte, dass Mädchen keine Jungs waren. Ich hatte keine Waage zur Hand, war aber sicher, dass meine Erleichterung messbar war. Im wahrsten Sinne des Wortes unbeschwert verliefen die restlichen Englisch-Hausaufgaben.
»Das