Leben auf brüchigem Eis. Eveline Luutz

Leben auf brüchigem Eis - Eveline Luutz


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vor meiner Großmutter überwunden hatte.

      Ich parkte direkt neben der Gartenpforte, die ich immer unverschlossen wusste. Durch die Autoscheiben blickte ich sehnsüchtig zum Haus hinüber. Vielleicht hoffte ich, einer der Bewohner habe vom Küchenfenster aus mein Auto wahrgenommen, werde die Haustür öffnen, um mich willkommen zu heißen.

      Nichts dergleichen geschah. Das große Haus lag unwirtlich und verlassen, beinahe bedrohlich vor mir. Unsicher, angesichts des ungastlichen Empfangs, stieg ich aus. Sogleich erfasste mich der Wind mit aller Macht. Er pfiff über den Bodden, gerade so, als wolle er mich rasch vertreiben. Ich fror und eilte mit schnellen Schritten zur Eingangstür von Tante Griseldis Wohnung. Zwar befand sich der Eingang zu Großmutters Wohnung an der Rückseite des Hauses, doch dort zu klingeln, wäre mir abwegig erschienen. Ich wusste, dass Großmutter sich tagtäglich erst nach dem Abendbrot in ihre separaten Räume zurückzog. Bis zu diesem Zeitpunkt wirtschaftete sie in Griseldis’ Wohnung, führte sie den Haushalt ihrer Tochter.

      Ich klingelte energisch. Einmal und noch ein Mal. Die kalte Luft machte mich ungeduldig. Meine dicke Jacke hatte ich leichtfertig im Auto liegenlassen. Nichts regte sich. Ich fror. Es zog mich mit aller Kraft ins Warme. Wo blieb Großmutter? Warum ließ sie mich nicht ein? Die Arme um mich schlingend, um den Körper gegen die Eisluft zu schützen, rannte ich zur Rückseite des Hauses und klopfte an Großmutters Tür. Mir schien, als vernähme ich von drinnen Laute, die ich allerdings nicht zu deuten verstand. Ich klopfte noch energischer als beim ersten Versuch; indes auch jetzt öffnete niemand. Verzweifelt und frierend drückte ich die Klinke herunter, die Tür sprang auf. Rasch schlüpfte ich in den kleinen fensterlosen Flur und lauschte angespannt. Wieder hörte ich etwas, diesmal lauter. Es klang wie ein Wimmern und in mir keimte Furcht auf.

      Vor einem Jahr war Großmutter mit dem Fahrrad gestürzt und hatte sich den Oberschenkelhals gebrochen. Nach der Operation erlernte sie in einer Rehabilitationskur das Laufen neu. Seither benutzte sie im Haus eine Gehhilfe. Musste sie längere Strecken bewältigen, bediente sie sich dazu eines leichten Rollstuhls, den sie mit ihrer eigenen Armkraft und ihrem eisernen Willen fortbewegte.

      Das Wimmern hinter der Tür schürte in mir die Sorge, Großmutter könne erneut gestürzt sein und sich etwas gebrochen haben. Einen Augenblick erwog ich, unbemerkt davon zu schleichen, zu tun, als wisse ich von nichts. Ich verbot mir diese Regung. Zaghaft klopfte ich an die Wohnzimmertür und trat schließlich, ohne die Aufforderung, einzutreten, abzuwarten, ein.

      Großmutter hockte in ihrem geliebten Ohrensessel. Sie krümmte sich zusammen und stöhnte laut auf, als plagten sie starke Schmerzen. Ihr Gesicht war vom Weinen aufgedunsen, ihre Augen gerötet. Meine Großmutter, die ich nur nüchtern-kühl und beinahe fühllos kannte, heulte herzzerreißend. Aus der Nase leuchteten gelbe Rotzblasen, aus ihrem Mund rannen Speichelfäden. Großmutter, die für mich bis dahin die Beherrschung in Person verkörperte, hatte sich völlig ihrem Schmerz ergeben, als wünsche sie, in diesem Schmerz aufzugehen. Sie schimpfte unflätig und ohnmächtig in einem, mit ungewohnt ordinären Kraftausdrücken in sich hinein. Meine Anwesenheit hatte sie, trotz mehrerer Versuche, ihre Aufmerksamkeit zu erheischen, noch immer nicht wahrgenommen.

      Noch konnte ich das Zimmer auf leisen Sohlen rückwärts verlassen, so tun, als sei ich nicht hier gewesen. Es war eine immense Versuchung, die ich verspürte, denn diese ganz und gar elende Großmutter ängstigte mich weitaus mehr als die gefühllose und beherrschte, die ich bislang kannte. Mit pochendem Herzen näherte ich mich zaghaft und unsicher der alten Frau. Mit weit ausgestrecktem Arm berührte ich sachte ihre Schulter.

      „Großmutter, was ist mit dir?“, erkundigte ich mich mitfühlend. Sie reagierte erst, als ich, ihre Schulter schüttelnd, die Berührung verstärkte und meine Frage laut schreiend wiederholte. Ungläubig starrte sie mich aus ihren roten Augen an. Sie hielt in ihrem Klagen inne, als habe ich einen Film angehalten und begann im nächsten Moment wie gehetzt auf mich einzureden. Ihre Worte spiegelten Aufregung, Empörung und Wut. Ich merkte es daran, dass sie in das ihr verhasste Plattdeutsch verfiel. Indes es lag nicht am Platt, dass ich kein Wort verstand. Um mich herum, in Krambzow, wurde von den Alten allenthalben Platt gesprochen. Meine Mutter pflegte und bewahrte das Platt als ein Kulturgut der Region. Sie leitete seit Jahren eine Arbeitsgemeinschaft an der Schule, in welcher sie Kindern die Alltagssprache ihrer Großeltern nahe brachte, um deren Aussterben zu verhindern. Ich verstand nicht nur Platt, ich sprach es auch recht gewandt. Dennoch konnte ich mir keinen Reim darauf machen, was Großmutter von mir wollte. Die Worte vermischten sich in meinen Ohren zu einem ununterscheidbaren Wortbrei. Mein Unverständnis erwuchs aus Großmutters hart prasselndem Redefluss. Beruhigend redete ich auf Großmutter ein, versuchte ich, ihren Redefluss zu bremsen, derweil sie gebetsmühlenartig ihren Redeschwall erneut über mich ergoss. Schließlich gab ich hilflos auf und verstummte. Jetzt erst hielt auch Großmutter inne, als habe sie endlich mein Unvermögen, ihr zu folgen, registriert. Sie schnappte hektisch nach Luft wie ein Fisch, der die Wasseroberfläche durchstoßen hat.

      „Kind“, fuhr sie mich herrisch an, „ick möt nach Zingst, ick möt! Bring mi sofort dor hin!“

      „Aber Großmutter“, versuchte abzuwiegeln, „was willst du denn da? Du kannst doch gar nicht so weit laufen.“

      „Ick möt! Begribst du denn gar nichts, du dummes Gör, ick möt!“

      Sie zerrte ungeduldig an meinem Pullover, sie brüllte mich an, so dass ich erschrocken zurückwich. Der Schreck muss sich förmlich auf meinem Gesicht abgezeichnet haben. Sie ließ den Pullover los. Urplötzlich verlegte sie sich vom aggressiven Fordern aufs eindringliche Betteln und Beschwören.

      „Kind, ich bitte dich, bring mich hin. Ich habe mein ganzes Leben ohne Klage alles getragen, was mir zugedacht war. Ich habe nichts verlangt, nur gewartet. Wenn es für mich noch irgendetwas von Belang gibt, dann ist das Friedhelms Beerdigung. Ich muss Abschied von ihm nehmen. Alles, alles was du verlangst, ich gebe es dir. Mein Sparbuch, das deiner Mutter nach meinem Tode zugedacht ist, du sollst es haben. Ich bitte dich, bitte dich voller Demut, bitte …“

      Ich spürte ganz deutlich, dass Großmutter die Worte nicht einfach so dahin sprach, um mich zu erweichen, sondern dass es ihr bitterernst damit war, dass sie das gegebene Versprechen einzulösen gedachte. Das Anliegen war ihr wichtig.

      Und ein Zweites begriff ich nach und nach, etwas, das in den vielen Worten verborgen lag, etwas, das sich mir erst ganz allmählich, tröpfchenartig offenbarte: Onkel Friedhelm war tot.

      Mama hatte mir bei unserem letzten Treffen berichtet, dass sie bei jedem Anruf ihrer Cousine Sabine mit dem Schlimmsten rechne, so sehr habe sich der Zustand des Onkels verschlechtert. Nun war er tot. Warum hatte Mama mir nichts davon gesagt? Wollte sie mich schonen? Innerlich empörte mich das: Was sollte diese Rücksichtnahme, um die ich nicht gebeten hatte?! Schließlich war ich kein Kind mehr!

      Ehe ich noch ernsthaft darüber nachzudenken vermochte, warum meine Mutter mir den Tod meines lieben Onkels verheimlichte, setzte Großmutters eindringliches Bitten wieder ein.

      Was sollte ich tun? Großmutter war eine alte Frau. Sie konnte nicht mehr gehen. Der eisige Wind würde ihr schaden, sie, eine dünne, auf unsicheren Beinen stehende Frau, mit seiner Macht womöglich umwerfen.

      „Du wirst dich in der eisigen Luft erkälten“, versuchte ich sie umzustimmen.

      „Na und! An irgendwas muss ich doch wohl sterben! Jetzt hat ohnehin nichts mehr Sinn. Bring mich hin, bitte. Ich biete dir das Kostbarste, das ich besitze. Ich biete dir mein Lebensgeheimnis. Ich werde es dir erzählen, nur dir und ohne Ausflüchte. Bitte, mein Kind, bring mich hin und du bekommst das Geheimnis. Ich schwöre es.“

      Mit feierlicher Geste hob sie die knochige rechte Hand zum Schwur.

      Großmutters Geheimnis, was mochte es bergen? Ich hatte den Köder bereits geschluckt. Meine Neugier machte mich der Bitte gegenüber gewogen. Ich brannte darauf, das Geheimnis dieser alten, unnahbaren Frau zu lüften und doch bremste mich etwas. Konnte ich die alte Frau diesem Wetter und solch einer Aufregung aussetzen? Was war, wenn sie mir in Zingst zusammenbrach?

      Eine Entscheidung zu fällen, überforderte mich. Wen konnte ich um Rat bitten?

      Noch ehe ich


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