Leben auf brüchigem Eis. Eveline Luutz
mich jedoch gescheut, Mama um eine Erklärung zu bitten.
Nach Monaten, in denen der Tante kaum eine Minute des Tages für sich selbst verblieb, in denen sie gehetzt von Pflichten, den Tag zu verlängern wünschte, musste ihr die Unmenge an Zeit, die ihr nunmehr gehörte, schwer anhängen. Trotzdem war nach der Beerdigung keine der beiden Töchter bei der Mutter geblieben. Das verwunderte mich.
„Ick hev de heimschickt, to ihre Familien. Ick hev doch wußt, dat ju kummt“, lautete ihre einfache und pragmatische Erklärung.
Später begriff ich, dass die Tante Hanna und Sabine nicht allein deshalb nach Hause geschickt hatte, weil sie über Wochen tagtäglich gekommen waren, um die Mutter in der Pflege ihres todkranken Vaters zu unterstützen. Sie muss sich schon länger mit dem Gedanken getragen haben, irgendwem ihre und Friedhelms Geschichte zu erzählen. Ihre Wahl war auf die Nichte gefallen.
Warum sie Mama für diese Beichte auswählte, darüber kann ich nur spekulieren. Zum einen glaube ich, sah sie in ihr zeitlebens nicht nur Arabella, ihre Nichte, sondern auch das geliebte Kind ihres Bruders. Alle, die meinen Großvater kannten, beteuerten zuweilen, Arabella sei ihm sehr ähnlich. Nicht nur der hohe Wuchs war ihnen gemeinsam, sondern auch die Lebensanschauungen von Vater und Tochter waren wesensverwandt. Sowohl zu ihrem Bruder wie auch zu dessen jüngster Tochter besaß Annelies ein enges und inniges Verhältnis. Zum anderen befürchtete die Tante vielleicht, ihre Töchter könnten, wenn sie alles wüssten, was die Mutter so lange in sich verschlossen hatte, mit Verachtung auf die eigene Mutter schauen: Sie standen der Tante zu nahe. Um all die Dinge ungeniert aussprechen zu können, die der Tante auf der Seele brannten, bedurfte es eines gewissen Abstands. Außerdem wusste die Tante ihre Worte bei Mama wohl verwahrt. Arabella würde das Gehörte nicht breit treten, sie verstand, ein Geheimnis zu hüten. Wenn es dazu noch so etwas wie einen letzten Grund gab, Arabella zu wählen, dann den, dass ihr, genau wie Max, nichts Menschliches fremd war. Sie verurteilte niemanden vorschnell, sondern bezeigte Verständnis und Nachsicht gegenüber allen menschlichen Schwächen. Arabella, dessen muss sich Tante Annelies gewiss gewesen sein, würde sie auch nach ihrer Beichte gern haben, sie würde ihr, einer alten Frau, ihre Zuneigung nicht entziehen.
Zunächst aßen wir Abendbrot, ein Abendbrot, das nicht recht schmecken wollte angesichts von Friedhelms verwaisten Platz am Küchentisch. Nach dem Essen öffnete Mama eine Flasche schweren roten Weins und wir tranken den ersten Schluck im Gedenken an den Onkel. Mama nippte nur an ihrem Glas, dann begann sie unvermittelt davon zu sprechen, was Friedhelm ihr bedeutet hatte.
Bereits als kleines Kind litt meine Mutter darunter, dass ihre Mutter, meine Großmutter, sie unmissverständlich ablehnte. So sehr sie sich mühte, den Wünschen ihrer Mutter zu genügen, nichts konnte sie ihr recht machen; Großmutter blieb dem Kind Arabella gegenüber kühl reserviert, während sie Grisi – sofern sie das überhaupt vermochte – verhätschelte. Opa Max, Mamas Vater, mühte sich, die Abweisung seiner Frau zu kompensieren. Er versuchte, seinen Lebenshunger auf seine Töchter zu übertragen, er verschenkte seine überquellende Freude und Zärtlichkeit an beide. Arabella nahm diese Gabe voller Zutrauen an, während Grisi ihrem Vater stets nur halbherzig zugetan war. Mit einem Auge schielte sie immer zur Mutter hin, allzeit darauf bedacht, sich zuerst deren Billigung zu sichern. Verzog Großmutter das Gesicht angewidert, wenn Max wieder einmal übermütig mit seinen Töchtern tollte, dann entwand sich Grisi Großvaters Armen und heftete sich augenblicklich an Großmutters Rock. Arabella indes fand bei ihrem Vater die Zuwendung, nach der sie gierte und genoss sie in vollen Zügen. Das Buhlen um die Gunst ihrer Mutter, um ein paar Streicheleinheiten, hatte sie irgendwann aufgegeben. Sie entwickelte ein gesundes Selbstbewusstsein, das aus der vorbehaltlosen Liebe ihres Vaters gespeist wurde. Solange ihr Vater lebte, besaß meine Mutter in ihm einen starken und verlässlichen Rückhalt in der Familie, aus dem sie Kraft und Sicherheit bezog. Opa Max liebte Arabella so wie sie war: wild, risikofreudig, zutraulich, lebensfroh und voller Energie. Arabella, das war sein Kind. In ihr fand er das gleiche Naturell wieder, das auch ihm eigen war. Er und die Kleine besaßen verwandte Seelen. Das sichere Hinterland meiner Mutter brach weg, als Opa Max ganz plötzlich an einem Schlaganfall starb. Die Anzeichen für seine Krankheit hatte er über Jahre hinweg beharrlich ignoriert. Er konnte nicht anders denn aus dem Vollen leben. Ein halbes Leben gab es für ihn nicht.
„Leben ist immer lebensgefährlich!“, so lautete einer seiner Lieblingssprüche.
Auf etwas zu verzichten, was das Leben in seinen Augen lebenswert machte, bloß um ein wenig Zeit herauszuschinden, das wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Das Leben war allzeit jedes Risiko wert.
Er starb mit einundsechzig Jahren. Mit seinem Tod brach für meine Mutter der Halt in der Familie weg, sie stand von einem Tag auf den anderen allein da. Nicht ein Mal kam Großmutter nach Max’ Tod nach Krambzow, gerade so, als sei mit ihrem Mann auch endlich die ungeliebte Tochter gestorben. Meine Großmutter hatte das Leben dieser Tochter nie gutgeheißen, im Beruflichen ebenso wenig wie im Privaten. Vielleicht hätte sich meine Großmutter eines Tages mit ihrer jüngeren Tochter arrangiert, hätte Arabella sich Großmutters gebietendem Wunsch gefügt, Medizin zu studieren und Gertruds Nachfolge als Ärztin in Geestade anzutreten. Jedoch was kümmerten Arabella die Wünsche ihrer Mutter. Es war ihr Leben und sie dachte nicht daran, sich dieses aus der Hand nehmen zu lassen.
Vor allem die Liebe zwischen meiner Mutter und meinem Vater, Fernando Gomez, billigte Großmutter niemals. Nur ein einziges Mal brachte Mama ihn mit nach Hause. Damals lebte ihr Vater noch. Opa Max war dem Paar wohl gesonnen, aber Großmutter artikulierte ihre kalte Abweisung offen. So blieb es bei diesem einen Besuch, obwohl meine Mutter und mein Vater elf Jahre lang miteinander lebten – allerdings ohne Trauschein. Mein Vater war bereits verheiratet und er hatte eine Tochter, als er ins Land kam. Er war vor der Pinochet-Diktaturaus Chile geflohen. Frau und Tochter musste er im Ungewissen über ihr Schicksal zurücklassen. Großmutter indes interessierte sich nicht für die außergewöhnlichen Lebensumstände von Fernando Gomez. Sie lehnte ihn ab und wünschte gar nicht erst, ihn näher kennen zu lernen. Opa Max indes mochte Fernando, obwohl er wusste, dass dieser Mann seiner Tochter irgendwann einen bitteren Schmerz zufügen würde. Fernando Gomez machte nämlich zu keinem Zeitpunkt einen Hehl daraus, dass er, sobald als möglich, nach Chile, in seine Heimat, zurückkehren wolle. Das wusste auch Arabella. Trotzdem war es ausgerechnet dieser Mann, an den sie ihr Herz gehängt hatte. Irgendwann – dieser Zeitpunkt war weit weg – würde Fernando fortgehen. Was kümmerte sie jetzt schon das Irgendwann?
Irgendwann, der hartnäckig verdrängte Zeitpunkt, trat ein, kurz nachdem Opa Max gestorben war. Fernando beschwor Arabella eindringlich, mit ihm zu gehen. Er würde die Scheidung einreichen und mit ihr, der Frau, deren Leben er seit elf Jahren teilte, alt werden wollen, ihre gemeinsame Tochter aufwachsen sehen. In den elf Jahren, die er fernab seiner Heimat gelebt hatte, war Carmen, seine Ehefrau, für ihn eine Fremde geworden und er ihr ein Fremder. Arabella lehnte den Vorschlag ab, nicht aus Mitleid mit der unbekannten Frau Gomez, nicht, weil sie Fernandos Versprechen misstraute, sondern weil sie wusste, dass das Heimweh ihre Liebe aufzehren würde. Ein gutes halbes Jahr vor Fernandos Rückreise gebar Arabella eine Tochter, Eva. Mich!
Das Haus in Krambzow war saniert, Mama besaß eine gute Arbeit und mich, ihre Tochter. Aber sie stand ganz allein da.
Nach Max’ Tod hatten sich Annelies und Friedhelm verpflichtet gefühlt, seiner jüngsten Tochter beizustehen, ihr die Unterstützung zu gewähren, welche die eigene Mutter Arabella beharrlich versagte. Onkel Friedhelm war ohne große Worte als eine Art Ersatzvater für Mama eingesprungen. Für mich verkörperte er, solange ich denken kann, eine Mischung aus einem guten Onkel und einem liebevollen Opa.
„Ohne meinen lieben Friedi“, so resümierte Mama traurig, „ich weiß nicht, ob ich das ausgehalten hätte. Er war für mich wie ein zweiter Vater. Das weiß Grisi genau. Ich habe es ihr oft genug gesagt. Es ist einfach eine Unverschämtheit von ihr, mir nicht mal Friedhelms Tod mitzuteilen, zumal sie es Sabine versprochen hatte.“
Tante Annelies zog Mamas Kopf zu sich heran und knuddelte sie liebevoll.
„Lass gut sein, du hast dir nichts vorzuwerfen. Du hast Friedi, solange er lebte, Gutes getan und Gutes gewollt. Du bist so anders als deine Schwester. Immer erinnerst du mich an meinen Bruder, so voller Kraft und so fröhlich.