Leben auf brüchigem Eis. Eveline Luutz
selbst, denn zu irgendwem sonst gewandt: „Jetzt bin ich ganz allein.“
Wir aßen in Zingst im Fischrestaurant zu Mittag. Während der ganzen Mahlzeit zeigte sich Großmutter einsilbig. Über den gestrigen Tag und seine aufregenden Ereignisse verlor sie kein Wort, als habe sie das alles gänzlich aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Sie wirkte wieder souverän und überaus beherrscht. Nur ihr Schweigen verriet die Anstrengung, welche es sie kostete, diesen Schein zu wahren. Seit gestern schien mir meine Großmutter sichtlich gealtert. Ihre Gesichtszüge waren von den Spuren tiefer Trauer zerfurcht.
Das Essen schmeckte ausgezeichnet. Selbst Großmutter, eine begnadete Köchin, kam nicht umhin, Suppe und Hauptgang zu loben. Trotz des guten Essens und des stilvollen Ambientes blieb die Atmosphäre zwischen uns angespannt. Innerlich bedauerte ich, nicht mit Mama oder mit Tante Annelies hier zu sitzen. Beide, Mama und die Tante, würden trotz ihres Schmerzes niemals so verbissen in ihrer Trauer verharren, diese so zelebrieren wie Großmutter es tat. Meine Mutter und meine Tante vermochten lebendig von Onkel Friedhelm zu erzählen. In ihren Episoden und Erinnerungsfetzen lebte er weiter. Gern hätte ich Tante Annelies’ gestrige Beichte hinterfragt, allein das verbot sich durch Großmutters Anwesenheit. Ich war nur Zaungast gewesen und hatte sehr wohl begriffen, dass die Tante zu meiner Mutter sprach, dass sie ihr etwas anvertraute, wovon wahrscheinlich nicht einmal ihre Töchter wussten. Sie wollte reden und dennoch das Erzählte vertrauensvoll aufgehoben wissen. Es verstand sich von selbst, dass auch ich, der Zaungast, das Gehörte nicht breit trat. Meine Fragen würde ich mir bis zu einem späteren Zeitpunkt aufheben müssen.
Während Großmutter verbittert schwieg, unterhielten Mama und ich uns über mein Studium, über Mamas Arbeit, gemeinsame Bekannte aus Krambzow und Onkel Friedhelm. Großmutter unternahm nicht einen einzigen Versuch, sich in das Gespräch einzubringen oder ihm eine andere Wendung zu geben. Erst als Mama die Rechnung verlangte, kam Bewegung in Großmutter. Sie schob meiner Mutter ihre Börse hin und forderte sie gebieterisch auf, die Rechnung von ihrem Geld zu begleichen.
„Nein, Mutter“, wies Mama die Börse zurück, „ich habe dich eingeladen, also bezahle ich die Rechnung. Lade morgen deine andere Tochter zum Essen ein, dann darfst du bezahlen.“
„Meine andere Tochter halte ich schon ihr ganzes Leben lang aus. Ohne mein Geld wäre dort längst alles zusammengebrochen, das kannst du mir getrost glauben. Die sind wie die Kinder, die jeden Flitter haben müssen. Das Geld rinnt ihnen wie Wasser durch die Finger. Ich wollte dir auch einmal etwas Gutes tun.“
„Schau Mutter, du hast die Achtzig überschritten. Solltest du immer noch glauben, dass das Gute, das ich von dir begehrte, jemals etwas mit Geld zu tun hatte? Mit Geld kann man sich nicht freikaufen, das weißt du doch selbst.“
Großmutter senkte beschämt den Blick und zog sich ins Dickicht ihres Schweigen zurück.
Ich schob Großmutters Rollstuhl durch Zingsts holprige Straßen zum Friedhof hin. Trotz des dicken Mantels und der Decke, welche ich über ihre Beine breitete, fror Großmutter in dem eisigen Wind, der sich uns entgegenstemmte.
Wir verweilten nur einen kurzen Moment. Mama schlug Großmutter vor, Annelies einen Besuch abzustatten, dort könne Großmutter sich aufwärmen und mit ihrer Schwägerin über Friedhelm reden.
„Ich will sie nicht sehen. Ich kann diese fette Kuh nicht mehr ertragen!“, erwiderte Großmutter in einem ungewöhnlich heftigen Gefühlsausbruch. Ihre Stimme hallte schneidend scharf. Mich befremdete sowohl die Schärfe der Ablehnung als auch die Wortwahl. Ganz deutlich spürte ich einen unterschwelligen Hass, den ich mir nicht zu erklären vermochte. Zwischen Großmutter und der Tante herrschte seit Jahr und Tag insgeheim eine Konkurrenz darum, wer zu den Familienfeiern den wohlschmeckenderen Kuchen, das ausgefallenere Abendbrot kredenzte. Diese Konkurrenz betrachtete ich bislang eher als einen sportlichen Wettbewerb. Auch Großmutters nicht eben freundliche Spitzen gegen Annelies’ Köperfülle war ich von früher her gewohnt. Sie kamen mir stets ein wenig albern vor. Die heutige Ablehnung jedoch besaß eine andere Dimension – das bemerkte ich und das bemerkte Mama.
„Was ist los, Mutter?“, versuchte Mama die Gründe für den spontanen Hassausbruch zu erkunden.
„Was ist los?“, äffte Großmutter Mama nach. „Ich hasse diese fette Kuh! Sie hat mir Friedhelm genommen! Ich will sofort nach Hause!“
„Bist du nicht ungerecht, Mutter? Hast du überhaupt einen stichhaltigen Grund, sie derart zu hassen?“
Großmutter ging nicht auf Mamas Einwand ein. Sie grollte schweigend. Lediglich: „Ich will heim!“, forderte sie unwirsch noch einmal.
Wir fuhren sie nach Hause, geleiteten sie in ihre Wohnung und verabschiedeten uns verwundert und erlöst in einem.
Plötzlich fiel mir Großmutters Versprechen vom Vortag ein. Sie sollte nicht meinen, ich habe es vergessen, es bedeute mir nichts.
„Großmutter, du schuldest mir dein Geheimnis“, machte ich meine berechtigten Ansprüche geltend.
„Ich weiß. Noch bin ich nicht tüdelig im Kopf. Ein Jahr hast du Zeit. Doch gut, komm es dir gleich morgen abholen.“
Mit dieser Antwort schob sie mich hinaus und verriegelte hinter mir die Tür.
3
Ich beschloss, mir Großmutters Lebensgeheimnis abzuholen, es wegzutragen, ehe Großmutter es sich anders überlegte. Wie töricht ich doch war.
Das Geheimnis, das sich mir offenbaren sollte, das begriff ich bald, war nicht mit wenigen Worten umrissen. Es bedurfte einer Portion Zeit und Geduld, es zu entschlüsseln. Großmutter führte mich in viele verborgene Winkel und in Sackgassen ihres Lebens. Anfangs meinte ich, mich in dem Gewirr der Lebensepisoden zu verirren, doch allmählich schälte sich eine Struktur heraus, trat das Geheimnis Stück für Stück zutage. Irgendwann, nur wenige Wochen bevor Großmutter starb, sah ich es klar und deutlich vor mir liegen.
Am jenem Ostersonntag bekam ich lediglich das erste Mosaiksteinchen einer Geschichte zu Gehör, die nahezu Großmutters ganzes Leben umspannte. Sie nahm ihren Anfang mit Ewald Klötzes Hochzeit, einer Hochzeit, auf der sie, so beteuerte Großmutter hartnäckig, eigentlich nichts zu suchen hatte. Weder mit der Braut, noch mit dem Bräutigam war sie verwandt oder befreundet. Sie kannte die Familie aus dem Krieg. Auf dem Hof von Familie Klötze, nahe ihrer Heimatstadt, absolvierte meine Großmutter ihr Pflichtjahr. Eigentlich sollte sie Arbeiten im Stall und auf den Feldern verrichten, um die ins Heer eingezogenen Knechte mehr schlecht als recht zu ersetzen. Hulda Klötze indes, die Bäuerin, ließ das nicht zu. Aus einer tiefen und demütigen Dankbarkeit heraus holte sie das schmächtige Mädchen zu sich ins Haus, lehrte sie Gertrud das Wirtschaften von der Pike auf. Doktor Alfred Behringer, Großmutters Vater, Chirurg am Hospital der nahen Stadt, davon war Hulda Klötze fest überzeugt, hatte vor Jahren ihrem Mann das Leben gerettet.
Bei einem Unfall auf dem Acker war der Bauer vom Mähbinder, den er reparieren wollte, übel zerschnitten worden, weil die vorgespannten Pferde plötzlich anzogen. Wochen verbrachte er im Krankenhaus. Doktor Behringer hatte am Körper des Bauern kunstvoll Nähte über Nähte gezogen, den Bauern regelrecht wieder zusammengeflickt. Dafür liebte und verehrte Hulda Klötze Doktor Behringer solange sie lebte.
Ein Zufall hatte es eingerichtet, dass ausgerechnet Gertrud, die Tochter von Doktor Behringer, im Pflichtjahr den Klötzes zugeteilt worden war. Hulda Klötze indes glaubte nicht an Zufälle, sondern betrachtete Gertruds Erscheinen als eine Fügung des Schicksals, als Aufforderung, den Dank für eine große Wohltat zu entrichten.
Doktor Behringers Tochter, das schwor sie sich, sollte es gut bei ihr haben. Alles, was die begabte Hausfrau und Köchin wusste und konnte, wollte sie dem Mädchen aus Dankbarkeit mit auf den Weg geben. Auf dem Klötzeschen Hof lernte Großmutter neben der Hauswirtschaft Hühner, Gänse, Fische und Kaninchen schlachten, ausnehmen, rupfen und enthäuten, Obst und Gemüse anzubauen, ja sogar Leinen zu weben. Wenn meine Großmutter jemals so etwas wie ein Hobby besaß, dann bestand das in all dem, was sie bei Hulda Klötze erlernt hatte. Sie kochte zeitlebens sehr gern altdeutsche Gerichte, die mir stets sehr gut schmeckten. Es gab kein Sonntagsessen, das nicht