Leben auf brüchigem Eis. Eveline Luutz
eine schaumige Cremespeise aus dem Saft schwarzer Johannisbeeren, an Weinschaumcremes und „Äpfel im Schlafrock“, allesamt Nachspeisen, bei denen allein der Name meine Geschmacksnerven wach kitzelte. Im Kochen und Backen ging meine Großmutter förmlich auf.
Jedenfalls bat man meine Großmutter, damals noch eine junge Frau, als Ewald Klötze, der älteste Sohn, heiratete, zur Hochzeitsfeier; es fehlte eine Tischdame für Ewalds besten Freund von der Gewerbeschule für Forst- und Holzwirtschaft. Großmutter zierte sich nicht lange. Gerne kam sie der Bitte nach. Eine Hochzeit, zumal bei einem wohlhabenden Bauern, versprach Leckerbissen, die in jenen Jahren nicht gerade alltäglich auf den Tisch kamen. Zu dem guten Essen gäbe es Geselligkeit und Zerstreuung und vielleicht sogar würde Musik aufspielen und es konnte getanzt werden.
Das Tanzen stellte Großmutters zweite, heimliche Leidenschaft dar, der sie zeitlebens nur auf Familienfeiern frönte. Selbst als junges Mädchen ging sie selten aus. Sie mied öffentliche Feste, tat sich schwer im Umgang mit ihren Mitmenschen und besaß zeitlebens keine einzige enge Freundin, der sie sich hätte anschließen können. So blieb denn das Tanzen eine stille Leidenschaft, der sie zuweilen verschämt im elterlichen Wohnzimmer nach Musik vom Grammophon gemeinsam mit ihrer Schwester Liane nachging. Ihre Mutter, eine früh verbitterte Frau, durfte von diesem Vergnügen nichts mitbekommen. Sie hätte sich kategorisch dagegen verwahrt, dass in ihrem Hause getanzt und gelacht wurde.
Auch das Tanzen hatte Gertrud bei Familie Klötze erlernt. Hulda Klötzes Schwester, Elfriede, lebte, seit ihre Wohnung in Berlin bei einem Bombenangriff zerstört worden war, mit ihrem Sohn Adolph, auf dem Hof. Elfriede war eine echte Großstadtpflanze und kein Kind von Traurigkeit. Abends, wenn alle Arbeit ruhte, zog sie das Grammophon auf und tanzte bald mit ihrer Schwester, bald mit ihrem Schwager oder Gertrud gut gelaunt durch das Wohnzimmer. Sie kannte alle Schlager, sie sang vergnügt mit und beglückte alle mit ihrer guten Laune. Elfriede war es, die Gertrud das Tanzen lehrte, die ihr die Schrittfolgen geduldig zeigte und sich schwungvoll im Walzertakt mit ihr drehte, wann immer sich Gelegenheit dazu bot. Gertrud hatte bis dahin nicht geahnt, dass ihr das Tanzen ein solches Vergnügen bereiten könnte.
Als das Pflichtjahr endete, bedauerte Gertrud das zuerst um des Tanzens willen. Sie hatte Liane unter dem Siegel der Verschwiegenheit davon erzählt und eines Tages, als die Mutter beim Frisör saß, das Grammophon in Gang gesetzt, um Liane erste Schritte beizubringen. Immer, wenn die Schwestern sich allein zu Hause wussten, setzten sie die Tanzstunden heimlich fort.
Gewiss hätte Gertruds Vater nichts dagegen einzuwenden gehabt, dass seine Töchter im Wohnzimmer tanzten. Alfred Behringer war ein Lebemann, den schönen Dingen des Lebens allzeit zugetan. Er hätte, wäre er jemals zu solch einer Tanzstunde hinzugekommen, eine der Frauen umfasst und wäre mit ihr im Takt der Musik selig über das Parkett geflogen. Er hätte gelacht und einen guten Wein oder gar Champagner spendiert. Viel zu selten wurde seiner Meinung nach bei Behringers gescherzt und gelacht, seit vor vielen Jahren Großmutters Bruder Hans bei einem Badeunfall ertrunken war. Hilde Behringer, Großmutters Mutter, gab die Schuld für diesen Unfall allein ihrem Mann, der dem Jungen stets erlaubt hatte, mit seinen Schulfreunden baden zu gehen. Hans war vierzehn Jahre alt gewesen, als das Unglück geschah. Seither trug Hilde Behringer die Trauer wie ein Banner vor sich her. Sie ging zu keinem Vergnügen mehr, sei es eine Theateraufführung, ein Ball oder ein Festessen. Sie beabsichtigte ihren Mann durch ihre Verweigerung lebenslang zu strafen. Alfred Behringer liebte rauschende Feste und ausschweifende Vergnügungen. Eine Zeit lang entsagte er ihnen, blieb er mit seiner Frau und ihren anklagenden Blicken zu Hause. Er trauerte anders als sie um seinen Sohn. Er vermisste ihn jeden Tag, denn Vater und Sohn hatten einander sehr nahe gestanden. Alfred Behringer indes zelebrierte seine Trauer vor niemanden und er glaubte nicht, dass eine Entsagung von den Lebensgenüssen im Sinne von Hans gewesen wäre. Hans war ein fröhliches, lebenshungriges Kind gewesen. Irgendwann siegte die Lust auf Leben über die von seiner Frau verordnete Traurigkeit. Da Hilde sich weigerte, ihn zu begleiten, da sie sich in der Rolle der Anklägerin eingerichtet hatte, ging er fortan alleine aus. Anfangs trug er seiner Frau noch an, ihn zu begleiten, bald jedoch unterließ er selbst die Frage. Hilde verbrachte all ihre Tage in den Räumen der Villa. Sie versank in den Romanen Hedwig Courths-Mahlers. Hin und wieder sprang das Glück der Romanzen auf Hilde Behringer über, dann sehnte sie sich danach, im Walzertakt durch einen Festsaal zu schweben, doch selbst diese sentimentalen Regungen verbot sie sich.
Dadurch, dass das Tanzvergnügen vor Vater und Mutter strikt verborgen wurde, besaß es in den Augen meiner Großmutter stets den Nimbus des Anrüchigen und Verbotenen. Nichtsdestotrotz tanzte sie leidenschaftlich gern, was sie sich leider selbst nie wirklich einzugestehen wagte. Sie dürstete förmlich nach Gelegenheiten, ohne Aufsehen zu erregen, tanzen zu dürfen. Die Hochzeit kam ihr dabei zupass.
Ihr Tischherr auf der Hochzeitsfeier, Max Ludewig, ein junger Mann mit sehr guten Umgangsformen, dessen Kopfhaar sich ungeachtet seiner noch jungen Jahre bereits zu lichten begann, gefiel Großmutter. Er trug einen graumelierten Anzug aus ungewöhnlich gutem Stoff, der seinen hohen Wuchs nachhaltig unterstrich. Dem Gesicht verliehen besonders die sehr klaren, freundlichen blauen Augen sowie die sehr schlank und edel wirkende Nase einen Hauch von Eleganz. Er verstand charmant zu plaudern, Großmutter zu erheitern. Zudem erwies er sich als recht passabler Tänzer. Gerade diese Fähigkeit schätzte sie auf jenem Hochzeitsfest am meisten an ihrem Tischherrn. Beinahe jeden Tanz tanzte sie mit ihm. Er zog sie eng an sich heran, für ihren Geschmack ein wenig zu eng. Er sang vergnügt und heiter die Schlagertexte mit. Er bewegte sich leichtfüßig im Rhythmus der Musik. Die Zeit verrann wie im Fluge.
An diesem Tage, davon war Großmutter lange überzeugt, meinte sie einen Glückshauch verspürt zu haben. An diesem Tage besaß sie alles, was sie sich wünschte. Sie empfand eine ungewohnte Seligkeit, fühlte sich trunken vor lauter heiterer Freude. Wahrscheinlich sprang sie an diesem Tage ein Mal über ihren eigenen Schatten: Sie ging aus sich heraus, während sie sich sonst ihr Leben lang in sich zurückzog. Sie kannte sich selbst nicht wieder.
Sonst schweigsam, kontaktscheu und beinahe asketisch, wie ihre Mutter, lebte sie auf. Sie lachte ungezwungen und klönte mit dem ihr fremden Mann. Max Ludewigs Fröhlichkeit und die Leichtigkeit, mit der er das Leben betrachtete, waren unversehens auf Gertrud übergesprungen. Sie schaffte es, die Sinnesfreuden dieses Tages – Essen, Trinken und Geselligkeit – ohne Wenn und Aber zu genießen. Mehr noch, sie verliebte sich in den Mann, der all jene Eigenschaften besaß, die ihr fehlten, der sie aus ihrer traurigen Lethargie riss. Sie bewunderte seine Leichtlebigkeit, dieselbe Leichtlebigkeit, die sie später ihrem Mann als das fürchterlichste aller Laster ankreidete.
An diesem Tag jedoch fühlte sich Großmutter von seiner Aufmerksamkeit geschmeichelt und suchte ihm zu gefallen. Unerfahren im Umgang mit Männern, sie hatte bislang nicht die kleinste Liebelei gehabt, erlag sie seinen Komplimenten. Erstmals in ihrem Leben hielt sie sich als Frau für schön und begehrenswert. Beschwipst von der Bowle, ließ sie sich von ihm küssen, dass ihr der Atem zu versagen drohte. Max Ludewig, das hätte sie an diesem Tage geschworen, war der Mann all ihrer Träume.
Dennoch beantwortete sie Max’ Frage nach einem Wiedersehen sehr vage. Genau genommen schien ein Wiedersehen unwahrscheinlich. Gertrud Behringer, die älteste Tochter des hiesigen Doktors, studierte, auf Wunsch ihres Vaters, in Rostock Medizin. Doktor Behringer wollte sie gern in seinen Fußstapfen stehen sehen, die Familientradition fortgesetzt wissen. Sie hatte sich dem väterlichen Wunsch widerspruchslos gefügt und gar nicht versucht, eigene Interessen zu artikulieren. Wäre ihr Bruder nicht beim Baden ertrunken, dann wäre ihr das Studium erspart geblieben und sie hätte, wie es ihren eigentlichen Plänen entsprach, in einem Büro als Sekretärin arbeiten können, bis sich ein Mann zum Heiraten gefunden haben würde. Es hatte jedoch nicht sein sollen.
Gertrud wohnte also gar nicht mehr in Goldberg. Ihre und Max Ludewigs Wege, die sich eben erst berührt hatten, drifteten bereits wieder auseinander. Wo sollten sie sich denn wiederbegegnen? Alles würde einmalig bleiben. Diese Aussicht verlieh dem Abend und dem jungen Mann alsbald eine märchenhafte Aura. Gertruds Träume von dem jungen Mann, den ein Zufall ihr für einen Tag beschert hatte, würden bald verblassen. Irgendwann würde sie einen anderen kennen lernen, der vielleicht zum Ehemann taugte.
Großmutters allzeit nüchterner Realismus gewann rasch die Oberhand: Max Ludewig,