Leben auf brüchigem Eis. Eveline Luutz
Hochzeit hatte ihr einen unerwartet schönen Tag beschert, an welchem so etwas wie ein Wunder geschah. Ein schöner Mann hatte sie umworben. Das erlebt zu haben, tat ihr wohl, sie würde es nie vergessen. Allein, um eine Fortsetzung des Wunders zu kämpfen, lag nicht in Gertruds Naturell, dazu war sie zu wenig emanzipiert und zu wenig eine Frau der Tat. Freilich, wenn sich von selbst eine Fortsetzung ergäbe, dann wäre sie nicht abgeneigt. Doch an welchem Ort sollte das geschehen? Es war besser, sich Max Ludewig gleich aus dem Kopf zu schlagen.
Eines Tages, Gertrud befand sich mit einer Kommilitonin in Rostock auf dem Weg zur Vorlesung, da begegnete ihr Max Ludewig. Er sah blass aus, um die rechte Hand trug er einen schneeweißen Verband. Er schlenderte in Gedanken versunken über die Straße. Hätte Gertrud ihn nicht angesprochen, er wäre achtlos vorübergegangen und ihrer beider Leben hätte einen anderen Verlauf genommen.
Warum sie Max anredete, das vermochte sie nie genau zu sagen. Vermutlich wollte sie Rita imponieren, vor ihr nicht länger als Mauerblümchen dastehen. Rita war eine sehr attraktive Brünette, die über mangelndes Interesse von Seiten ihrer männlichen Kommilitonen nicht klagen konnte. Sie wurde umschwärmt. Gertrud wollte dieser allseits bewunderten Frau beweisen, dass auch sie durchaus Chancen bei attraktiven Männern besaß.
Max’ Gesicht hellte sich sofort auf, als Gertrud ihn ansprach. Aus seinen Augen blitzte ein Lachen. Er lud die beiden Frauen sogleich auf einen Kaffee und Kuchen in eine nahe Konditorei ein. Er unterhielt sie gutgelaunt, nichts erinnerte mehr an den nachdenklichen Mann von vorhin. Auf Ritas Nachfrage erklärte er die Funktion des Verbandes: er habe sich am Vortag mit der Kreissäge den Ringfinger abgesägt.
„Ein Arbeitsunfall“, fasste er lapidar zusammen. „An einer elektrischen Säge darf man nicht träumen.“
„Wie interessant, ein Mann, der träumt“, buhlte Rita um Max’ Aufmerksamkeit und weckte Großmutters Ehrgeiz, Rita diesen Mann keinesfalls zu überlassen.
Erstmals in ihrem Leben verspürte Gertrud einen Anflug von Eifersucht. Sie drängte darauf, die Vorlesung nicht zu versäumen, erhob diese zu ungeheurer Wichtigkeit. Alles in ihr riet ihr, Rita sofort von Max zu entfernen, wollte sie ihre eigenen Chance auf jenen Mann, der in ihrer Fantasie bereits zu einem Prinzen verklärt war, nicht verspielen.
Instinktiv hatte Gertrud Max’ Hingezogensein zu der lebenshungrigen Rita bemerkt. Sie verstand Max’ Interesse durchaus. Rita war eine schöne Frau, mit einem sehr weiblichen Körper und einem fröhlichen Naturell. Sie nahm das Leben nicht allzu schwer und passte insofern gut zu Max Ludewig. Dennoch glaubte Großmutter, ein Vorrecht auf Max zu besitzen, denn schließlich hatte sie ihn gefunden.
Sie bat Rita, schon mal vorzugehen und verabredete sich beim Abschied für den Sonnabend mit Max zum Tanz. Sie versprach, ihre Freundin mitzubringen. In Wirklichkeit dachte Gertrud allerdings keinen Moment daran, ihr Versprechen zu halten. Aufmerksam hatte sie registriert, dass Max an Rita Gefallen gefunden hatte und mit dem Versprechen lediglich einen Köder ausgeworfen, den Max gutgläubig schluckte.
Am Sonnabend, beim Tanz, verleugnete sie die Freundin schamlos. Sie erzählte, Ritas Verlobter sei auf Besuch gekommen, denn Rita erwarte ein Kind und müsse möglichst rasch heiraten. Was sie zu dieser Lüge trieb, das wusste sie nicht, denn ehrlich gesagt, glaubte Gertrud nicht ernsthaft, Max auf Dauer an sich fesseln zu können. Dennoch trafen sie sich fortan öfter zum Tanzen und tasteten sich in den Gesprächen langsam ab. Gertrud freilich hatte nicht viel zu erzählen. Sie studierte Medizin. Sie war dem Elternhaus entkommen, in welchem die Mutter nach mehr als fünfzehn Jahren noch immer verbissen um den toten Bruder barmte und allen Frohsinn verdammte. Irgendwann, die Frist war absehbar, würde Gertrud das Studium beenden. Das Einzige was sie sicher wusste, war: Zurück nach Goldberg wollte sie auf keinen Fall.
Max arbeitete in einer Möbelfirma in Rostock. Er wohnte mit anderen Männern zusammen in einem Arbeiterwohnheim, in welchem er sich nicht wohl fühlte. Max Ludewig liebte den Luxus und ein gutes Leben. Das Wohnheim war ihm zu spartanisch, das Eingepferchtsein und die Provisorien behagten ihm nicht und doch gedachte er noch ein paar Jahre zu bleiben, billig zu hausen und gutes Geld zu verdienen. Mit dem Geld plante er, sich irgendwo am Wasser ein modernes und geräumiges Haus zu bauen. Er entwarf vor Gertrud ein Bild dieses Hauses, ließ sie in Gedanken mit ihm durch die Zimmer wandeln und durch die großen, blanken Fenster hinaus auf die weite Wasserfläche schauen. Er ahnte nicht, dass sich Gertrud in seinen Träumen verfing, dass sie sich wie Netze um Gertrud schlangen: Ein großes Haus bewohnen, morgens schon das Wasser zu sehen – das erschien ihr beinahe noch anziehender als der überaus attraktive Mann, der vom Hausbau träumte. Sie wollte das Haus und den Mann, der ihr genau dieses Haus bauen würde!
Es war das erste Mal, dass Gertrud Behringer etwas unbedingt wollte. Sie entwickelte fortan einen ungeahnten Ehrgeiz, Max zu treffen, sich ihm anzuempfehlen und sich ihm unentbehrlich zu machen. Wie sie es auch bedachte, das sicherste Mittel einen Mann an sich zu binden war ein Kind. Sie musste unbedingt schwanger werden, dann würde Max Ludewig sie heiraten, ihr das Haus bauen müssen.
Bei den Tanzvergnügungen gab sie nunmehr einen Gutteil ihrer bisherigen Zurückhaltung auf. Sie kokettierte und flirtete so gut sie es vermochte mit Max und sie nahm ihn heimlich nach den Tanzvergnügen mit in das möblierte Zimmer, welches sie in der Südstadt bewohnte. Zwar waren Herrenbesuche strikt verboten, aber um diese Zeit schlief die alte Witwe Loeser tief und fest. Morgens, ehe die alte Frau aufstand, war Max, ein leidenschaftlicher Frühaufsteher, längst gegangen.
Mit Männern völlig unerfahren, war Max Ludewig der erste Mann in Großmutters Leben und er sollte auch der einzige darin bleiben.
Mag sein, dass Gertrud unter anderen Umständen Sexualität irgendwann als etwas überaus Schönes und Lustvolles hätte erfahren können. Für sie blieb Sex zeitlebens ein Muss und sie verstand nicht, was die Menschen am Sex in solch einen Rausch versetzte, dass erwachsene Männer und Frauen die absurdesten Tollheiten begingen. Vielleicht spielte ihr Beruf, die Nüchternheit bei der Begutachtung von menschlichen Körpern, vielleicht ihre puritanische Erziehung durch die eigene Mutter eine Rolle bei ihrer lebenslangen Voreingenommenheit gegenüber allen sexuellen Regungen. Auch waren ihre ersten sexuellen Erfahrungen nicht eben dazu angetan, Neugier und Lust aufeinander zu wecken. Sex verkörperte für sie zuerst Anstrengung und Mühsal: Der kraftvolle und drängende Mann musste gebändigt, ihre Angst, von der Witwe Loeser durch die dünnen Wände gehört zu werden, beherrscht werden, was sie immerfort dazu verleitete, zu lauschen, ob das Schnarchen der alten Frau noch anhielt. Jeder lustvolle Laut, jedes Lachen oder Stöhnen musste unterdrückt werden. Hinzu kam der verzweifelte Versuch, schnell schwanger zu werden, der sie völlig verkrampfen und ständig auf ihren eigenen Körper achten ließ. Unter diesen Voraussetzungen konnte sich einfach keine Lust einstellen.
Trotz Gertruds intensiver Bemühungen, obwohl sie allen sexuellen Wünschen von Max Ludewig nachgab, selbst jenen, die ihr Schamgefühl verletzten, wurde und wurde sie einfach nicht schwanger. Längst hatte sich ihr Vorrat an Geduld erschöpft. Sie befasste sich ernsthaft mit dem Gedanken, aufzugeben. Ihr waren die Nächte mit Max über. Sie verstand nicht, woher dieser Mann seine sexuellen Energien nahm, warum sie sich nicht abnutzten oder erschöpften. Sie wollte endlich ihre Ruhe haben, sollte er sein Haus getrost für eine andere bauen. Innerlich begann sie, sich damit abzufinden, Max über Kurz oder Lang zu verlieren. Alle Hoffnungen auf eine Schwangerschaft gab sie verloren, da war sie eines Tages doch schwanger geworden.
Nun wurde ihr die Zeit knapp. Sie musste das Studium abschließen, die Prüfungen bestehen noch ehe das Kind geboren wurde. Das schaffte sie gerade noch rechtzeitig.
Ende November des Jahres 1951 heirateten Gertrud und Max in aller Stille. Das große rauschende Fest, das Gertrud sich in ihren Jungmädchenträumen einst ausmalte, sie ganz in Weiß und im Mittelpunkt, bewundert und beneidet von ihren Altersgefährtinnen, fiel aus. Zum einen war es eine Illusion gewesen, dass sie mit ihrem dicken Babybauch eine bewunderte Braut abgegeben hätte, zum anderen schickte sich kein rauschendes Fest während der Trauerzeit.
Im Sommer des Jahres hatte sich Max’ Vater im Wald erhängt. Er hatte das drückende Schweigen über die Geschehnisse jener Nacht, da seine Frau und seine Tochter vergewaltigt wurden, nicht mehr ertragen. Niemals hatte er Anzeige erstattet, zu keinem Außenstehenden ein Wort