Leben auf brüchigem Eis. Eveline Luutz
Aus Neid kann nichts Gutes wachsen; so macht man sich keine Freunde. Manchmal beklagt sich Grisi bei mir, sie könne nicht verstehen, wieso alle Welt dich mag. Sie tut mir leid … Gott, wer möchte schon mit endlosen Klagen überschüttet werden? So richtig aus vollem Herzen einem anderen ein gutes Wort schenken, das habe ich bei deiner Schwester nicht erlebt. Sie hat gar nichts von meinem Bruder geerbt, manchmal ulke ich: Sie ist ein Kuckuckskind.“
„Aber sie kann doch ihr verkorkstes Leben nicht mir anlasten“, warf Mama verzweifelt ein.
„Das ist wohl wahr. Man muss das Glück würdigen, das einem zuteilwird und nicht argwöhnisch auf das der anderen blicken, immer messen und wägen. Ich habe in meinem Leben ein unbeschreibliches Glück erfahren …“
Mit diesen Worten, beinahe flüsternd, als sei ihr das selbst heute noch peinlich, vertraute die Tante meiner Mutter an diesem Abend etwas an, das mich in erstauntes Schweigen versetzte. Sie erzählte, wie sie Friedhelm kurz nach dem Krieg kennengelernt hatte.
Solange ich denken kann, bezeichnete die Tante Friedhelm als den größten Glücksfall ihres Lebens. Jeder Mensch brauche wenigstens ein Mal im Leben Glück und ihres trage einen Namen: Friedhelm. Diese Sätze, sie prägten sich mir tief ein. Ich entsinne mich, dass ich, noch klein, ich ging in die zweite oder dritte Klasse, meine Mutter einmal fragte, was dieser Satz bedeute. Mama erklärte mir, dass die Tante in Onkel Friedhelm den Mann getroffen habe, den sie mehr als alles andere auf der ganzen Welt liebe.
„Mehr als Hanna und Sabine“, vergewisserte ich mich, um Verstehen bemüht.
„Ja, mehr als ihre Kinder“, beteuerte mir meine Mutter.
Später kamen wir in unseren Gesprächen so manches Mal darauf zurück, prüften und wendeten die Worte hin und her. Ich hatte die Aussage der Tante immer besser verstanden, nicht weil die Erklärungen präziser geworden waren, sondern, weil ich in den langen Jahren, die wir einander kannten, mit allen Sinne erlebt hatte, wie liebevoll Onkel und Tante miteinander umgingen. Aus meinen Beobachtungen schloss ich, dass ihre Augen, ihre Gesten und ihre Körper immerfort von ihrem glücklichen Miteinander kündeten. Ich weiß nicht, ob ein solches Glück einer Erklärung bedarf. Irgendwann hatte ich aufgehört, rationale Gründe dafür zu suchen. Wenn es überhaupt so etwas wie eine schlüssige rationale Erklärung für Tante Annelies’ Behauptung gab, dann bekam ich sie an jenem Abend, da uns die Trauer um Onkel Friedhelm einte, geliefert.
Als der Krieg aus war, war Annelies neunzehn Jahre alt und eine überaus hübsche junge Frau. Sie lebte mit ihren Eltern, nahe Kogenhagen, in einem Haus am Waldrand. Ihr Vater, Hans Ludewig, war Förster und das Forsthaus sein Zuhause. Das Haus stand abseits der Siedlung, regelrecht abgelegen. Jeden Morgen und jeden Abend bedurfte es eines langen Fußmarsches, ehe Annelies das Gut erreichte, auf dessen Feldern sie arbeitete. Geld bekam sie keines, aber satt zu essen und eben Naturalien, Mehl, ein paar Eier, Getreide, Dinge, die damals nicht mit Gold aufzuwiegen waren.
Eines Nachts drangen die Russen in das abgelegene Haus ein. Sie suchten nach desertierten Wehrmachtssoldaten, die es freilich im Haus nicht gab, dafür aber zwei Frauen, welche sogleich ihre Aufmerksamkeit erregten. Der noch junge Offizier griff sogleich nach Annelies. Ihre Mutter schrie gellend, man solle ihre Tochter in Ruhe lassen und sie stattdessen nehmen. Man nahm sie beide. Annelies wurde in dieser Nacht von drei Männern vergewaltigt. Danach wünschte sie sich, voller Scham und Verzweiflung, nur noch zu sterben. Jedoch sie überlebte, fortan von panischer Angst vor jedem männlichen Wesen beherrscht. Sobald ein Mann dichter als einen Meter an sie heran trat, fing ihr Herz zu rasen an, traten ihr dicke Schweißperlen auf die Stirn und vermochte sie an nichts anderes als an Flucht zu denken. Selbst eine zufällige Berührung bei der Arbeit konnte sie nicht mehr verkraften. Ihr Leben schien nach jener Nacht für alle Zeit zerstört. Alles, was Annelies bislang als in höchstem Maße begehrenswert erschienen war: heiraten, Kinder bekommen, all das wirkte nunmehr abstoßend, schmutzig und roh. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie sich jemals wieder freiwillig von einem Mann berühren lassen würde. Sie wollte nur eines: in Ruhe gelassen werden.
Endlich herrschte Frieden, ein Zustand, der ihr noch vor ein paar Monaten als höchster aller Wünsche galt. Ihr Bruder würde hoffentlich gesund aus dem Krieg heimkehren, die Furcht, er könnte, kurz bevor alles vorüber war, noch sterben, würde abfallen. Endlich war Frieden, aber für sie besaß er keinen Wert mehr. Sie mied ihre Freundinnen und das Dorf. Am liebsten hätte sie sich in ein Erdloch verkrochen, um zu sterben.
Das Forsthaus, in welchem Annelies groß geworden war, das sie so sehr liebte, auf einmal war es ihr unerträglich. Ebenso die Blicke der Leute, in denen sie – trotz ihres Schweigens – Wissen und Vorwurf zu lesen meinte. Sie wollte weg aus Kogenhagen, weg von den Erinnerungen an jene Schreckensnacht.
Arbeit fand sie in der Stadt, in der Fischfabrik und einen Platz im Wohnheim, in einem spartanischen Zimmer, das sie sich mit drei anderen Frauen ihres Alters teilte. Während ihre Mitbewohnerinnen die Enge und die fehlende Intimität des Zimmers immerfort beklagten, fühlte sich Annelies darin allzeit sicher und wohl. Die Arbeit gefiel ihr. Die girrende Lebenslust ihrer Mitbewohnerinnen schwappte ein wenig auch auf sie über.
Ganz allmählich schwächte sich die Angst vor Männern ab und irgendwann fand sie sich bereit, mit den Gefährtinnen aus dem Zimmer zum Schwof zu gehen. Sobald sich jedoch ein Mann näherte, um Annelies zum Tanz aufzufordern, begann ihr Herz ängstlich zu klopfen. Es kostete sie Überwindung, mit einem Mann zu tanzen, sich von einem Fremden anfassen zu lassen. Doch im selben Maße, wie neuer Lebensmut in Annelies reifte, versiegte die Angst mehr und mehr. Schließlich hatte sie – genau wie die Freundinnen – so etwas wie einen Verehrer, der sie regelmäßig zum Tanz aufforderte und der sie nach dem Tanz zum Wohnheim geleitete. Nach zaghaften Annäherungen tauschte Annelies schließlich irgendwann auf dem Heimweg ein paar Küsse mit ihm. Bis hierhin fand sie alles in Ordnung. Dem Freund freilich war das nach geraumer Zeit nicht mehr genug. In einer lauen Sommernacht begehrte er mehr. Er hielt Annelies’ flehentliche Bitte, von ihr abzulassen, zunächst für einen Jux, der seine Lust zusätzlich anstachelte. Es spornte seinen Ehrgeiz an, den Widerstand zu brechen, der ihm, in dieser Heftigkeit unerwartet, entgegenschlug. Ungeachtet ihrer Panik und der nackten Furcht in ihren Augen, ungeachtet der flehentlichen Blicke, schob er seine Hand unter Annelies’ Kleidung. Mit der anderen Hand öffnete er seine Hose. In ihrer nackten Angst kam Annelies gar nicht auf den Gedanken, lauthals um Hilfe zu schreien. Sie erstarrte förmlich und wurde in dieser schönen Sommernacht erneut vergewaltigt. Erst als alles vorüber war, als der Mann seine Hose zuknöpfte und zu sprechen anhob, löste sich der Krampf und Annelies begann laut gellend und verzweifelt zu schreien. Der Mann bat sie, ruhig zu sein. „Es ist doch gut“, versuchte er Annelies zu beschwichtigen.
Aber Annelies befand sich in einem schweren Schockzustand, sie schrie durchdringend. Als sie trotz seines Bittens die Stimme noch lauter erhob, schlug er sie mit der flachen Hand k. o. und verschwand eilig in der Dunkelheit des Parks.
Sie muss ohnmächtig gewesen sein, denn als sie zu sich kam, beugte sich ein unbekannter Mann über sie, der ihrer Angst sogleich neue Nahrung bot. Sie brüllte wie ein Tier, bis der Krankenwagen kam und sie noch immer schreiend ins Spital brachte.
Am nächsten Tag besuchte sie zuerst ein Polizist, um sie nach dem Vorfall in der Nacht zu befragen, dann ein schüchterner junger Mann, der ihr ein paar Feldblumen brachte und sich dafür entschuldigte, ihr Angst eingeflößt zu haben. Er und ein Freund hatten auf dem Heimweg ihre Schreie gehört. Sie wollten helfen. Eilig hasteten sie durch den Park, in die Richtung, aus welcher der Hilferuf erschallte. Sie sahen einen Mann in die Dunkelheit entliehen. Annelies fanden sie Minuten später in einem Gebüsch, leblos. Zunächst glaubten sie die Frau tot, dann aber regte sie sich und der Freund eilte, einen Krankenwagen zu rufen, während der junge Mann bei ihr blieb und versuchte, beruhigend auf sie einzusprechen.
„Es tut mir leid, dass wir zu spät kamen, um das zu verhindern. Das sind jetzt schlimme Zeiten, beinahe wie im Krieg. Es tut mir so leid, Annelies“, versicherte der fremde Helfer.
Er kannte ihren Namen. Er kannte sie. Er wusste von ihrer neuerlichen Schande. Wer war der Unbekannte? Sie vermochte ihn nirgends zuzuordnen. Ängstlich erfragte sie seinen Namen.
Der Fremde hieß Friedhelm Mertens. Sein