Schwarze Krähen - Boten des Todes. Carolina Dorn
tückischen Leukämie erkranken? Ich werde meinen besten Freund, den ich bereits aus Kindertagen kenne, verlieren, dachte Gordon. Was wird dann wohl aus dem Banken- Imperium, wenn er nicht mehr ist? Aus den entfernten Familienangehörigen wird es wohl keiner bekommen, wenn sie es auch vielleicht gern möchten. Am Ende zersplittern die einzelnen Filialbanken und werden von der Hauptbank, der Rose-Bud-Bank getrennt. Oder die sechs Banken werden vielleicht zu einer zusammengelegt? Dann würden viele Menschen ihre Arbeit verlieren. Er schüttelte seinen Kopf, wischte sich die Tränen ab und startete den Wagen neu. Die Nachmittagssonne schien heute besonders heiß vom Himmel. Sie heizte dem Kinderarzt in dem kleinen, alten klapprigen Fahrzeug ganz schön ein. Weit voraus, doch immer in Sichtweite, begleiteten ihn die schneebedeckten Berge. Gordon fuhr bereits seit dem Mittag, denn das Kloster lag sechzig Kilometer weit ab von Brandons Haus. Außerdem kam er von Vancouver her, machte nur schnell eine Nacht Zwischenstation bei Brandon, um dann seinen Entschluss mit dem Kloster durchzusetzen. Erzählt hatte er Brandon nichts von seinem Vorhaben, denn der Freund hielt nichts von der Kirche und von Betschwestern schon gleich gar nicht. Gegen Abend erreichte er endlich sein Ziel. Dass er so lange brauchte, lag an seinem alten Auto.
Schon lange hatte er seine Tante nicht mehr besucht. Sie würde sich bestimmt wundern, was er auf einmal bei ihr wollte.
Er stieg aus seinem Auto, streckte und reckte sich erst einmal und stand vor einem großen, schweren, doppelwandigen, rundbogigen Eichentor. Die grauen Mauern aus ungleichen Steinen wurden rötlich von der Abendsonne beschienen. Er betätigte den alten, eisernen Türklopfer. Sogleich öffnete ihm eine ältere Nonne, die ihn freundlich unaufgefordert, als ob sie wüsste, was er wolle, zur Mutter Oberin führte.
Diese saß hinter einem gewaltigen Schreibtisch aus dunkler Eiche. Als Gordon eintrat, nahm sie die Brille ab, erhob sich und eilte um den Schreibtisch herum.
„Gordon, wenn ich alles erwartet hätte, aber dich am allerwenigsten!“, rief sie erfreut.
Sie umarmten sich.
„Ja Tante, ich habe dich schon eine Ewigkeit nicht mehr besucht. Aber dieses Kloster liegt auch weit ab von meinem Tätigkeitskreis. Heute komme ich mit einem Problem zu dir, das mir fast das Herz erdrückt. Ich weiß einfach nicht mehr aus noch ein. Vielleicht kannst du mir helfen?“, begann er.
„Setz dich, bitte.“ Die Oberin bot ihm einen Stuhl vor dem Schreibtisch an. Sie besaß einen schlanken Körper und ihre Größe bewegte sich in den mittleren Maßen. Ihr Alter mochte zwischen fünfzig und fünfundfünfzig Jahren liegen. Sie trug eine schneeweiße Tracht. Das blonde Haar verbarg sie vollkommen unter dem Schleier. Ihr Gesicht wies eine gewisse Strenge auf, doch wenn man sie näher kannte, wusste man, dass sie viel lieber lachte als tadelte. Jeder konnte mit seinen Sorgen oder manchmal auch Fehltritten zu ihr kommen. Aus ihrer Stimme fühlte und hörte man immer das große Verständnis für die dargelegten Probleme und die Güte mitschwingen. Obwohl sie hier als Oberin regierte, tat sie es nicht nur mit dem Kopf, sondern vor allem mit dem Herzen. Deshalb wurde sie auch von all ihren Untergebenen geliebt und nicht gefürchtet oder gehasst. Diese Nonnen hatten das besondere Glück, eine Oberin mit eigenen, schlimmen Erfahrungen zu haben, deswegen vor allem mit viel Gefühl. Da sie eben dies erlebt hatte, bereits in sehr jungen Jahren, regierte sie hier oft ziemlich nachsichtig und milde, statt mit Strenge und Strafe. Sie wurde auch nach den vielen Jahren, die sie als Oberin im Heilig Geist Kloster diente keine Beißzange, wie so viele andere in dieser Stellung. Sie half ihren Untergebenen mit Rat und Tat und fand praktisch für jedes Problem einen Ausweg.
„Nun, dann pack’ deine Sorgen und deinen Kummer hier aus“, forderte sie ihren Neffen lächelnd auf und setzte sich hinter ihren Schreibtisch.
Gordon faltete seine Hände über dem Knie und begann: „Mein bester Freund ist an Leukämie erkrankt. Ich betreue ihn im Moment: Er bekommt jedoch nicht die geeignete Pflegekraft. Alle sehen nur das Geld, das sie dabei verdienen, denn mein Freund ist mehrfacher Millionär, und er ist nicht kleinlich bei der Bezahlung. Ich habe die Pflegekräfte lange genug beobachtet, doch ich bemerke nicht viel von der Pflege. Das Bett wird nicht frisch bezogen, es wird ihm beim Essen nicht geholfen, die Körperpflege lässt auch zu wünschen übrig und was ich am allerschlimmsten finde ist, dass sie sehr ungeduldig und lieblos mit ihm umgehen.“
Die Oberin überlegte eine Weile, ehe sie antwortete. „Wie heißt dein Freund?“, erkundigte sie sich.
„Brandon Stonewall. Ich nehme an, du hast von ihm schon gehört“, antwortete Gordon.
„Ja, natürlich. Wer kennt ihn nicht? Er ist der oberste Chef der Rose-Bud-Bank und ihrer sechs Zweigstellen in ganz Kanada“, bestätigte sie. „Er ist der einzige Überlebende seiner Familie und nun liegt er selbst todkrank da? Ich vermute, du suchst bei mir eine geeignete Pflegekraft für ihn?“, informierte sie sich.
„Ja, wenn es möglich wäre und du eine deiner Schwestern entbehren könntest, würde mich das gewiss um einiges entlasten“, antwortete er und blickte sie mit großen Sorgenfalten auf der Stirn an.
Die Oberin zog ihre Stirn ebenfalls in Falten. Dann entspannte sich ihr Gesicht und ein leichtes Lächeln spielte um ihren Mund.
„Ich glaube, ich habe da eine sehr gute Pflegekraft für deinen Freund. Sie heißt Schwester Christin und ist eine meiner besten Kräfte, speziell in der Krebspflege. Sie kommt zwar heute Abend erst von einem ihrer Patienten zurück aber ich denke, dass sie die Aufgabe, deinen Freund zu pflegen, annehmen wird.“
„Er hat bereits das Endstadium erreicht“, klärte er vorsichtig die Tante auf.
Dann legte er noch eine Mappe auf ihren Schreibtisch, die ein kurzes Dossier über seinen Freund enthielt.
Die Oberin griff zum Telefon, um sich zu informieren, ob Schwester Christin bereits im Haus sei. Es dauerte auch gar nicht lange, da öffnete sich hinter Gordon eine Türe. Er drehte sich um und sah sich einer sehr kleinen, überaus zierlichen jungen Nonne in einer völlig schwarzen Tracht gegenüber. Es gab keinen noch so kleinen Flecken weißen Stoff an ihr, jedoch ihre Gestalt und ihre strahlenden, dunklen Augen ließen diese tiefschwarze Tracht vergessen.
Die Oberin erhob sich. „Darf ich vorstellen? Das ist Schwester Christin. Christin, das ist Doktor Gordon Spencer, mein Neffe. Er ist von Beruf Kinderarzt“, stellte sie die beiden einander vor. Christin machte einen kleinen Knicks, während Gordon eine Verbeugung andeutete. Mit einem Seitenblick auf die Nonne meinte er: „Entschuldigung, aber hast du dich da nicht etwas vertan? Wie soll sie das allein bewältigen? Ich bin ja schon eins achtzig groß und mein Freund misst um die eins neunzig.“
„Keine Sorge, mein Junge. Christin beherrscht ihr Handwerk vollkommen, ob große oder kleine Patienten“, erklärte die Oberin mit einem nachsichtigem Lächeln. Dann wandte sie sich direkt an die kleine Nonne.
„Christin, ich weiß, dass Sie eben von einem Patienten zurückkommen. Aber ich hätte einen dringenden und eventuell auch etwas langwierigen Fall für Sie. Natürlich ist es Ihr gutes Recht abzulehnen, mit der Begründung, dass Sie sich erst etwas ausruhen möchten …“
„Nein, nein, das geht schon in Ordnung. Wenn ich so dringend gebraucht werde, gehe ich natürlich sofort zu dem Patienten. Bis morgen früh bin ich auf jeden Fall wieder fit“, fiel ihr die Nonne in die Rede.
„Dann ist ja alles geregelt“, freute sich die Oberin. „Gordon, du kannst hier bei uns übernachten. Morgen früh darfst du Schwester Christin dann mitnehmen.“
Abschließend drückte sie der kleinen Nonne das Dossier in die Hände.
Diese schlug die erste Seite auf und sah dort ein Bild von ihrem neuen Patienten Brandon Stonewall. Sie erblickte einen großen, schlanken, jungen Mann, gutaussehend, dunkelhaarig, mit strahlend blauen Augen und kleinen Lachfältchen im Gesicht. Sie fühlte sich so angerührt von diesem Foto, dass sie sich setzen musste. Unentwegt starrte sie auf das Bild, als die Mutter Oberin sie fragte: „Ist irgendetwas nicht in Ordnung, Christin? Sie sehen ja auf einmal so blass aus.“
„Nein, Mutter, es ist nichts“, antwortete sie lächelnd, schlug die Mappe zu und erhob sich.
„Ich lese es in meinem Zimmer zu