Schwarze Krähen - Boten des Todes. Carolina Dorn
erhob sich die Oberin und schritt Gordon voran durch einen dunklen Gang. An dessen Ende öffnete sie eine Türe und schaltete das Licht ein, das von einer einfachen, weißen, runden Lampe an der Decke kam.
„Hier kannst du dich ausschlafen. Es ist vollkommen egal, wann du morgen früh aufstehst oder soll ich dich wecken?“ erkundigte sie sich.
„Das wäre mir sogar lieber. Sagen wir so gegen sieben Uhr?“, bat er sie.
„Gut, dann klopfe ich Morgen an deine Türe. Toiletten und Dusche sind zwei Türen weiter hier auf dem Gang. Ich wünsche dir eine gute Nacht. Sie schloss die Türe. Während sie sich entfernte, dachte sie über ihn nach. Ich wusste gar nicht, dass ich einen so attraktiven, gutaussehenden Neffen habe. Der wird einen ganz schönen Wirbel hier im Kloster unter meinen Ordensschwestern auslösen.
Gordon sah sich um. Er stand in einem äußerst spartanisch eingerichteten Zimmer. Dieses bestand aus einem Bett an der Wand, einem schmalen Schrank, denn Nonnen besaßen nicht viel Kleidung, einem kleinen, dreibeinigen Tisch mit einem verblichenen Stoffsessel und einem Waschbecken. Ein kleines Fenster wäre noch erwähnenswert gewesen, allerdings ohne Gardine. Ein großes Holzkreuz hing dem Bett gegenüber. Es nahm beinahe die ganze Breite und Höhe der gesamten Wand ein.
So also leben die Ordensfrauen hier, dachte er bei sich. Verblüfft stellte er fest, dass es keinen Spiegel über dem Waschbecken gab. Wie sollte er sich am nächsten Morgen rasieren? Und vor allem mit was? Er trug weder Rasierzeug, noch Wäsche zum Wechseln bei sich. Wer hätte denn auch ahnen können, dass er zum Schlafen eingeladen wurde? So ging er zwei Türen weiter in den Duschraum.
Wenigstens den Schweiß des heißen Tages abspülen, dachte er. Als er zurück kam lag auf dem kleinen Tischchen ein Apfel und daneben stand ein Glas mit einer Flasche Mineralwasser. Das Obst aß er sofort und spülte alles mit einem Glas Wasser hinunter. Danach legte er sich nur mit der Unterwäsche bekleidet auf das Bett. Das Fenster öffnete er weit, denn die Luft stand förmlich im Zimmer. Er rief sich Melissas liebliches Gesicht in Erinnerung und schlief damit ein.
Während Gordon von der hübschen Nonne träumte, saß Christin an dem kleinen Tisch in ihrem Zimmer und las die Lebensgeschichte von Brandon Stonewall, ihrem nächsten Patienten.
„Brandon Stonewall, Beruf Tierarzt, neunundzwanzig Jahre alt. Zweiter und außerehelicher Sohn des Ehepaares Stonewall. Er verlor mit dreizehn Jahren seine gesamte Familie bei einem schweren Autounfall. Da nur wenige weit entfernte Verwandte gefunden wurden, die ihn nicht haben wollten, übernahm das Hausmeisterehepaar, in Absprache mit dem Jugendamt, die weitere Erziehung. Mit achtzehn Jahren trat er das Erbe seiner Familie an. Er übernahm die Rose-Bud-Bank mit sechs Filialen und mehreren Millionen Dollar.“ Sie überlegte kurz: Rose-Bud-Bank? Das heißt Rosenknospe. Eigentlich ein seltsamer Name für eine Bank.
Sie las weiter: „Anschließend studierte er Veterinärmedizin. Die Praxis befindet sich im Kellergeschoss seines Hauses. Vor einem Jahr Ausbruch der Leukämie. Er bekam mehrfach Chemotherapie und Bestrahlungen, die jedoch keine Besserung erzielten. Durch die körperliche Schwäche bedingt, stürzte er vor einem halben Jahr die Treppe im Haus hinunter und verletzte sich dabei das Rückgrat. Wegen seines schlechten Allgemeinzustandes konnte keine Operation stattfinden. Danach bewegte er sich im Rollstuhl fort. Seit zwei Monaten kann er das Bett nicht mehr verlassen. Er bekommt Morphium intravenös zur Schmerzbehandlung und weitere Medikamente gegen das Zellwachstum der Krebszellen. Nebenbei trinkt er viel Alkohol ( Whiskey ), um die Wirkung des Morphiums zu verstärken. In der Zwischenzeit wurde viermal die Lunge punktiert, um gestautes Wasser abzuleiten. Zuweilen wird er sehr ausfällig. Unter Umständen kann es geschehen, dass er alles Essen an die Wand wirft oder es der Pflegekraft über den Kopf stülpt, wenn es ihm nicht passt. Dazwischen hat er schwere, depressive Phasen. Voraussichtliche Lebensdauer noch ungefähr zwei Monate.“
Christin ließ das Dossier sinken. Nur noch zwei Monate gaben die Ärzte ihm? Sie schüttelte energisch ihren Kopf. Nein, die letzten beiden Patienten waren ihr gestorben. Dieser hier musste leben. Das machte sie sich zum Ziel, obwohl er sich bereits im Endstadium befand. Christin war eine sehr ehrgeizige Schwester. Was sie sich vornahm, führte sie auch aus. Noch einmal sah sie sich das Bild von ihm an. So wie hier würde er auf keinen Fall mehr aussehen. Sie stellte ihn sich ohne Haare und sehr untergewichtig vor. Auch die Lachfältchen würden nicht mehr vorhanden sein. Schade, ein Jammer, was diese furchtbare Krankheit aus den Menschen machte. Christin schloss die Mappe. Dann ging sie duschen, betete ein Nachtgebet und begab sich zu Bett.
Gordon glaubte gerade erst eingeschlafen zu sein, da klopfte es an seiner Türe. Ein Blick auf seine Armbanduhr zeigte ihm, dass es Punkt sieben Uhr war. Das hieß für ihn aufzustehen. Mit kaltem Wasser wusch er sich rasch Gesicht und Hände und fuhr sich mit den nassen Fingern durch das Haar. So, das musste für heute genügen. Hätte er einen Spiegel gehabt, dann würde er wohl gesehen haben, dass er auf seinem Kopf ein noch viel größeres Chaos angerichtet hatte als es ohnehin schon war. Jedenfalls sah es jetzt so aus, als sei er gerade unter der Bettdecke hervorgekrochen. Normalerweise trug er sein Haar etwas nach vorn gekämmt, doch die Natur machte was sie wollte, noch dazu wenn seine Frisur nass wurde. Vor seiner Türe empfing ihn die Tante und wünschte ihm einen „Guten Morgen.“ Er folgte ihr zum Frühstück. In diesem Raum befanden sich beinahe alle Nonnen des Klosters, außer den Nachtwachen und den Außendiensthabenden. So viele hatte er eigentlich nicht erwartet. Er wünschte allen einen „Guten Morgen“, doch wurde ihm etwas unbehaglich zu Mute, als einziger Mann unter beinahe zweihundert Ordensfrauen. Außerdem wurde ihm überhaupt nicht bewusst, wie heiß er mit seinem Drei-Tage-Bart und dem Wirrwarr seiner Haare auf die Anwesenden wirkte: nämlich unheimlich jung, sympathisch und voller Tatendrang.
Die Mutter Oberin blieb stehen und klopfte mit dem Löffel an ihre Kaffeetasse, um die Aufmerksamkeit ihrer Ordensfrauen zu gewinnen.
„Liebe Schwestern, wir haben ein neues Mitglied in unserer Mitte. Doktor Gordon Spencer ist der neue Oberarzt der Kinderklinik“, erklärte sie ihnen.
Die Nonnen klatschten alle Beifall und dem Arzt wurde es immer ungemütlicher. Feuchter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. „Du beförderst mich gleich zum Oberarzt?“, zischte er ihr ins Ohr. „Ist das wirklich klug von dir?“
Er erhob sich und verbeugte sich kurz. „Ich danke Ihnen. Ab der nächsten Woche werde ich mich für die kleinen Patienten der Kinderklinik einsetzen. Vielen Dank im Voraus für die Mitarbeit der Schwestern, die in der Kinderklinik in der nächsten Zeit mit mir zusammenarbeiten.“
„Ich muss dich gleich zum Oberarzt befördern, denn wenn Dr. Clark schlapp macht, bist du der Chef hier. Es macht sich nicht gut vom einfachen Arzt zum Chefarzt katapultiert zu werden“, ließ sie ihn leise wissen.
Während seines Frühstücks suchten seine Augen fieberhaft nach Melissa, doch sie befand sich nicht unter den vielen schwarzgekleideten Nonnen. Rasch beendete er seine Mahlzeit und verließ regelrecht fluchtartig den Frühstücksraum. Aus der Klosterküche bekam er noch ein Lunchpaket und eine Flasche Quellwasser als Proviant mit. Er verabschiedete sich von seiner Tante und versicherte ihr nochmals, am kommenden Montag seinen Dienst anzutreten.
Draußen vor der Türe wartete bereits Christin mit zwei Koffern. Einem kleinen für Unterwäsche, Nachtwäsche, Morgenmantel und Reservetracht und einem größeren mit Medikamenten aus Gottes reicher Natur. Viele dieser Kräuter wurden im Klostergarten angebaut.
Gordon verstaute die beiden Koffer hinten im Kofferraum. Dann hielt er der kleinen Nonne die Wagentüre auf und ließ sie einsteigen. Mit einem leichten Kopfnicken bedankte sie sich. Er lenkte das Fahrzeug auf die Straße und begann Fahrt aufzunehmen. Nicht lange und er kurbelte sein Fenster ganz hinunter, denn die Wärme staute sich im Auto, trotz der frühen Morgenstunde. Neben ihm saß ein sehr schweigsamer Gast. Christin betete im Stillen aus ihrem kleinen Gebetbuch. Der Fahrtwind ließ ihren schwarzen Schleier nach hinten wehen. Mit einem Seitenblick beäugte der Kinderarzt sie. Ihm fiel ihr sanftes, liebliches, ebenmäßiges Gesicht auf. Eine kleine Nase und leicht geschwungene Lippen. Eigentlich fand er sie viel zu hübsch für eine Nonne. Ihr Haar und seine Farbe konnte er nicht sehen, denn es verschwand vollständig unter dem Schleier. Außerdem schien sie ihm noch sehr jung zu sein. Warum mussten