Hilde Domin. Ilka Scheidgen

Hilde Domin - Ilka Scheidgen


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noch einmal. Dann fährt sie fort:

      „Es war einfach ein distanzierteres Verhältnis zum Vater, das man damals hatte. Aber ich konnte mit meinem schier unstillbaren Wissensdurst immer zu ihm kommen. Auf den gemeinsamen Wegen – der Vater zu seiner Kanzlei, ich zur Schule oder auf dem Weg zurück nach Hause – stellte ich ihm all die Fragen, die mir auf dem Herzen lagen, diskutierte mit ihm über meine Schulaufsätze, und er erzählte mir von seinen Rechtsfällen, für die ich mich sehr interessierte.“

      Noch einmal komme ich auf das Haus in der Riehler Straße zu sprechen, in dem Hilde Domin zwanzig Jahre lang wohnte, von ihrem Geburtsjahr 1909 bis zu ihrem Auszug zum Studium 1929. Ich erzähle ihr, dass ich das Haus besucht habe, im Treppenhaus den vergoldeten Ornamentalstuck, abgesetzt mit grünem Marmor, gesehen habe, sogar einen Blick habe werfen können in eine der Wohnungen mit ihren hohen schönen Räumen mit Stuckdecken. Ich kann mir jetzt ein bisschen das Lebensgefühl der Zeit vorstellen, als das aufgeweckte, quirlige, lern- und wissbegierige Mädchen Hilde dort lebte.

      Und sofort beginnen bei Hilde Domin die Erinnerungen wieder lebendig hervorzusprudeln. „Ja, wir hatten eine geräumige Wohnung mit zehn oder elf Zimmern. Es gab ein Esszimmer, ein so genanntes Herrenzimmer, einen langen Flur, auf dem ich mit meinem Bruder Rollschuh fuhr oder Holländer, natürlich ein Kinderzimmer, das Schlafzimmer der Eltern und den so genannten Salon, der nur zu offiziellen Anlässen benutzt wurde und in dem der Flügel meiner Mutter stand.“

      Sie erinnert sich, dass sie unter diesem Flügel saß, während die Mutter Klavier spielte. Sie selbst habe zwar auch Klavierunterricht bekommen, erzählt sie, weil es damals für Mädchen so üblich war, aber sie habe nie so rechte Freude daran gehabt.

      „Wichtiger war mir das Lesen“, sagt sie. Und da konnte sie sich reichlich bedienen aus der Bibliothek, dem mit Glasfenstern versehenen Bücherschrank aus schwarzem Eichenholz, der niemals verschlossen war. Oft habe sie noch nachts unter der Bettdecke weiter gelesen, wenn ein Buch sie fesselte.

      Die Wohnung hatte selbstverständlich eine Zentralheizung und im Wohnzimmer zusätzlich einen Kamin, der allerdings kein echter Kamin war, sondern einer mit Holzscheiten und Gasröhren, aus denen ein dekoratives Feuer züngelte. Hinter dem Bronzegitter mit Jugendstilschleifen verschwand einmal ihr Meerschweinchen und ließ sich erst nach Tagen wieder blicken.

      Ich frage Hilde Domin nach Erinnerungen an ihre Schulzeit. Lernen sei ihr immer leicht gefallen, erzählt sie.

      „Vielleicht“, so meint sie jetzt in der Rückschau, „war ich für meine Lehrer keine ganz einfache Schülerin, weil ich immer schon alles im Voraus gelesen hatte.“

      Hilde Domin besuchte das Humanistische Mädchengymnasium Merlo-Mevissen, das sich in der Altstadt befand. Aufsätze schrieb sie gerne.

      „Man machte ja damals noch Dispositionen für Aufsätze, und die schrieb ich manchmal für die halbe Klasse“, erinnert sie sich. Ein Ereignis fällt ihr ein, das ihr beim Erzählen lebhaft vor Augen zu stehen scheint: „Einmal habe ich als Schülerin in der Lengfeld’schen Buchhandlung ein Buch von James Joyce kaufen wollen. Das muss die Buchhändlerin wohl stutzig gemacht haben. Jedenfalls rief sie bei meinen Eltern an, um zu fragen, ob das in Ordnung sei, weil sie der Ansicht war, diese Lektüre sei doch wohl nichts für ›Kinder‹.“ Hilde Domin schmunzelt und ergänzt ihre Erinnerung: „Das war damals doch relativ anders!“

      Und dann erinnert sie sich besonders an ihr Abitur. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, in Geschichte über „Paneuropa“ zu schreiben, ein Gedanke, der sie ungeheuer faszinierte, nicht aber den Schulrat, der prüfte.

      „Und der hat mir dann meine Abiturnote verdorben. Ich machte seinetwegen nur mit einer Zwei statt mit einer Eins das Abitur. Und ich war so wütend darüber, dass ich mein schönes Seidenkleid zerriss!“ Wer Hilde Domin kennt und weiß, wie energisch sie sich für etwas einsetzt, glaubt ihr diese Geschichte sofort.

      „Ich war ganz für Paneuropa. Und der Schulrat war ganz dagegen!“

      Die Ideen eines vereinten Europa von Graf von Coudenhove-Kalergi – er hatte die Paneuropa-Bewegung 1923 in Wien begründet –, die damals ungeheuer modern waren, gefielen Hilde Domin außerordentlich gut, so dass sie sich gar nicht vorstellen konnte, dass jemand so gänzlich dagegen sein konnte.

      Am 21. September 1914 wurde der Vater, der zu diesem Zeitpunkt bereits 43 Jahre alt war, zum Kriegsdienst eingezogen. Für seine Verdienste im ersten Weltkrieg wurde er mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. Doch die Kriegsjahre scheinen den großbürgerlichen Lebensstil der Familie Löwenstein nicht sehr durcheinander gebracht zu haben. Bis auf den Umstand, dass der „Salon“ vorübergehend als Vorratskammer für die Würste diente, die der Vater heimschickte. Und dass danach für eine kurze Zeit ein englischer Unteroffizier in den zur Straße gehenden Zimmern einquartiert war. Hilde Domin erinnert sich vor allem noch daran, dass der Vater „herrliche bunte Postkarten aus Belgien“ geschickt hat, die sie in große Fotoalben klebte. Auch später wurde vom Krieg nie gesprochen. Dafür viel von der Demokratie. Und von der Weimarer Republik, die der Vater für den Idealstaat hielt.

      Eugen Löwenstein, so erlebte ihn seine Tochter Hilde, war ein äußerst rechtschaffener, korrekter Mann, der in seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt mit Arbeitsschwerpunkt auf Zivilrecht niemals einen Fall übernahm, den er nicht für vertretenswert hielt. Seiner genauen Schriftsätze wegen war er bei den Richtern am Oberlandesgericht sehr geschätzt.

      „Mein Vater zwang mich zu nichts“, erinnert sich Hilde Domin. „Im Gegenteil: Er ermunterte und bestärkte mich.“

      Wenn man bedenkt, dass Familien zur Zeit von Hilde Domins Kindheit überwiegend von patriarchalischen Grundmustern geprägt waren, mit wenig Freiheit und Entwicklungsmöglichkeiten für eigene Gefühle und Lebensvorstellungen, wo Erziehung meistens in Form von Geboten und Strafen stattfand, so kann man ermessen, wie prägend für ihr ganzes Leben die großzügige Haltung ihrer Eltern war.

      „Ich musste nicht mit ihm (dem Vater) spazieren gehen, ich durfte es. Ich durfte schwimmen gehen, ich durfte mit ihm ins Gericht. Ich durfte mit ihm ins Theater. Ich durfte wegfahren nach Heidelberg, zum Studium, und ich durfte studieren, was ich wollte. Jura, wie mein Vater, natürlich. Und dann durfte ich die Jura aufgeben und Volkswirtschaft und Soziologie studieren, Wissenschaften, die die Welt ›verändern‹.“

      So beschreibt Hilde Domin die vom Vater gewährte Freiheit in ihrem Aufsatz „Mein Vater. Wie ich ihn erinnere“.

      Sie hat sich in ihrer Kindheit und Jugend nicht verbiegen müssen. Das natürliche Bedürfnis jeden Kindes nach Zuwendung und Bestätigung, nach Erprobung eigener Erfahrungen und Grenzen und nach Ausleben eigenständiger Gefühle wurde von den Eltern in ausreichendem Maße gewährleistet. Die Grundsteine für eine seelische Gesundheit wie Vertrauen, Dankbarkeit, Mut, Ehrlichkeit, die im Leben von Hilde Domin noch ganz entscheidende Schlüsselfunktionen einnehmen sollten, sind in ihrem Elternhaus gelegt worden.

      „In meinem Elternhaus habe ich das Urvertrauen bekommen“, sagt sie in unserem Gespräch, „das man als Kind bekommt oder nie. Und außerdem eine durch und durch demokratische Erziehung.“

      Das Temperament eines „enfant terrible“, das gewesen zu sein sie behauptet, hat sie anscheinend von der Mutter geerbt. Jedenfalls sagt sie einmal, dass die Mutter „des Bombenwerfens fähig“ gewesen sei und auch schon mal – im Gegensatz zum Vater – zu Ungerechtigkeit. Dennoch vermittelte sie sowohl ihrer Tochter als auch dem Sohn das Gefühl, jeder von ihnen sei ihr Lieblingskind.

      Hilde Domin erinnert sich, dass sie ein zartes, von den Eltern behütetes, wenn nicht gar verzärteltes Kind gewesen ist. Als sie begann, mit dem Fahrrad zur Schule zu fahren, fuhr die Mutter anfänglich mit der Straßenbahn neben ihrer Tochter her, aus lauter Sorge, dass ihr etwas passieren könne.

      Eugen Löwenstein unterstützte seine Frau in allem, was sie tat. Er bewunderte sie und sagte das auch ganz offen.

      So hat Hilde Domin ein harmonisches Elternhaus erfahren, ein gutes, tragfähiges und vertrauensvolles Zusammenleben der Eheleute, was sicher nicht unwesentlich zu ihrem eigenen Lebensmodell der Zweisamkeit mit ihrem Ehemann


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