Hilde Domin. Ilka Scheidgen

Hilde Domin - Ilka Scheidgen


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zuerst auch als Verkäufer arbeitete. Dann wurde er von der Armee requiriert. Er ist Amerikaner geworden.“

      Dieser Umstand, dass der Bruder in den USA lebte, sollte sich noch als segensreich erweisen. Nachdem die Eltern 1933 Nazi-Deutschland verließen und über Belgien und Frankreich nach England emigrierten, erhielten sie 1940 ein Visum für Amerika, was damals ohne die Hilfe des Bruders sehr schwierig gewesen wäre, es sei denn, man hätte sehr viel Geld gehabt. Aber das hatten sie ja nicht, das meiste Vermögen hatten sie durch die Machtergreifung Hitlers verloren, so dass sie auch in England auf die Unterstützung einer Schwester von Paula Löwenstein, die nach England geheiratet hatte, angewiesen waren.

      Zum Geburtsjahr ihres Bruders, 1912, gibt es eine Anekdote: „Ich habe mir ja sein Geburtsjahr sozusagen ausgeliehen“, sagt sie halb verschmitzt, halb ernst, und ergänzt sofort, „das hat mir mein Bruder leider übel genommen. Es war doch so, dass mein erster Gedichtband 1959 erschien, und da wäre ich schon fünfzig Jahre alt gewesen. Und da hat mir jemand vom Verlag empfohlen, mich einfach etwas jünger auszugeben. Also nahm ich das Geburtsjahr meines Bruders 1912.“

      Dieses Geburtsjahr steht noch in vielen Büchern, auch in Lexika. Erst an ihrem 90. Geburtstag hat Hilde Domin ihr „kleines Geheimnis“ gelüftet und ihr wahres Geburtsjahr 1909 öffentlich gemacht. „Leider hat es mein Bruder nicht mehr erlebt. Er ist ein Jahr zuvor gestorben“, sagt sie mit Bedauern.

      „Bei der Armee in Amerika haben sie erkannt, wie intelligent er war,“ fährt sie fort zu erzählen. „Sie haben ihn nach London an ein Militärmuseum der Armee geschickt und später nach Oberammergau, wo die Amerikaner eine Art Hochschule hatten, an der Offiziere unterrichtet wurden. Und obwohl er kein Abitur hatte, wurde er dort eine Art Dozent. Er soll ein hervorragender Dozent gewesen sein. Der amerikanische Außenminister Kissinger war übrigens ein Kollege von ihm.“

      Hilde denkt gern an die Kinderjahre mit ihrem Bruder zurück.

      Sie war, was auch heute noch für sie kennzeichnend ist, ein offenes und kommunikatives Kind, das auf die Menschen zuging. So erinnert sie sich zum Beispiel an ihren ersten Schultag, als sie ihrer Lehrerin hinterherlief, sie am Rock zupfte und ihr sagte, sie habe von ihr geträumt, was bei der Lehrerin Verlegenheit ausgelöst hat. Schon früh war ihr eigen, was für sie charakteristisch bleiben sollte: sich nicht um den „common sense“ zu kümmern, weder zu sagen noch zu tun, was man sagt oder tut. Und genau das ist es, was sie jungen Menschen ans Herz legt: auf die innere Stimme zu hören und nicht auf das zu achten, was gerade „in“ ist.

      Auch am Ende ihrer Schullaufbahn stand ein Ereignis, das sie als „enfant terrible“ auswies, das sich in keiner Weise konformistisch verhielt. In der Anwaltsrobe ihres Vaters verlas sie bei der Abiturfeier eine gereimte Anklageschrift auf die Schulzeit, die einer Lehrplankritik gleichkam, und löste damit bei den Mitschülerinnen (und vielleicht auch einigen Lehrern) große Zustimmung aus. „Es wurde viel gelacht, zu viel gelacht“, erzählt Hilde Domin. Und die Folge wäre beinahe fatal gewesen. „Nach diesem Auftritt in meines Vaters Robe war von Zeugnisverweigerung die Rede.“

      Auch in der Schule vertrat sie die Interessen ihrer Mitschülerinnen. Sobald das Amt eingeführt wurde, wählte man sie zur Klassensprecherin. Und als eine Mitschülerin an Kinderlähmung erkrankte und lange Zeit nicht in die Schule kommen konnte, war sie es, die mit dem Mädchen gemeinsam die Schulaufgaben machte.

      Hilde Domin formulierte 1978 in ihrer „Römerberg-Rede“ ihr wichtigstes Credo so: „Das ›Wunder‹, ein im Lichte der Vernunft – um es mit Spinoza zu sagen – mögliches Wunder, für das hier Bereitschaft verlangt wird, besteht für mich darin, nicht im Stich zu lassen. Sich nicht und andere nicht. Und nicht im Stich gelassen zu werden. Das ist die Mindest-Utopie, ohne die es sich nicht lohnt, Mensch zu sein.“ Viele ihrer Gedichte sprechen von diesem „Nicht-im-Stich-Lassen“, wie sie es schon als junges Mädchen an der erkrankten Mitschülerin praktiziert hat.

      Dass Hilde Domin einer jüdischen Familie entstammte, bekam erst durch den Machtantritt Hitlers und die damit verbundene Verfolgung der Juden, die auch sie und ihre Familie ins Exil zwang, für sie Bedeutung. Ihre Kindheit wurde nicht durch jüdische Feste und Riten geprägt, sondern durch Weihnachten, Ostern und Nikolaus; denn ihre Eltern waren keine Glaubensjuden. Obwohl sie und ihr Bruder von klein auf wussten, dass sie Juden waren, war doch dieser Begriff nichts wirklich Lebendiges für sie. Und ihr Vater, von ihr dazu befragt, konnte es ihr nicht recht erklären und sagte, es sei für ihn nicht von Bedeutung, er fühle sich nur als Deutscher. Soweit er sich überhaupt mit einem Juden identifiziert habe, so sei das Heinrich Heine gewesen. Auch der war ja Düsseldorfer gewesen. Ihn betrachtete er wie einen nahen Verwandten.

      In „Offener Brief an Nelly Sachs“, den sie 1960 an Nelly Sachs geschrieben und 1966 veröffentlicht hat, formulierte Hilde Domin, was „Judesein“ für sie bedeute: „Judesein ist, um es ganz deutlich zu sagen, keine Glaubensgemeinschaft für mich, keine Volkszugehörigkeit … und natürlich keine Rassenfrage. Es ist eine Schicksalsgemeinschaft. Ich habe sie nicht gewählt wie andere Gemeinschaften, die dann zu Schicksalsgemeinschaften werden. Ich bin hineingestoßen worden, ungefragt wie in das Leben selbst. In das Leben hier in Deutschland, in diesem Jahrhundert, und als Kind meiner Eltern. Von einer Schicksalsgemeinschaft aber, wie immer sie auch zustande gekommen sei, kann sich der emanzipierte Mensch, der ›befreite‹, nicht drücken, die menschliche Solidarität gehört unabdingbar zu seinem Credo, ohne sie wäre er nichts als ein Objekt der Umstände… Mit seiner Zwangs- und Schicksalslage solidarisch zu sein (ohne sie wegzulügen, was eine andere Möglichkeit wäre), darin besteht das, was andere Zeiten die Menschenwürde nannten und was auch ich so nenne: das Unverlierbare, ohne das Leben sinnlos ist.“

      Und obwohl dieses „Judesein“ sie ihrer Heimat beraubte, sie zur „permanenten Flucht“ in ein 22-jähriges Exil zwang, bejaht Hilde Domin dieses ihr aufgezwungene Schicksal. Denn sie verdankt ihm Erfahrungen, die ihr sonst fremd geblieben wären. Ohne die sie nicht zur Dichterin des „Dennoch“ geworden wäre.

      Studienjahre

      N

      ach dem Abitur schien für Hilde Domin ein ganz normales Studentenleben seinen Anfang zu nehmen. Ostern 1929 ging sie in die Universitätsstadt Heidelberg und nahm das Studium der Jurisprudenz auf. Der Vater hatte ihr Heidelberg für das Jurastudium empfohlen, weil dort der von ihm hochgeschätzte Professor Gustav Radbruch lehrte. Ihre Mutter begleitete sie und war ihr bei der Suche nach einer Unterkunft behilflich.

      Auch wenn die Eltern ihre Tochter schon in Köln an langer Leine ihre Erfahrungen hatten sammeln lassen, so war das eigenständige, selbstverantwortete Dasein, das nun fern der Obhut der Eltern begann, doch etwas anderes. So glaubte die Mutter, vor ihrer Rückkehr nach Köln Hilde der Fürsorge ihrer Kusine empfehlen zu müssen, was Hilde nicht wenig entsetzte. Die mütterliche Fürsorge versiegte natürlich auch während ihrer Studienzeit nicht. Regelmäßig konnte Hilde ihre Wäsche nach Hause schicken und erhielt die Pakete nicht nur mit sauberer Wäsche, sondern immer noch zusätzlichen Geschenken in Form von Essen, Geld oder Süßigkeiten zurückgesandt.

      Heidelberg wurde für die Studentin Hilde Löwenstein die „geistige“ Stadt im Gegensatz zur „mythischen“ Stadt Köln, der Stadt ihrer Geburt und Kindheit. Bei Professor Radbruch hörte sie die Vorlesungen zur Einführung in die Rechtswissenschaft. Bei ihm lernte sie, juristische Probleme von verschiedenen Seiten zu betrachten, Position und Gegenposition zu beziehen.

      Dieses dialektische Denken als Grundausstattung floss später, als aus der Soziologin und politischen Wissenschaftlerin die Dichterin Hilde Domin wurde, auch in ihre Dichtung ein. Als Stilmittel für Gedichte postulierte sie das Paradox. Oder anders gesagt: Im Reflektieren über die entstandenen Gedichte erkannte sie, dass das Paradox ihr Hauptstilmittel war. Im Gedicht formuliert sich das Gegenteil vom Erwarteten. Die allgemeine Ansicht wird ad absurdum geführt. Und auch der Dichter selbst befindet sich in einer paradoxen Lage, indem er Dinge zusammenfügt im Fluss der Worte, die scheinbar nicht zusammengehören. Kennzeichnend in der Lyrik Hilde Domins war schon die Wahl des Titels für ihren ersten Gedichtband, der 1959 erschien: „Nur eine Rose als Stütze“. Ebenso paradox ist das Motto in diesem Band: „Ich setzte den Fuß in die Luft / und sie trug.“ Es war


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