Mut zum Recht!. Oliver Scheiber

Mut zum Recht! - Oliver Scheiber


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bin dafür dankbar. Ich habe nach dem Studium das Gerichtsjahr begonnen, um die endgültige Berufswahl weiter hinauszuzögern. Die Arbeit bei Gericht hat mich sofort fasziniert. Der Einblick in menschliche Schicksale. Die Möglichkeit, ausgestattet mit der richterlichen Unabhängigkeit, gestaltend einzugreifen. Die Gesetze räumen Richterinnen und Richtern großen Spielraum ein. Das Gericht kann einen Ladendieb zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilen oder zu einer Psychotherapie während einjähriger Probezeit verpflichten. Eine breite Palette an Sanktionen steht im Strafrecht zur Verfügung. Der Gesetzgeber war so vorausschauend, maßgeschneiderte Lösungen für den Einzelfall zuzulassen.

      An meinem Verhältnis zum Staat hat sich seit meinem Eintritt in die Justiz wenig geändert. Als Arbeitgeber hat mich der Staat gut behandelt. Er hat mich solide ausgebildet. Er stellt mir eine hervorragende Infrastruktur zur Verfügung. Er erlaubt mir internationale Einsätze und den Wechsel in verschiedene Arbeitsfelder. Dennoch bleibt jeder vernünftige Mensch gegenüber dem Staat misstrauisch. Staatliche Einrichtungen tendieren dazu, Bürgerinnen und Bürger zu kontrollieren. Sicherheitsapparate streben nach immer mehr Eingriffsmöglichkeiten. Traditionellerweise lehnt die Bürokratie Transparenz ab. Manchmal verletzt der Staat seine eigenen Regeln ‒ und neigt in der Folge dazu, diese Verstöße zu vertuschen, so wie auch jeder Betrüger und Dieb seine Tat verbergen will. Konkret: Es gibt im Rechtsstaat nichts Schlimmeres, als wenn ein Mensch durch Organe des Staates zu Tode kommt. Etwa durch Schüsse der Polizei, wie das in Österreich schon mehrmals geschehen ist. Doppelt schlimm ist es, wenn die Aufklärung zögerlich oder gar nicht erfolgt.

      Ich habe das Glück, in meinem engsten beruflichen Umfeld seit Jahren mit durchwegs hoch motivierten Menschen zusammenzuarbeiten. Der Einsatz von Familienrichterinnen und Familienrichtern, die mit viel Geduld lange Gespräche mit Eltern führen, um eine Einigung im Sinn der Kinder herbeizuführen, nötigt mir Respekt ab. So wie die professionelle Abwicklung von Anlegerprozessen durch Zivilrichterinnen und Zivilrichter, die im Verhandlungssaal zwei Streitparteien in der Stärke von jeweils einer Fußballmannschaft gegenübersitzen, während sie den Prozessstoff allein bewältigen müssen. Und umgekehrt schmerzt es alle, Staatsangestellte genauso wie Bürgerinnen und Bürger, wenn Wirtschaftsstrafverfahren über Jahre zu keinem Ende kommen, wenn Justizorgane Formalismus vor Inhalt stellen oder schlicht unfreundlich auftreten. Es ist unerträglich, wenn Polizeibeamte einen Asylwerber foltern oder einem jugendlichen Einbrecher in den Rücken schießen, ohne dass solche Vorfälle schnelle und ernsthafte Konsequenzen haben. Und die heutige Republik muss sich eingestehen, dass die Nachkriegsjustiz viele mutmaßliche Kriegsverbrecher in die Demenz statt in den Gerichtssaal begleitet hat. Man wünscht sich, dass staatliche Behörden und Organe lernen, sich bei den Opfern ihrer Fehler zu entschuldigen.

      Ich selbst habe meine lang hinausgeschobene Berufsentscheidung nie bereut. Die Überzeugung, an einer Verbesserung der gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen mitzuwirken, bildet einen starken Antrieb. Staatliche Strukturen lassen sich von innen und von außen modernisieren. Mich begeistert es, am Entstehen des europäischen Rechtsraums mitzuwirken. Es war spannend, eine Korruptionsstaatsanwaltschaft und Justizombudsstellen zu entwickeln. Die eigentliche richterliche Tätigkeit wiederum ist befriedigend, weil sie gestaltend ist. Während die Arbeit vieler Beamter mangels politischen Umsetzungswillens in der Schublade landet, sehen Richterinnen und Richter täglich die Früchte ihrer Arbeit. Jeder gelungene Vergleich, jedes erfolgreiche Mediationsverfahren, jede gut angenommene, weil gut begründete Entscheidung motiviert. In den von mir geführten Verfahren habe ich jedes Jahr mit rund tausend Menschen zu tun. Diesen Personen in für sie schwierigen Lebenssituationen menschlich zu begegnen und konstruktive Lösungen zu finden ist Herausforderung und Aufgabe.

      Unser Justizsystem verdient im internationalen Vergleich ein gutes Zeugnis. Die offenen Wunden indes dürfen über diese positive Bilanz nicht vergessen werden. Die Frage der Klassenjustiz bleibt aktuell. Sie lässt sich nicht vom Tisch wischen mit dem Argument, mit Geld sei man in unserem Gesellschaftssystem eben immer besser dran: Man bekommt die bessere Ausbildung, die bessere Gesundheitsversorgung und die bessere Rechtsvertretung. Es gibt eine Empathie- und Mitleidlosigkeit, mit der unsere Strafrechtspraxis Schwachen begegnet, der mit aller Kraft entgegenzuwirken ist. Woher kommt die oft in der Anwendung von Gesetzen zutage tretende verstörende Bösartigkeit staatlichen Handelns? Schlägt man da auf die ein, die sich nicht wehren können, weil man gegen andere nicht ankommt? Prügelt man die kleinen Gauner, weil man die großen nicht kriegt? Die kleinen Gauner melden keine Berufungen an. Sie drohen nicht. Sie kommen nicht mit Rechtsvertretern, die unzählige Anträge stellen, sodass der Richter oder die Richterin das Wochenende mit der Familie verliert. Die kleinen Gauner schicken einem keine Privatdetektive hinterher und machen einem generell selten das Leben schwer.

      Setzt man sich in den Verhandlungssaal eines Wiener Bezirksgerichts und hört sich einen halben Tag lang Strafverhandlungen an, so wird man Angeklagte sehen, die zu einem guten Teil psychisch krank oder sozial verwahrlost sind. Die Delikte liegen zum Großteil im Bagatellbereich. Es geht um den Diebstahl von Parfumtestern aus Drogeriemärkten, um die Beschädigung von Glücksspielautomaten, nachdem man in ein paar Minuten einige hundert Euro verloren hat, und Ähnliches. Wirft man einen näheren Blick auf die Biografien, so zeigen sich die immer gleichen Bilder: früher Verlust eines Elternteils, Tod eines Kindes oder Partners, Gewalterfahrungen. Das ist kein Plädoyer für die Straflosigkeit kleiner Vermögensdelikte, sehr wohl aber für verhältnismäßige Reaktionen darauf.

      Allein das Wort „Strafverfolgung“ ist für viele der betroffenen Menschen unpassend. Das amerikanische Wissenschaftsprojekt „We are all criminals“ dokumentiert, dass die laut Strafregister ihr Leben lang unbescholtenen Bürgerinnen und Bürger jede Menge Straftaten begangen haben. Unsere Praxis, sehr viel an Energie in die Aufklärung und Verfolgung kleinster Regelverstöße zu stecken, erscheint angesichts dieser Realität doppelt unsinnig. Unsere Gesellschaft, unser Staatssystem, unser Wohlstand sind von Vorgängen wie jenen rund um die Hypo Alpe Adria real bedroht; von einer Schwankung der Ladendiebstahlsstatistik um ein oder zwei Prozent bestimmt nicht.

      Mehrere Jahre Haft für einen Wirtschaftskriminellen sind unangemessen, heißt es oft. Es sei doch niemand verletzt worden, wo bleibe denn die Verhältnismäßigkeit zu Körperverletzungsdelikten. Ich antworte dann zumeist mit Geschichten aus meinem Gerichtsalltag, denn das erste Ziel muss sein, vergleichbare Delikte gleich zu behandeln.

      Zwei Fälle sollen das veranschaulichen. Da ist zunächst die junge Frau, die in Tschechien aufwächst und nach der Matura drogensüchtig wird, wir nennen sie Lena. Lena konsumiert jahrelang täglich ein Gramm Kokain oder Heroin. Trotz einer medikamentösen Entzugsbehandlung gibt es immer wieder Rückfälle. Ihre Drogensucht finanziert Lena durch kleine Diebstähle. Dafür wird sie in Tschechien 19-mal vorbestraft. Meistens werden Geldstrafen oder bedingte kürzere Freiheitsstrafen verhängt. 2008 fährt die damals 27-jährige Lena mit einer Freundin nach Österreich und begeht weitere Ladendiebstähle. Wieder sollen mit dem Gewinn Drogen für den Eigenkonsum angeschafft werden. Als die beiden Freundinnen erwischt werden, beträgt der Schaden an gestohlenen Kosmetika insgesamt 2900 Euro. Die Strafe dafür: drei Jahre und neun Monate Gefängnis.

      Lena hat den Eindruck, dass ihrer Pflichtverteidigerin der Fall egal ist. Die Verteidigerin verzichtet auf eine Berufung gegen das enorme Strafausmaß. Lena verbringt die folgenden Jahre in österreichischen Haftanstalten. Sie, offenkundig hoch begabt, spricht nach Selbststudium heute ein nahezu perfektes Deutsch. Auch in der Haft pflegt sie sich, liest, versucht, den Anschluss an das Leben draußen nicht zu verlieren. Ihre Familie lebt bei Prag. Einmal im Monat kommt ein Angehöriger nach Wien, um Lena zu besuchen. Lena ist sozial angepasst und selbstreflektiert. Und doch ist sie durch die Haft seelisch gebrochen. Das Urteil spricht davon, dass in diesem Fall nur eine drakonische Strafe helfe. Unter dem Strich: knapp vier Jahre Gefängnis für einen Schadensbetrag von weniger als 3000 Euro für eine junge Frau, die so ihre Drogenkrankheit finanziert.

      Oder eine Verhandlungssituation kurz vor Weihnachten. Zwei Angeklagte kommen in den Gerichtssaal: ein junger Bursch, nennen wir ihn Marko, und seine ebenfalls angeklagte Tante. Marko ist 16 Jahre alt, er besucht ein Gymnasium in Wien. Der Bericht der Wiener Jugendgerichtshilfe spricht davon, dass Marko mutmaßlich mehrere Jahre lang sexuell missbraucht wurde. Das Gericht möge das Thema nicht ansprechen, sondern eher eine Weisung zur Psychotherapie erteilen.

      Im


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