Mut zum Recht!. Oliver Scheiber

Mut zum Recht! - Oliver Scheiber


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      Die Schwierigkeit, die Beweise zu würdigen, wird hier richtig erkannt. Der Schluss, es sei einfacher und weiser, Amtspersonen zu glauben, ist freilich zynisch und würde den Rechtsstaat aus den Angeln heben. Die Lösung kann nur in einem möglichst gewissenhaften Vorgehen der Gerichte bestehen, in einer sorgfältigen Sammlung und Sichtung der zur Verfügung stehenden Beweismittel. Denn sie, die Gerichte, müssen entscheiden. Es fehlt ihnen die Möglichkeit, allzu diffizile Akten ins Feuer zu werfen, wie es eine von Anatole France in „Crainquebille“ referierte Anekdote über die Schwierigkeit der Wahrheitsfindung nahelegt:

       „Als Sir Walter Raleigh im Tower zu London gefangen saß und wie gewöhnlich an dem zweiten Teil seiner Weltgeschichte schrieb, entspann sich einmal unter seinem Fenster eine Schlägerei. Er sah eine Weile zu, und als er sich wieder an seine Arbeit setzte, war er überzeugt, die Streitenden genau beobachtet zu haben. Doch als er sich am Tag darauf über den Vorfall mit einem Freund unterhielt, der dabei zugegen und sogar daran beteiligt gewesen war, widersprach ihm der Freund in allen Punkten. Da bedachte er, wie schwierig es sei, die Wahrheit über ferne Ereignisse herauszubringen, wenn er sich schon bei dem getäuscht hatte, was sich unter seinen Augen zutrug, und er warf das Manuskript seines Geschichtswerks ins Feuer.“

      Anatole France widmet insgesamt drei von acht Abschnitten der Erzählung den Folgen, die sich für den Gemüsehändler aus seiner Gerichtsverhandlung und der kurzen, zweiwöchigen Haftstrafe ergeben. Die Überschriften dieser Abschnitte lauten: „Crainquebille und die öffentliche Meinung“, „Die Folgen“ sowie „Die Spätfolgen“.

      Die Frage nach Folgen und Wirkungen gerichtlicher Sanktionen hat bis heute Gültigkeit, durch die modernen Medien ist sie noch brisanter geworden. Allein schon die Tatsache, dass gegen jemanden Anklage erhoben wird oder er für einige Tage in Untersuchungshaft gerät, kann für den Betroffenen existenzbedrohende Folgen haben. Der Verlust des Arbeitsplatzes kann damit verbunden sein, jedenfalls aber eine Einbuße an Ansehen. Ein späterer Freispruch gleicht in den meisten Fällen das entstandene Unheil nicht mehr aus. Ein ausgewogenes Medienrecht und eine sensible Vorgangsweise der Justiz schaffen etwas Abhilfe.

      Für den Gemüsehändler Crainquebille führt die kurze zweiwöchige Haftstrafe letztlich zur Existenzvernichtung. Die zu Unrecht erfolgte Verurteilung beschädigt das Vertrauen seiner Kunden, Crainquebille ist wirtschaftlich vernichtet, er sinkt ab in Alkohol und noch tieferes Elend, als er es ohnedies sein Leben lang erfahren hat. Wenn wir von Justizirrtümern wie jenem im Fall Crainquebilles einmal absehen, so ist doch die Verhängung einer angemessenen Sanktion für ein strafbares Verhalten eine wesentliche Frage eines jeden Rechtssystems. Die vordringlichen Aufgaben des Strafrechts sind nach heute herrschendem Verständnis die Resozialisierung des Täters, die Schadensgutmachung und der angemessene Umgang mit dem Opfer und nicht, wie früher, der Rachegedanke oder gar die wirtschaftliche oder sonstige Vernichtung des Täters. Kurze Freiheitsstrafen, wie sie über Crainquebille verhängt wurden, sind schon lange als besonders ungünstige Strafform erkannt worden. Sie reißen, und das zeigt „Crainquebille“ sehr gut, den Betroffenen aus dem Arbeitsprozess, mit allen schwerwiegenden Folgen, ohne irgendetwas zum Positiven hin verändern zu können.

      Bereits 1975 war es bei der großen Strafrechtsreform in Österreich eines der vordringlichen Ziele, die kurzen Gefängnisstrafen durch andere Sanktionsformen wie Geldstrafen zurückzudrängen. Das ist damals gelungen, in den folgenden Jahrzehnten bis heute ist der Anteil der kurzen Gefängnisstrafen aber wiederum gleichgeblieben, trotz aller Versuche, diese Sanktionsform weiter zurückzudrängen. Noch immer sind zwei Drittel aller verhängten Gefängnisstrafen solche mit einer Dauer von unter sechs Monaten. Eine solche Zeit ist zu kurz, um während der Haft auf den Täter durch Therapien oder auf andere Weise resozialisierend einzuwirken, Arbeitsumgebung und private Beziehungen des Verurteilten werden aber nachhaltig und langfristig gestört. Der Gesetzgeber hat rund um das Jahr 2000 alternative Erledigungsformen eines Strafverfahrens geschaffen. So entfällt etwa das Urteil, wenn es in minderschweren Fällen zu einem Ausgleich zwischen Täter und Opfer kommt oder wenn der Beschuldigte gemeinnützige Arbeiten leistet. Dies war ein Schritt, kurze Gefängnisstrafen zurückzudrängen und andere, konstruktivere Sanktionsformen zu fördern.

       „Seine Unbeweglichkeit hatte etwas Übermenschliches; das Spiegelbild seiner Stiefel auf dem nassen Bürgersteig, der wie ein See aussah, verlängerte ihn nach unten und ließ ihn von Ferne wie ein amphibisches Ungeheuer erscheinen, das halb aus dem Wasser ragte. Aus der Nähe hatte er mit seinem Kapuzenmantel und seiner Waffe zugleich etwas Mönchisches und etwas Soldatisches. Seine derben Gesichtszüge, die durch den Schatten der Kapuze noch vergröbert wurden, nahmen sich friedlich und traurig aus.“

      Anatole France beschreibt mit dieser Schlusssequenz in „Crainquebille“ wohl das Frankreich während der Dreyfus-Affäre, wie er es erlebt hat: kraftlos, unbarmherzig, gleichzeitig traurig und schicksalhaft verwoben mit religiösen und soldatischen Kräften. France wurde sowohl von seiner Zeit als auch von der Nachwelt sehr oft als „mitfühlender Humanist“ beschrieben und geachtet. Mit seiner Erzählung „Crainquebille“ wird er zum Vorbild nicht nur für Kunstschaffende, sondern gerade auch für Juristinnen und Juristen.

      Wie steht es um die Verbindung von Kunst und Justiz in der Gegenwart? Sie soll über die bloße Organisation von Ausstellungen in Gerichtsgebäuden hinausgehen, denn die Wirkungskraft der Kunst ist enorm. Während meiner Tätigkeit im Büro der früheren Justizministerin Maria Berger (2007–2008) gelang es, den bekannten charismatischen brasilianischen Theaterpädagogen Augusto Boal zu einem öffentlichen Vortrag nach Wien einzuladen. Mehr als 400 Besucher und Besucherinnen kamen am 8. April 2008 in die Aula des Wiener Justizpalastes. Am Tag zuvor leitete Boal ein Seminar für Richterinnen und Richter. Knapp zehn Jahre später betraute mich der damalige Ressortchef Wolfgang Brandstetter mit der Ausrichtung eines Justizsalons im Justizministerium. Im Mai 2017 las Ilija Trojanow im Großen Festsaal des Ministeriums aus seinem Band „Nach der Flucht“ und sprach mit der NZZ-Korrespondentin Meret Baumann über das Buch.

      Als Leiter des Meidlinger Bezirksgerichts habe ich seit 2009 verschiedene Formate erprobt: etwa die Österreich-Premiere des Dokumentarfilms „Der Einzelkämpfer – Richter Heinz Düx“ von Wilhelm Rösing am Bezirksgericht Meidling. Heinz Düx hatte in den 1960er-Jahren als Untersuchungsrichter die deutschen Auschwitzverfahren vorbereitet und ermöglicht. Im Jahr 2012 kam Düx, bereits an die neunzig Jahre alt, nach Wien und sprach bei zwei Veranstaltungen vor mehr als 300 Personen. Etwa zur selben Zeit konnte ich mit dem Max Reinhardt Seminar ein eigens für das Bezirksgericht entwickeltes Theaterprojekt verwirklichen. Eine vom damaligen Regiestudenten Josua Rösing entwickelte dramatische Fassung von Kafkas „Die Verwandlung“ gelangte am Bezirksgericht mehrmals zur Aufführung. Der Publikumszulauf war beachtlich. Die Auftretenden Johanna Wolff, Konstantin Shklyar und Tino Hillebrand sind mittlerweile an großen Bühnen tätig. Hillebrand ist Ensemblemitglied des Burgtheaters, Regisseur Josua Rösing inszeniert derzeit in Berlin, Kiel, Regensburg und St. Petersburg. Das von Mira König gestaltete Bühnenbild wurde ein Jahr lang im größten Verhandlungssaal des Bezirksgerichts Meidling als temporäres Kunstprojekt erhalten. Jahre nach dem Kafka-Projekt konnte ich Josua Rösing für das erste gemeinsame Seminar für Verwaltungs-, Zivil- und Strafrichter gewinnen; im Herbst 2017 gestaltete er gemeinsam mit der Kulturwissenschaftlerin Judith Kohlenberger einen Workshop zum Thema der Wahrheitsfeststellung. Dabei zeigte sich die Wirksamkeit künstlerischer und interdisziplinärer Zugänge.

      Am Bezirksgericht Meidling finden nun seit zehn Jahren mehrmals jährlich öffentliche Veranstaltungen statt. Ein Abend über Europa mit Reden des mittlerweile verstorbenen großen Publizisten Ari Rath und der Schriftstellerin Jagoda Marinić im Mai 2016 stieß ebenso auf großes Interesse wie eine Werkschau des Malers Josef Schützenhöfer 2015/2016 und eine Ausstellung über Falco im Jahr 2018. Die Öffnung der Gerichtsräumlichkeiten trägt dem Gedanken Rechnung, dass Amtsgebäude der Öffentlichkeit gehören und Orte des Austauschs und der Diskussion sein sollen.

      Für die Grundausbildung der Richterinnen und Richter arbeite ich seit Jahren mit dem Schauspieler und Regisseur Nikolaus Habjan zusammen. Sein mit dem Nestroy-Preis ausgezeichnetes Stück „F. Zawrel – erbbiologisch und sozial minderwertig“ über die NS-Verbrechen am Spiegelgrund und ihre


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