Mut zum Recht!. Oliver Scheiber

Mut zum Recht! - Oliver Scheiber


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er Recht haben sollte gegenüber Männern in der Robe, deren Rechtsgründe er nicht verstanden hatte: Unmöglich konnte er davon ausgehen, dass etwas an dieser schönen Zeremonie nicht in Ordnung sein mochte. Denn da er weder in die Messe ging noch im Élyséepalast verkehrte, hatte er im Leben noch nichts so Schönes gesehen wie diese Verhandlung vor der Strafkammer.“

      Dieser kurze fünfte Abschnitt der Erzählung mit dem Titel „Von Crainquebilles Unterwerfung unter die Gesetze der Republik“ schließt an den ersten Abschnitt an, der nicht ohne Sarkasmus mit „Von der Erhabenheit der Gesetze“ bezeichnet wird. Hier, am Beginn der Erzählung, hebt der Autor das Einschüchternde an der Erscheinung von Gerichtssaal und Richtern hervor: die Verdienstorden, die der Richter in der Verhandlung trägt, die Büste der Republik und das Kreuz an der Rückwand des Verhandlungssaales. Crainquebille empfindet im Verhandlungssaal „den gehörigen Schrecken“, er ist, von Ehrerbietung durchdrungen, von Furcht und Schrecken überwältigt, bereit, die Entscheidung über seine Schuld ganz den Richtern anheimzustellen. Vor seinem Gewissen empfand er sich nicht als Verbrecher. Doch er spürte, wie wenig das Gewissen eines Gemüsehändlers im Angesicht der Symbole des Gesetzes und der Bevollmächtigten der rächenden Gesellschaft bedeutete: „In dieser Umgebung verschlossen ihm Ehrfurcht und Angst den Mund.“ In der Verfilmung der Erzählung wird die Übermacht des Gerichts mit – für die damalige Zeit beachtlichen – Trickeffekten versinnbildlicht, indem die Richter und der Polizeibeamte im Gerichtssaal zu Riesen werden.

      Die Erzählung spricht die Ähnlichkeiten zwischen Gerichtsverhandlungen und religiösen Zeremonien an. Beides rituelle Handlungen innerhalb entsprechender Baulichkeiten, wirken sie erschreckend und Ehrfurcht einflößend. Betrachten wir heute einen der historischen Verhandlungssäle des Obersten Gerichtshofs im Justizpalast in Wien, so können wir Crainquebilles Gefühle gut nachempfinden. Prunkvoll ausgestattete Räume mit stark erhöhten Richterbänken, womöglich zusätzlichen Schranken, die die Angeklagten oder Parteien des Verfahrens vom Richtertisch noch weiter abtrennen, dunklem Holz sowie staatlichen oder religiösen Symbolen sind durchaus in der Lage, eine faire Kommunikation erst gar nicht aufkommen zu lassen. Nach heutigem Verständnis verlangt ein faires Verfahren im Sinne der Menschenrechtskonvention wohl auch eine adäquate Ausstattung des Verhandlungssaals.

      In den letzten Jahren ist es durch eine nüchterne Gerichtsarchitektur zu einem gewissen Bruch mit der Vergangenheit gekommen. Gemeinsam mit diversen Änderungen der Prozessordnungen – Sitzgelegenheit für Angeklagte, Zeuginnen und Zeugen bei ihren Einvernahmen, Zurückdrängung der Beeidigung – führte dies zu einer neuen Kultur des Gerichtssaals, die modernen Vorstellungen von Justiz und Streitbeilegung angemessener ist. Fragt man Parteien und Zeuginnen sowie Zeugen, aber auch Geschworene und Schöffinnen und Schöffen nach ihren Eindrücken von Gerichtsverhandlungen, so hört man freilich nach wie vor viel zu oft, dass sie sich überfahren und in die Ecke gedrängt fühlten.

      Die Autorität muss jedoch nicht ganz ohne Insignien auskommen. Der Talar, den der Richter oder die Richterin in der Verhandlung trägt, kann für alle Beteiligten positiv wirken. Für Angeklagte im Strafprozess bzw. Parteien des Zivilverfahrens, weil er deutlich macht, dass der Richter und die Richterin Träger der staatlichen Macht sind. Auch wenn es in der Verhandlung zu einem ruhigen Austausch der Argumente zwischen Gericht und Parteien kommt, wird am Ende doch der Richter bzw. die Richterin eine Entscheidung treffen, die für alle verbindlich ist. Diese Hierarchie des Gerichtssaals bleibt durch den Talar für alle ständig präsent. Auch für die Richterinnen und Richter: Tragen sie den Talar, so verstecken sie sich zwar nicht hinter dem Gesetz, es wird aber auch für sie selbst deutlich, dass sie eine Rolle spielen, nämlich die eines Wahrers und Anwenders der Gesetze. Entspricht ein anzuwendendes Gesetz nicht der persönlichen Einstellung des Justizorgans, was zwangsläufig immer wieder vorkommt, so wird die Erfüllung der Aufgabe einfacher, wenn der Talar dem Richter bzw. der Richterin die Rolle als Amtsträger bzw. Amtsträgerin ins Bewusstsein ruft. Im Übrigen unterliegt auch die Haltung zu den Insignien der Macht der Mode. Es gibt Generationen von Richterinnen und Richtern, die ziemlich geschlossen den Talar tragen, dann wieder andere, bei denen sich der Talar geringerer Beliebtheit erfreut. In den österreichischen Gerichtssälen tragen die Richterinnen und Richter in Strafverhandlungen in der Regel den Talar. Die Zivilrichterinnen und Zivilrichter, vornehmlich der älteren und mittleren Generation, verhandeln auch gerne in ziviler Kleidung – und nehmen damit in Kauf, das Gesetz zu verletzen, das das Anlegen des Amtskleids (eines schwarzen Talars und einer Kappe, Barett genannt) vorschreibt und auch – freilich rein männerbezogen – Details nicht vergisst: „Zum Amtskleid sind zu tragen: ein Straßenanzug oder ein Anzug aus dunklem Stoff, schwarze Straßenschuhe, dunkle Socken oder Strümpfe, eine Krawatte aus schwarzem Stoff und ein weißes Hemd“, heißt es in der Verordnung des Bundesministeriums für Justiz vom 9. Mai 1962.

      Im Gerichtsalltag schätzen Angeklagte ihre Situation oft falsch ein. Der Verteidigung kommt daher besondere Bedeutung zu. Auch die Verteidigung neigt in manchen Fällen dazu, ihrer Mandantschaft vorschnell zu einem Geständnis zu raten. Nicht anders ergeht es Crainquebille: „Schon sein Anwalt hatte ihn halbwegs davon überzeugt, dass er nicht unschuldig war.“

      Crainquebille wird in der Verhandlung von seinem Pflichtverteidiger durchaus nicht ohne Engagement verteidigt. Der Verteidiger endet sein Plädoyer so:

       „Und selbst wenn Crainquebille ‚Scheißbulle‘ gerufen hätte, wäre es noch sehr die Frage, ob dieses Wort aus seinem Munde als strafbar anzusehen wäre. Crainquebille ist das uneheliche Kind einer in Lastern und Trunk vegetierenden ambulanten Händlerin und damit der geborene Alkoholiker. Sie sehen selber, welch ein Wrack sechzig Jahre Elend aus ihm gemacht haben. Meine Herren, sie werden ihm Unzurechnungsfähigkeit zubilligen.“

      Dieser argumentative Zug ist für Crainquebille einerseits demütigend, spricht er doch – bis dahin – keineswegs dem Alkohol zu. Auf der anderen Seite schöpft der Verteidiger, wie es seine Pflicht ist, damit alle Mittel aus, um Crainquebille eine Verurteilung zu ersparen.

      Crainquebille ist der Szenerie der Gerichtsverhandlung in keiner Weise gewachsen.

       „Der Vorsitzende, Herr Bourriche, widmete der Befragung von Crainquebille volle sechs Minuten.“

      Hält man sich die geringe Bedeutung der Sache, die Beleidigung eines Amtsorgans, vor Augen, so erscheinen die sechs Minuten für die Befragung gar nicht so kurz. Schwerer wiegt, dass es Crainquebille nicht gelingt, sich vor Gericht verständlich zu machen, und ihm der vorsitzende Richter keinerlei Hilfestellung leistet. So kommt es, dass der Richter die Verantwortung Crainquebilles in der Verhandlung als Geständnis wertet, wo doch Crainquebille versuchte, das Gegenteil zu artikulieren.

      Einer der Hauptpunkte jeder Justizkritik ist die für juristische Laien wenig verständliche Fachsprache. Es ist eine der größten Herausforderungen für die moderne Justizpolitik, hier bei Richterinnen und Richtern für eine andere Einstellung zu sorgen. Zweifellos, Fachausdrücke und Wortwiederholungen, die der juristischen Präzision dienen, sind unumgänglich. Auf endlose verschachtelte Sätze kann aber ebenso verzichtet werden wie auf veraltete, außerhalb des Gerichts ausgestorbene Begriffe. Im Ergebnis sind sie schlicht und einfach menschenfeindlich. Eine Gerichtsentscheidung wird für die Betroffenen unlesbar, wenn die Parteien des Prozesses darin nicht als „Herr Müller“ und „Frau Müller“, sondern, um ein Beispiel zu nennen, als „Antragsteller und gefährdete Partei“ und „Antragsgegner und Gegner der gefährdeten Partei“ bezeichnet werden.

      Die Verwendung der Fachsprache mitsamt dem ihr eigenen vertrackten Satzbau entspricht ohnedies mehr einer schlechten Tradition und dem Wunsch, den Bürgerinnen und Bürgern die Macht des Gerichts vor Augen zu führen, als irgendwelchen sachlichen Notwendigkeiten. Das mag bei anderen Berufen ähnlich sein, wirkt sich aber im Gerichtsalltag besonders schlimm aus: Wie muss sich der Angeklagte fühlen, der eine Urteilsverkündung nicht versteht? Wie fühlt sich die Partei eines Zivilverfahrens, die ohne anwaltliche Hilfe einen ihr zugestellten, für sie ganz wesentlichen Gerichtsbeschluss nicht deuten kann?

      Der Zugang zum Recht hat viele Facetten. Einige werden im Fall Crainquebille angesprochen: Zugang zum Recht bedeutet nicht nur, dass auch die Mittellosen die Möglichkeit haben, von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten vor Gericht vertreten


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