Von Blüten und Blättern. Elisabeth Göbel
Kinderbuch Ich sammle Wörter speichert Frederick, die Maus, im Sommer Wörter für den Winter, um in der dunklen Jahreszeit Farbe, Schönheit und Sonne zu haben. Die anderen Mäuse bunkern Futter.
3. Februar, Donnerstag
Als wir uns entschieden, von Berlin in mein Kleinmachnower Elternhaus zurück zu ziehen, haben wir eines nicht bedacht: die Topografie. Dass ich etwas weitere Wege gehen oder mit dem Rad fahren müsste, war kein Hinderungsgrund für den Wechsel. Wie unbequem die Wege hier draußen sein können, merkte ich erst, als ich sie regelmäßig befuhr oder beging. Unsere Straße hat eine leichte Wölbung von der Mitte zu den Rändern hin, die Gehwege fallen vom Zaun zum Bordstein etwas ab. Bei Glätte gibt es keinen zuverlässigen Halt unter den Füßen. Autofahrer merken das nicht, ich aber habe längst die Zäune kennen gelernt, denn bei der in diesem Winter häufigen Glätte bewege ich mich ganz am Rand – den auch die Hunde gerne nutzen –, wo ich mich zur Not an Drahtgittern, Eisenstangen oder Holzlatten festhalten kann. Dankbar bin ich den Anwohnern, die schon frühmorgens ein wenig Granulat, Sand oder, mir ist das egal, auch Blumenerde streuen. Die wenigsten tun es. Entweder, weil sie länger schlafen als ich oder weil sie sich nur vom Haus zur Garage bewegen müssen. So lerne ich in diesem Winter die Mitbewohner meiner Straße kennen. Die Frühstreuer, die Feger und Streuer, die Besenfeger oder die Schneeschieber und die Nie-Streuer.
Die Straße führt durch eine Senke, wo es noch Teiche und Tümpel als Überbleibsel einer eiszeitlichen Schmelzwasserrinne gibt. Wenn es getaut oder noch schlimmer, getaut und geregnet hat, geht mein Weg durch Pfützen und zentimetertiefen Matsch. Früher habe ich die Menschen im ländlichen Polen oder Russland bedauert, die so schwierige Wege zu beschreiten hatten, und ich erinnere mich, dass man auch bei uns die guten Schuhe in einem Beutel ins Theater oder in die Oper trug. Kaum habe ich aber die Grenze zu Zehlendorf überschritten, ist alles anders. Die Leute haben saubere Schuhe an, die Sonne scheint und trocknet alles rasch weg, und ich stehe da mit meinen Winterwanderstiefeln und komme mir vor wie eine aus der Provinz.
5. Februar, Samstag
Im Garten ruft ein Vogel mit einem hohen hellen Pfeifton und ich denke, ich sollte endlich die Vogelstimmen lernen. Melodien merke ich mir schlecht, aber die Erkenntnishilfen aus der Schulzeit weiß ich bis heute – Ida, wo kommst du her … (Schuberts Unvollendete), Der Graf hat sich in die Hosen ge … (Tannhäuser). So etwas müsste es doch auch für Vogelstimmen geben. Ich suche im Internet, wo man mir gute Ratschläge gibt: hören, erkennen, üben, wiederholen – und zahlreiche CDs werden angeboten. Er habe die Vogelstimmen wie Vokabeln gelernt, berichtete ein Vogelfreund, anders gehe es nicht, eine CD könne durchaus hilfreich sein. Ich habe es aber doch schon zur Schallplattenzeit versucht. Man hört draußen einen Vogel, denkt, so und so ging es, man geht ins Haus, legt die Platte auf, sucht den vermuteten Vogel, doch sowie man irgendein zutreffendes oder auch anderes Vogelgezwitscher vorgespielt bekommt, ist das zuerst gehörte Gartenlied vergessen. Wieder nach draußen – der Vogel ist natürlich weg. Die Schwierigkeit vergrößert sich durch die Tatsache, dass mitunter mehrere Vögel gleichzeitig quinquilieren und dass neben dem Morgen- oder Abendlied auch Lockrufe zu hören sind, außerdem Balzrufe und Warnrufe, und schließlich, dass sich Jungvögel anders anhören, weil sie noch am Lernen sind.
Ich greife erstmal zum Buch und werde fündig im altmodischen Brehm. Brehms Tierleben, Kleine Ausgabe für Haus und Schule von 1920. So sehr wird sich der Gesang der gefiederten Musikanten in knapp hundert Jahren ja nicht geändert haben. Oder doch? Stare, das weiß man, ahmen längst die Klingeltöne der Handys nach.
Also der Brehm. Ich richte mir ein Vogel-Vokabelheft ein.
Die Amsel. Ich zitiere. Die Amsel ruft trillernd »sri« und »tränk«, beim Anblick von etwas Verdächtigem aber schallend und gellend »dix dix«, worauf, falls Flucht nötig wird, ein hastiges »Gri gich gich« folgt. Der Amselgesang steht dem der Singdrossel kaum nach, hat mehrere Strophen von ausgezeichneter Schönheit, klingt aber nicht so fröhlich, sondern feierlicher oder trauriger … Hier versagt auch Brehm, eine phonetische Umschrift des Amsellieds bietet er nicht an. Wie aber singt die Drossel?
Alfred Brehm. Die Lockstimme der Drossel ist ein heiser pfeifendes, nicht weit hörbares »Zip«, an das häufig »tack« oder »töck« gehängt wird. Bei Erregung »styx styx«… Das Lied ist inhaltsreich, wohl- und weittönend. Mit flötenden Lauten wechseln auch schrillende, minder laute und nicht sehr angenehme Töne ab. Trotzdem ist das Drossellied fast so schön wie das der Nachtigall.
Das Lied der Nachtigall ist mir vertraut und auch dem Kuckuck sowie dem Zilpzalp –»zilpzalp«– muss ich nichts nachlesen. Sogar die Goldammer werde ich erkennen, denn Beethoven hat in der 5. Symphonie das »Schicksalsmotiv« G-G-G-Es ihrem Ruf nachempfunden. Leider war bisher noch keine Schicksals-Ammer in unseren Garten zu hören.
Hier noch ein Versuch des Diplombiologen Uwe Westphal über die Nachtigall; man lese es laut:
Ih ih ih ih ih watiwatiwatih!
hih titagirarrrrrrrrrr itz,
lü lü lü lü lü lü lü lü lü watitititi
Dadada jetjetjetjetjetjetjetjetjet
tütütütütütütü zatnzatnzatnzi,
zezezezezezzäzäzäzäzazazazi,
ji jih güh güh güh güh güh dalidowitz.
8. Februar, Dienstag
Die ersten Schneeglöckchen blühen und die Sonne scheint. Hier und da strecken schon Tulpen und Hyazinthen ihre Spitzen aus dem Erdreich heraus. Auch die Hamamelis verhält sich frühlingsgemäß. Wir reisen in die Türkei.
17. Februar, Donnerstag
Eine Woche lang blauer Himmel und der leise Atem der Brandung in der Nacht. Das Mittelmeer in schönstem Blau. Nun stehen ein paar Rosmarinzweige, ein Stiel rosa Pfeffer und ein Ölzweig mit schwarz glänzenden Oliven in einer Glasvase auf unserem Küchentisch. Im Garten hat sich nichts verändert, es blühen wie gehabt am Haus die Schneeglöckchen, während sie hinten unterm Pflaumenbaum erst ihre weißen Knöspchen ans Licht strecken, der Hamamelisstrauch leuchtet. Auch die Kornelkirsche, die Frühblüherin, zeigt gelbe Knospenbüschel, die sich bald öffnen werden. Überall auf dem Rasen liegen kleine und große Äste vom Baumschnitt herum, und die Unordnung in den Beeten ist auch noch lange nicht beseitigt. Wir frieren selbst im Haus und mögen nicht hinaus ins Freie gehen.
19. Februar, Samstag
Wie ein Gedicht entsteht. Günter Kunert erzählt in seinen Aufzeichnungen Die Botschaft des Hotelzimmers an den Gast, wie ihm bei einem Gang durch den Garten plötzlich ein Satz erscheint, der eine Gedichtzeile werden kann, ein Satz, der nicht »gedacht« wird, sondern irgendwoher aufsteigt: Die Toten hängen in den Bäumen. Eine Blase »aus dem Sumpf des Unbewussten«. Es folgt eine Assoziationskette – und vielleicht wird daraus, in winzigen Schritten, ein Gedicht.
Wenn ich im Garten umherschaue, fällt mein Blick auf die Fruchtmumien an den Zweigen der Apfelbäume, diese kranken, toten, schwarzen Schrumpfköpfe, und ich weiß, wie wichtig es ist, sie rasch zu beseitigen, ehe ihre Sporen Schaden bei der nächsten Ernte anrichten können. An ein neues Gedicht denke ich nicht, Kunerts Gedichtzeile geht mir trotzdem durch den Sinn. Zu dem mir fremden Satz des geschätzten Dichters gesellen sich die Bilder meiner Wahrnehmung: die Schneeglöckchenknospen unter dem noch kahlen Pflaumenbaum, die stahlblaue Kälte, die seit Tagen herrscht, die zarten Blütenfäden der Zaubernuss, die sich strecken und winden vor den jetzt rot gestrichenen Brettern vom alten Hühnerstall, und, wie gesagt, die toten Früchte im Apfelbaum. Meine Bilder – ich suche, was sie verbindet, denn erst, wenn etwas auftaucht, was eine innere Verbindung des scheinbar Unverbundenen schafft, entsteht das Surplus, der »Mehrwert«, den jede Geschichte, jedes Gedicht braucht.
Der