Das Duell des Herrn Silberstein. Horst Bosetzky

Das Duell des Herrn Silberstein - Horst Bosetzky


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Mundes …‹«

      Jason Silberstein lachte. »Bei den Christen klingt das noch viel schöner, da heißt es nämlich: ›Tue von dir den verkehrten Mund und lass das Lästermaul ferne von dir sein.‹ Aber das Lästermaul ist doch das Beste an mir, und Aarons zukünftiger Schwiegervater würde mir auf dieses Kapital sicherlich eine Menge Geld leihen, oder?«

      »Aber sicher.« Meir Rosentreter nickte. »›Wie von Fett und Mark ist gesättigt meine Seele, und mit Jubellippen lobsingt mein Mund.‹ Wir müssten nur sehen, dass es in einem der Romane zum Zuge kommt, die du schreiben wolltest.«

      Jason Silberstein winkte ab. »Ihr kennt doch den Ausspruch: A jid wet gicher a buch schrajbn ejder kojfn.«

      »Können wir bitte deutsch sprechen?«, bat Friedrich Silberstein.

      »Ja, Bruderherz. Also: Ein Jude wird ein Buch eher schreiben als kaufen.«

      »Das möchte ich für mich nicht gelten lassen, lieber Onkel«, sagte Aaron Silberstein. »Sieh dir meine Bibliothek mal an!«

      »Nu, das meiste wird Juristisches sein. Das zählt nicht.« Jason Silberstein ließ sich nicht beirren. »Und mein Bruder hat auch nichts Schöngeistiges im Schrank, sondern nur allerlei übers Bauen und die verschiedenen Baustile, während die Herren, die sich Kaufmann und Banquier nennen, ja unter Büchern etwas ganz Spezielles verstehen, sicherlich nicht den Werther

      Sowohl Tharah Seligsohn als auch Meir Rosentreter wehrten sich gegen diese Unterstellung, nutzten aber die lästerliche Bemerkung sofort, um auf Geschäftliches zu sprechen zu kommen. Mit anderen Worten: Sie begannen alle drei, heftig zu klagen – der Hausherr über den märkischen Landadel, der für seine Begriffe viel zu knauserig war, Friedrich Silberstein über die mangelnde Baulust der Berliner Bürger und Meir Rosentreter über die viel zu niedrigen Zinsen.

      »Uns allen könnte geholfen werden«, sagte Tharah Seligsohn. »Man bräuchte nur das zu tun, was ich euch schon seit langem vorschlage: Baut eine neue Synagoge in Berlin! Der eine entwirft sie, der andere bringt das Geld dafür zusammen. Und ich liefere die Stoffe für die Vorhänge und die Kleidungsstücke für Raw, Chasan und Schamasch.« Für Rabbiner, Kantor und Synagogendiener also.

      »Auf die neue große Synagoge in Berlin!«, rief Jason Silberstein. »Es ist doch immer wieder schön zu sehen, wie nützlich der Glaube für die Menschen ist.«

      Damit löste er bei den anderen erneut heftigen Widerspruch aus. Tharah Seligsohn warf ihm vor, einem »lästerlichen Rationalismus« anzuhängen.

      So ging das noch ein Weilchen, dann zogen sich alle zurück. Für Friedrich Silberstein und seine Familie gab es genügend Zimmer im Hause Seligsohn, während Meir Rosentreter und seine Tochter, auch aus Gründen der Schicklichkeit, sich in ein nahe gelegenes Hotel begaben.

      MEIR ROSENTRETER hatte seine Tochter in ihrem Zimmer abgeliefert und merkte, kaum saß er auf seiner eigenen Bettkante, dass er selber noch viel zu munter war, um ans Schlafen denken zu können, so anstrengend solch ein Sederabend auch war. Am liebsten hätte er sich, um sich von allem abzulenken, was ihn bedrückte, auf ein Glas Rotwein in ein gutes Restaurant gesetzt, doch das suchte man in Strausberg ganz gewiss vergeblich. Einen Nachtportier, den er hätte um Rat fragen können, gab es nicht, also nahm er seinen Schlüssel, griff sich eine Laterne, zündete sie an und machte sich einfach auf den Weg. Groß verlaufen konnte man sich in Strausberg kaum, zumal der Mond gerade durch die Wolken brach.

      Die Tuchmacherstadt machte einen recht wohlhabenden Eindruck. Seligsohn hatte erzählt, dass ihr aber eigentlich die Garnison das Gepräge gab. Doch es war längst Zapfenstreich und nirgendwo ein Soldat zu sehen. Nach einigen Schritten war Meir Rosentreter am Ufer. Dunkel und drohend und scheinbar endlos wie das Meer lag der See vor ihm. Kalte Nässe zog nach oben, und Rosentreter schien es, als sei sie ein Netz, von den Wassergeistern über ihn geworfen, um ihn einzufangen und zu holen. Schnell wandte er sich ab und lief die Große Straße stadteinwärts. Das Haus mit der Nummer 20 gefiel ihm ausnehmend gut. Er mochte klassizistische Fassaden und konnte nicht verstehen, dass man sich, wie bei den Seligsohns erzählt wurde, beim Bau von Synagogen heutzutage eher an maurische Vorbilder hielt.

      Im Mondschein wirkte die Marienkirche, obwohl eine Pfeilerbasilika und aus Feldsteinen errichtet, wuchtig wie der Kölner Dom. Wie gern hätte er sich hingesetzt und sie gemalt. Der Platz vor ihr war menschenleer. Kein Nachtbummler weit und breit, kein Nachtwächter, der seine Runden drehte. Gleich musste es zwölf schlagen, Mitternacht.

      Da hörte er plötzlich Schritte hinter sich. Er fuhr herum. Wer Geld verlieh und Jude war, hatte ständig auf der Hut zu sein. Doch den Mann, der nun in den Schein seiner Lampe trat, kannte er sehr wohl.

      »Sie folgen mir bis Strausberg …« Rosentreter war fassungslos.

      »Ich brauche dringend Geld!« So gedämpft die Stimme auch war – fordernder konnte der Ton nicht sein.

      »Wer braucht kein Geld«, murmelte Meir Rosentreter. »Sie wissen, was auf dem Spiele steht …«

      »ES IST EIGENTLICH eine böse Zeit! Das Lachen ist teuer geworden in der Welt, Stirnrunzeln und Seufzen gar wohlfeil.« So hatte Wilhelm Raabe Die Chronik der Sperlingsgasse beginnen lassen. »Die Menschen haben lange Gesichter und schwere Herzen, und wenn sich zwei Bekannte begegnen, zucken sie die Achsel und eilen fast ohne Gruß aneinander vorbei; – es ist eine böse Zeit!«

      Das fand auch Louis Krimnitz, als er am 4. März 1856, einem Dienstag, ruhelos durch die Berliner Innenstadt lief – den Mühlendamm entlang, durch die Spandauer-, die König- und die Klosterstraße. Was ihn trieb, wusste er nicht genau. Es war wohl ebenso die Angst vor dem Alleinsein wie die Hoffnung, per Zufall einem Menschen zu begegnen, der einen Auftrag für ihn hatte. Hier war die Chance am größten, denn zwischen Alexanderplatz und Schloss, Friedrichsgracht und Garnisonkirche war die Stadt am lebendigsten, hier war das Viertel des gewerbetreibenden Volkes und der Juden. Die Geschäftigkeit erinnerte ihn an einen Ameisenhaufen. Im Parterre gab es kaum Wohnungen, alles war zu Läden und Warenlagern umgewandelt worden. Selbst die vielen Bierlokale dienten weniger der Entspannung als dem Abschluss von Geschäften, zumindest vereinten sie das Angenehme mit dem Nützlichen. Die hier angesiedelten Gasthöfe wie der »Kronprinz« und der »König von Portugal« wurden überwiegend von Geschäftsreisenden frequentiert.

      Wer Louis Krimnitz zum ersten Mal sah, der hielt ihn für einen preußischen Landjunker, der nach Berlin gekommen war, um sich hier in den Weinstuben und den einschlägigen Etablissements kräftig zu amüsieren. Oder war er vielleicht doch einer jener neureichen Fabrikbesitzer oder Eisenbahnbauer, die dabei waren, die Welt zu erobern? Jedenfalls hatte er etwas an sich, das Ehrfurcht erheischte, und andere fühlten sich klein in seiner Gegenwart. Das hatte seine Ursache ebenso in seinem massigen Körper wie in seinem Blick, von dem die Freunde sagten, er sei der eines Dompteurs, vor dem im Zirkus die stärksten Löwen kuschten. Doch all das war Täuschung, war Maske und Fassade, denn in Wahrheit war Louis Krimnitz ein sehr unsicherer Mensch, immer auf der Flucht vor sich selber und getrieben von der Angst, wieder abzustürzen und dort zu landen, wo er hergekommen war: in der absoluten Armut.

      Am 12. November 1822 war er im Armenhaus des Städtchens Dramburg geboren worden, und seine Mutter, eine Magd aus einem nahe gelegenen Dorf, hatte drei Tage später Pommern auf Nimmerwiedersehen verlassen. Louis hieß er nach seinem Vater, einem französischen Matrosen, den seine Mutter in einem Stettiner Lokal kennengelernt hatte. Nach einer stürmischen Liebesnacht hatte er sich in Richtung Guyana davongemacht, und da man seinen Nachnamen nicht kannte, waren alle Nachforschungen im Sande verlaufen. So war es Louis’ Schicksal gewesen, ohne jede Nestwärme in diversen preußischen Waisenhäusern aufzuwachsen. Aber immerhin, verhungert und erfroren war er nicht, darüber hinaus hatte er lesen und schreiben gelernt, die grundlegenden Rechenkünste dazu. Selbst der Tatsache, dass er täglich mehrfach geschlagen worden war und man ihn zur Strafe immer wieder in dunkle Keller gesperrt hatte, vermochte er im späteren Leben einiges abzugewinnen: Gelobt sei, was hart macht. Er konnte sich quälen und schinden wie kein Zweiter und schaffte, nachdem er seinen Militärdienst abgeleistet hatte, den Aufstieg vom Tagelöhner


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