Beutewelt VI. Friedensdämmerung. Alexander Merow
öffnete die Bierflasche und nahm einen kräftigen Schluck. Er genoss das kühle Nass, das seine Kehle hinunterlief. Die Flasche leer saufen und dann einfach weiter pennen, dachte er sich. Den Fernseher ausgeschaltet lassen, all den Mist verbannen. Endlich Frieden – das wäre wundervoll.
Der Bürgerkrieg tobte noch bis Mitte des Jahres 2042. Dann hatte die Volksarmee der Rus auch die letzten Widerstandsnester der Kollektivisten im Osten Russlands und in der Ukraine eingenommen. Am Ende dieses gewaltigen Ringens war die KVSG endgültig zerschlagen worden. Inzwischen hatte Artur Tschistokjow seinen Regierungssitz nach St. Petersburg, der neuen Hauptstadt des Nationenbundes der Rus, verlegt und Tausende von Arbeitern waren mit dem Bau eines gewaltigen und prunkvollen Präsidentenpalastes beschäftigt. Der ehemalige Gassenrevolutionär aus Weißrussland herrschte nun über ein riesiges Gebiet mit etwa 150 Millionen Einwohnern, das sich vom Baltikum bis zum Ural und der Küste des Schwarzen Meeres ausdehnte. Tschistokjow war in den letzten Jahren von einem einst verlachten Dissidenten und Rebellenführer zu einem unabhängigen Herrscher aufgestiegen.
Jetzt setzte er alles daran, seine Versprechen vom Wiederaufbau Russlands wahr werden zu lassen. Der neue Machthaber des Nationenbundes hatte bereits gewaltige Bauprojekte beginnen lassen, als der Bürgerkrieg noch an den Grenzen Russlands tobte. Zahlreiche Industrieanlagen wurden nun nach und nach wiedereröffnet, Dörfer und Gehöfte neu gegründet und die Jugend in seinem Sinne erzogen.
Mittlerweile verfügte Artur Tschistokjow über enorme Ressourcen an Bodenschätzen und Rohstoffen, die er für den Wiederaufbau seines Landes verwendete. Die vom Bürgerkrieg verursachten Schäden wurden behoben und das Arbeitsbeschaffungsprogramm der Freiheitsbewegung verschaffte Millionen Russen bereits nach wenigen Monaten wieder Lohn und Auskommen, was Tschistokjows Beliebtheit beim Volk nicht nur steigerte, sondern eine regelrechte Euphorie auslöste.
Innerhalb der Grenzen des Nationenbundes lebten inzwischen nur noch Russen und andere Europäer. Alle sonstigen Fremden hatte Tschistokjow ausweisen und umsiedeln lassen, so wie er es schon vor Jahren angekündigt hatte.
Weiterhin war der Scanchip abgeschafft und das Bargeld wieder eingeführt worden. Im Grunde tat der Anführer der Rus das, was er im Kleinen auch nach der Revolution in Weißrussland unternommen hatte, um das Land wieder auf die Füße zu stellen. Nur dass er jetzt über kein unwichtiges Fleckchen Erde, sondern über eines der größten Länder der Welt herrschte und endlich seine visionären Ideen verwirklichen konnte.
Tschistokjow sprach von einer ganz neuen Hauptstadt des Nationenbundes, die er eines Tages gründen wollte. Er dachte über die Wiederbelebung der Raumfahrt nach, redete vom Aufbau neuer Dörfer, die nur zur Ansiedlung junger russischer Familien gedacht waren, und von der Förderung der besten und begabtesten Teile seines Volkes durch eine neue Bevölkerungspolitik.
Doch immer wieder wurde er von der harten und nüchternen Realität aus seinen Träumen gerissen, denn von solchen Dingen war das gebeutelte Land, welches nach Bürgerkrieg und Kollektivismus in weiten Teilen einer trostlosen Einöde glich, noch meilenweit entfernt.
Die Weltregierung und die internationalen Medien standen dem neuen Russland erwartungsgemäß mit unversöhnlichem Hass gegenüber und verteufelten es tagtäglich. Artur Tschistokjow war in ihren Augen mittlerweile ein noch gefährlicherer Gegner als der japanische Präsident Matsumoto geworden. Doch die Mächtigen mischten sich zunächst nicht in die innerrussischen Angelegenheiten ein und beäugten den neuen Staat, der sich feierlich aus dem Weltverbund verabschiedet hatte, lediglich mit Zorn und Argwohn.
Der Grund dafür war leicht zu erkennen, denn in Indien und Westchina war die schreckliche ODV-Seuche noch immer auf dem Vormarsch. Sie zog die Aufmerksamkeit der Logenbrüder auf Asien, wo die zwei bevölkerungsreichsten Länder der Erde inzwischen von einem Massensterben apokalyptischen Ausmaßes ergriffen worden waren und es täglich zu neuen Unruhen und Hungerrevolten kam.
Frank Kohlhaas hatte in den letzten sechs Monaten die schönste Zeit seines Lebens verbracht, wie er immer wieder betonte. Seine Freundin Julia Wilden, sein kleiner Sohn Friedrich und er verbrachten wundervolle, sorglose Wochen und pendelten des Öfteren zwischen ihrem Heimatdorf Ivas in Litauen und ihrer Zweitwohnung in Minsk. Julia unterrichtete mittlerweile wieder in der kleinen Dorfschule von Ivas und setzte ihr bereits vor dem Bürgerkrieg begonnenes Pädagogikstudium an der Universität von Minsk fort. Frank, als führender General der Warägergarde, hatte in diesen Tagen indes nicht viel zu tun und er hoffte, dass es auch so bleiben würde.
Im April 2042 hatten sie Artur Tschistokjow in St. Petersburg besucht und die riesige, schöne Stadt mehrfach besichtigt. Franks Sohn hatte sich inzwischen zu einem kleinen Wonneproppen entwickelt und es beeindruckte seinen Vater immer wieder, wie wissbegierig der blonde Junge durch die Welt ging.
Friedrich lernte immer schneller sprechen und auf ihrer Reise nach St. Petersburg hatte er seine glücklichen Eltern stets mit zahllosen, kindlichen Späßen zum Lachen gebracht. Ansonsten unternahm Familie Kohlhaas kleinere Ausflüge mit ihrem Freund Alfred Bäumer und seiner Lebensgefährtin Svetlana, denen man die Freude über den endlich eingekehrten Frieden ebenfalls deutlich anmerkte.
Und auch Thorsten Wilden, Julias Vater und der Außenminister des Nationenbundes der Rus, war in den letzten Wochen häufiger bei seiner Familie in Litauen gewesen. Er brach regelmäßig in Begeisterungsstürme aus, wenn sein kleiner Enkel wieder ein neues Wort gelernt hatte.
Es gab in diesen Tagen kaum einen Zweifel daran, dass Russland eine Periode des Aufbruchs erlebte, wie es sie seit Jahrhunderten nicht mehr gegeben hatte. Abgesehen von der bösartigen Hetze gegen den neuen Staat in den internationalen Medien, die Artur Tschistokjow immer wieder kränkte, machte es den Anschein, als ob das Glück diesmal von Dauer sein würde.
Die Erinnerungen an den verheerenden Krieg zwischen den Rus und den Kollektivisten, der die Heimat jahrelang gepeinigt und verwüstet hatte, blendeten die meisten Russen so gut es ging aus und labten sich an der wesentlich erfreulicheren Gegenwart und dem lange herbeigesehnten Frieden.
Es wirkte in diesen Tagen tatsächlich so, als ob das neue Russland auch in Zukunft ein Ort der Freiheit bliebe, denn trotz der ewigen Verleumdungen durch die von den Logenbrüdern gesteuerten Medien, hatten diese wenig Möglichkeiten sich einzumischen. Einen Angriff auf Tschistokjows Reich schien die Weltregierung nicht mehr zu planen. Der Global Bank Trust, ihre höchste finanzielle Instanz, bekam indes keinen einzigen Globe mehr aus Weißrussland, Russland, der Ukraine und dem Baltikum. Tschistokjow pumpte die Einnahmen des Nationenbundes stattdessen zu einem beträchtlichen Teil als Subventionen für die Industrie oder für öffentliche Aufbaumaßnahmen zurück in sein Volk.
Der wirtschaftliche Aufstieg gab ihm Recht und durch die fast vollständige Beseitigung der Arbeitslosigkeit und die Einführung eines komplexen Sozialversicherungssystems, schenkte er Millionen seiner Landsleute einen Lebensstandard, den sie sich niemals erträumt hätten.
„Russland hat genügend Mittel, um sich eines Tages vollständig selbst versorgen zu können. Dem entsprechend müssen wir Industrie und Gewerbe in diesem Sinne so früh es geht umstellen. Außerdem werden wir vom Weltverbund ohnehin wirtschaftlich isoliert. Es bleibt uns demnach auch nichts anderes übrig, als das zu tun. Zumindest aber haben wir Japan als Handelspartner“, erklärte der Politiker seinen Beratern und setzte seine erfolgreiche Politik fort.
Die warmen Strahlen der Julisonne kitzelten Franks Nase und dieser räkelte sich zufrieden auf seiner bequemen Gartenliege. Er schob seinen Strohhut noch ein wenig weiter ins Gesicht, um dann leise zu gähnen. Ganz Ivas war in einen sonnigen Schein gehüllt und heute galt es, wieder einmal nach Strich und Faden im blühenden Vorgarten der Familie Wilden zu faulenzen.
„Hach!“, stieß Bäumer zufrieden aus. Er holte sich noch ein kaltes Bier aus der Kühlbox neben seiner breiten Liege, während sich Svetlana an ihn schmiegte.
„Ich könnte hier den ganzen Tag rumhängen“, bemerkte Frank, wobei er sich am Bauch kratzte.
„Dein Freund ist eine faule Sack“, scherzte Svetlana, sich an der deutschen Sprache versuchend.
„Ja, faul sein ist unser neues Lebensziel. Wusstest du das etwa nicht, Schatz?“, brummte Alf und nahm einen kräftigen Schluck Bier