Streben nach der Erkenntnis. Klaus Eulenberger
Erstaunt, aber willig, reichte Vater ihr den Briefinhalt. Danach war längere Zeit Ruhe. Mutti las und Vater ärgerte sich schrittweise offensichtlich immer mehr. „Nun gib mal her oder lies vor! Du denkst wohl, ich hab nicht mitbekommen, wie vorwurfsvoll du vorhin geschaut hast, nur, weil ich ein bisschen überlegt habe. Jeder Mensch hat das Recht, auch mal in sich zu gehen. Schließlich war ich dort angestellt und nicht du. Lies endlich vor!“
„Herbert, die von Heilbronn loben dich über den grünen Klee, haben dich aber entlassen!“
„Gretel, jetzt langt’s! Du liest jetzt vor – aber ohne zu kommentieren! Denken kann ich schließlich selbst!“ Er sah, dass ich zusah und zuhörte und gab, ziemlich barsch, an meine Adresse von sich: „Weißt du, Klaus, man darf es, also, ich meine, wir Männer, dürfen es nicht mit der Gleichberechtigung der Frauen übertreiben. Du siehst ja hier selbst, was da für emanzipatorische Vorherrschaftsgebaren entstehen. Du solltest dir das für die Zukunft merken!“ Mutti schüttelte ziemlich energisch den Kopf, wollte kontern, aber man spürte, dass ihr der Inhalt des Briefes jetzt wichtiger war. Sie begann: „Hier erst mal das Zeugnis, Herbert“, sah mich an und ergänzte, „und Klaus. Herr Herbert Eulenberger, geboren 21. 11. 1908, stand vom 1. März 1938 bis zu seiner Einberufung zur Wehrmacht im September 1939 als fest angestellter Reisender in unseren Diensten … wurde er mit unsere Vertretung in Chemnitz betraut. Während seiner, leider nur eineinhalbjährigen praktischen Tätigkeit für unsere Firma hat sich Herr Eulenberger als geschickter Verkäufer erwiesen, der infolge seiner Beliebtheit bei der Kundschaft ansehnliche Umsätze erzielte. Seine Haltung war stets einwandfrei, auch seine verbindliche Art im geschäftlichen Verkehr mit der Leitung unseres Außendienstes war erfreulich. Wir hegten die Erwartung, dass sich Herr Eulenberger zu einer unserer besten Reisenden entwickeln würde. Leider unterbrach der Krieg den weiteren Einsatz. Die wirtschaftlichen Verhältnisse haben sich zu unserem Bedauern nach Kriegsende so entwickelt, dass wir uns gezwungen sehen, Herrn Eulenberger, wie die meisten früheren Mitarbeiter im Außendienst nach ihrer Rückkehr aus der Gefangenschaft zu entlassen. Wir wünschen Herrn Eulenberger alles Gute für seinen ferneren Lebensweg.“
„Mensch, Vater, du musst ja wirklich richtig gut gewesen sein!“, entfuhr es mir. Ich sah, dass Vater sich über meine Bemerkung freute. „Schau mal hier, Herbert“, sie hielt ihm das Papier vor die Nase, „hier in deinem Anstellungsvertrag. Erstens … erhält gegen Erfüllung der Vertragspflichten ein monatliches Gehalt von RM 350 und zweitens an Reisearbeitstagen folgende Spesen: RM 4 bei Tätigkeit am Wohnort einschließlich der Auslagen für Straßenbahn, RM 5 für Abstecher in die Umgebung, wenn abends Rückkehr zu dem Wohnsitz möglich ist, RM 10 für eigentliche Reisetouren, wo auswärts übernachtet werden muss. Außerdem vergüten wir das Eisenbahnfahrgeld 3. Klasse.“
Als ich jetzt diese Zeilen schrieb, musste ich schmunzeln. Die 3. Klasse gibt es schon lange nicht mehr. In Gedanken sah ich ganz deutlich deren herrlich körpergerecht geformten Sitze aus meist hellem, tadellosen Holz und darüber die grünen Netze, die in Stahlhalterungen hingen. Meine Frau erzählte mir, dass, wenn sie an die Ostsee fuhren, diese Netze nicht für Koffer genutzt wurden. Vielmehr legte ihre Mutti Decken darauf und sie konnte wunderbar süß neben ihrer ein Jahr jüngeren, vierjährigen Schwester bis nach Rostock schlafen.
Die Diskussion um Vaters hervorragende Leistung bewegte mich und veranlasste mich zu der Bemerkung: „Das wird ja immer toller, Vater – Respekt! Deine Arbeit wird ja enorm anerkannt. Aber sag bitte mal: Ihr habt da also in der Firma Weber und Knorr nichts hergestellt, ich meine, keine Produkte gefertigt?“
„Aaaaber, Klaus, die Firma Weber stellte buntes Glas her, für verschiedene Anwendungen, und die Firma Knorr Fertigsuppen, Maggi, Knorrsauce, Salatkrönung, Spaghetti, während des Krieges Zichorie als Kaffeeersatz und vieles andere mehr.“
„Ja, ja, Vater, aber du hast sie nur vertrieben?“
„Na klar, das war aber schwierig genug und verlangte immer eine enorme und vor allem geschickte Überzeugungsarbeit. Wie kommst du denn darauf?“
„Der Herr Jesus, dein Freund, erzählte unlängst in der Schule, wie wichtig es ist, Produkte herzustellen, die das Land braucht – von Brot und Brötchen über technische Geräte bis hin zu Autos und so weiter. Er sprach auch über den Vertrieb dieser Waren und wie wichtig der Handel sei. Doch prägte er auch den Satz: Allerdings ist es so, dass man mit Handel und Wandel immer mehr Geld verdienen kann als mit richtiger, ehrlicher Arbeit!“ Vater überlegte, zog plötzlich den Unterkiefer nach unten, verkniff die Augen und zeigte ein unheimlich beleidigtes Gesicht. „Also, Kleener, werde erst einmal erwachsen und leiste selbst etwas! Da wirst du sehen, wie schwer das ist! Eigentlich eine Frechheit von dir! Die Firma Knorr hatte einen Bienenkorb, Symbol für ein „fleißiges Völkchen“ als Markenzeichen der Firma und so handelten wir alle, ob sie nun in der Fabrik etwas herstellten oder vertrieben! Ende, Schluss!“ Schlagartig wurde ich mir der Bedeutung meines Satzes bewusst – obwohl, ich hätte ihn in jedem Fall angebracht, da er mir so gefiel und ich mein Wissen auch loswerden wollte. Mutti schaute, etwas besorgt und ängstlich, auf Vater und versuchte, die gerade wunderbare Stimmung, die in extremem Lob der Leistung meines Vaters gipfelte, zu bewahren. „Klausmann, ob nun Herstellung von Erzeugnissen bzw. deren Vertrieb – es muss alles mit Fleiß, Geschick und Intelligenz in die Reihe gebracht werden!“ Etwas kleinlaut warf ich ein: „Ja, ja, Mutti und Vati, das ist keine Frage! Ich wollte nur den Satz vom Jonas, der ja nun wirklich euer Freund ist, loswerden.“ Schon ein klein wenig besänftigt meinte Vater: „Mit dem Kerl werde ich ein ernstes Wörtchen zu reden haben! Machen wir doch einfach mal weiter mit dem anderen Schreiben, Gretel. Während ihr diskutiert habt, habe ich parallel mal weiter geblättert. Das ist ja mehr als beeindruckend, wie die Firma Knorr zu ihren Mitarbeitern – und das war alles vor dem Krieg – steht! Wahnsinn!“
Dieses Schreiben der Firma Knorr vom 4. Februar 1948 liegt nach 66 (!!!) Jahren jetzt vor mir. Es ist wirklich mehr als beeindruckend. Damit ich nicht wieder versucht bin, so viel zu kommentieren, gebe ich hier die wesentlichsten Inhalte wieder. Nachdem wir seit Jahren ohne jedes Lebenszeichen von Ihnen waren, war uns Ihre Nachricht, dass Sie jetzt endlich aus russischer Gefangenschaft zurückgekehrt sind, eine rechte Freude. Leider müssen wir aber nach unseren bisherigen Erfahrungen die Befürchtung hegen, dass Sie nicht ohne gesundheitlichen Schaden die Leidensjahre überstanden haben. Wir wünschen Ihnen aufrichtig, dass Sie körperlich sowie seelisch die Widerstandskraft aufbringen mögen, um nun auch die tiefgreifenden Veränderungen, die inzwischen in unserer Heimat stattgefunden haben, zu verkraften und den Anschluss an das neue und so viel schwerere Leben in dem zertretenen Deutschland finden. Wie aus Ihren Zeilen hervorgeht, haben Sie sich schon ohne jede Illusion den nüchternen Einblick in die jetzigen Verhältnisse verschafft und entheben uns damit der schweren Aufgabe, Sie von der vorläufigen Unmöglichkeit einer Weiterbeschäftigung zu überzeugen. Unser Heilbronner Werk ist zwar mit einem 50-prozentigen Kriegsschaden über das Kriegsende hinweggekommen. Werk Posen und unsere sämtlichen Läger haben wir verloren. Von unserer Berliner Tochtergesellschaft sind wir getrennt, von Wales ganz abgeschnitten. Wie Sie schon haben feststellen können, ist die russische Zone für uns wie ausländisches Gebiet in das wir nicht liefern dürfen und nicht liefern können. Der Einsatz von Reisenden in der russischen Zone wäre ein Unsinn. Von unserem früheren Reisenden Kuhn in Gotha werden Sie von uns auch noch die Übergangsentschädigung erhalten. Wir haben aus vorstehenden Gründen weder heute noch in absehbarer Zeit eine Beschäftigungsmöglichkeit für Sie und müssen Ihnen deshalb mit diesem Schreiben unsere Kündigung aussprechen. Obwohl die Verhältnisse es verbieten, dass Sie ihre Arbeitskraft unserer Firma während der Kündigungszeit zur Verfügung stellen, gewähren wir Ihnen nach unseren Richtlinien für die Dauer von vier Monaten eine Übergangsentschädigung in Höhe von 75 Prozent Ihres letzten Bruttogehaltes von RM 350, also brutto RM 262,50.
Von diesem Stil, von dieser Kultur der Firma Knorr bin ich ganz einfach beeindruckt. Man muss sich das einmal überlegen. Es waren fast sechs Jahre Krieg. Da erinnert sich diese Firma noch ihrer Mitarbeiter, einverstanden, mein Vater war mit ihnen in Kontakt getreten – trotzdem! Wenn ich da an die heutige Zeit denke, an den politischen Konkurrenzkampf, an das Wort Ego, welches bei 99 Prozent der Geschäftsführer auf der Stirn geschrieben steht. Zur jetzigen Zeit hätte, schlitzohrig, wie die meisten sind, teilweise korrupt, nur an sich