Streben nach der Erkenntnis. Klaus Eulenberger

Streben nach der Erkenntnis - Klaus Eulenberger


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und mir freundlich die Hand drückte. „Ach, der Klaus ist wieder einmal da. Da wird sich deine Mutti freuen.“ Diese kam auch gleich von einem hinteren Raum hereingestürmt und drückte mir zwei schmatzende, sehr feuchte Küsse auf die Wange. „Du sollst dich doch nicht immer nach jedem Kuss abwischen, noch dazu, wenn er von deiner Mama ist, Klausmann, das beleidigt mich. Ich bin doch deine liebe Mutti.“

      „Das hat doch damit nichts zu tun. Es ist einfach ekelig – diese Spuckeschmiererei!“ Mutti schaute sehr gekränkt und wollte etwas erwidern – da ging die Tür auf und ein Schwall an begeisterten Reden, enthusiastischem Gezwitscher, Tatütata erfüllte den Raum. Tante Ursula schaute äußerst missbilligend, da sie in ihrer Arbeit gestört wurde. „Hier ist das Gemeindeamt und kein Tollhaus! Ich brauche Ruhe zum Arbeiten! Der Umsatzplan für das laufende Jahr muss morgen stehen!“ Dagegen schauten Mutti und ich fasziniert auf die zwei jungen Frauen, die, wie im Theater hergerichtet, aufgeregt und vergnügt herumtobten. Wie sich herausstellte, war die eine die Susi, des Bürgermeisters Jupp junge Frau. Wie mir Mutti später erzählte, war sie erst Mitte zwanzig und damit zirka zwei Jahrzehnte jünger als er. Sie hatte sich als Schulmädchen verkleidet und sah wahnsinnig adrett aus. Mir gefiel sie sehr. Die Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, Lippen, Wangen, Augenbrauen und Lider stark übertrieben geschminkt. Besonders gefiel mir aber ihr äußerst kurzes Faltenröckchen, knallgelbe Absatzschuhe mit vielleicht fünfzehn Zentimeter Länge. Sie hatte lange, schlanke Beine und dies gefiel sogar mir jungem Knirps. Auf dem Rücken trug sie einen Schulranzen, drehte und wiegte sich in den Hüften aufgeregt hin und her. „Komm, Gretel, du musst dich auch arrangieren! Heute ist Fasching und bei Leistners eine große Fete. Die ist aber erst heute Abend. Jetzt gehen wir erst einmal hübsche Männer küssen und an Haustüren Lieder singen und Bettelverse vortragen. Vielleicht bekommen wir zur Belohnung eine Praline oder einen feinen Likör.“ Die andere Junge bewegte sich ähnlich, ließ aber die Susi reden. Sie war ganz anders gekleidet – hatte lange dunkle Hosen an, darunter aber auch Absatzschuhe, die knallrot waren. Oben trug sie eine Jacke mit senkrechten roten und schwarzen Streifen und um den Hals wiederum ein knallrotes Tuch. Auf dem Kopf war eine Schärpe, seitlich gebunden. Der Rest dieser Schärpe hing bis auf eine Schulter herab. Nun kam das ganz Fantastische – das rechte Auge war mit einer schwarzen Binde verschlossen, wobei die Bänder, die diese Binde hielten, diagonal um den Kopf verliefen und offensichtlich hinten verknotet waren. Noch verrückter war, dass sie in der Hand eine Pistole hielt. In meiner Fantasie sah ich ein Schiff mit einer Meute an Seeräubern. Geschminkt war sie wie Susi, vielleicht noch auffälliger. Nachdem die beiden so erst einmal im Vorraum für Aufregung und Furore gesorgt hatten, stürmten sie am Tresen vorbei in die Arbeitsräume. Als Erstes kam Ursula an die Reihe. Sie erhielt von Susi einen schmatzenden Kuss auf eine Wange. Ursula war sichtlich erschrocken (hätte sie die Attacke rechtzeitig gemerkt, wäre sie sicherlich davongerannt oder hätte ihr Gesicht mit beiden Händen zugehalten), lachte aber (mir kam es etwas pflichtgemäß vor) und flitzte zum Spiegel, wo sie sofort mit Taschentuch und Spucke das kirschrote Etwas wegzumachen versuchte. Dann war ich dran. Die andere, Muttis Freundin Zielonka, Anne, kam zu mir geflitzt, gab mir zunächst die Hand, dann aber blitzplatz hatte ich auch, und zwar rechts und links, einen knallroten Mund als Abdruck auf meinen Wangen. Mutti sah zu, lachte und war sehr fröhlich. Anschließend ließ sie sich auch von Susi auf beiden Wangen markieren und fragte, ich fand, etwas zappelig: „Weiß denn dein Mann, der Jupp, davon, was du vorhast? Er ist doch zurzeit zu einer Weiterbildung in Chemnitz.“

      „Liebste Gretel, was redest du denn jetzt über meinen Mann? Heute zum Faschingsdienstag geht es doch nur um uns, viel Spaß, tanzen und schönen Wein trinken.“

      „Susi und Anne, ihr dürft aber nicht vergessen, dass die Ursula und ich hier stramm zu arbeiten haben.“ Ursula nickte energisch und pflichtgemäß. „Genau so ist das!“

      „Ich will euch beiden Superbeamten nur mal Folgendes sagen. Bei uns im Rheinland machen Leute wegen Fasching drei Wochen Urlaub. Ihr könnt ja mal den Jupp dazu fragen. Da machen wir es eben so – jetzt ist es 13 : 00 Uhr. Ihr beiden macht 14 : 00 Uhr Schluss und arbeitet später die zwei Stunden nach.“ Sofort rief Ursula aufgeregt: „Mit mir auf keinen Fall! Ich habe den Termin vom Kreisamt bis morgen! Lasst mich bitte in Ruhe mit eurem Rumgespringe und dem Getöse. Ich habe daran absolut kein Interesse!“ Jetzt zwitscherten die beiden jungen Damen. „Aber du, Gretel, auf jeden Fall bist du dabei. Wir haben uns auch schon überlegt, als was du gehen solltest.“

      „Ja, das interessiert mich.“

      „Du könntest als Spanierin gehen. Ich habe in unserer Wohnung dazu fast ein komplettes Kostüm liegen. Freust du dich?“

      Am nächsten Tag hatten wir erst 10 : 00 Uhr Schulbeginn, da die Schabracken erkrankt war. Im Allgemeinen weckte mich Mutti, wir frühstückten zusammen, danach marschierte sie in das Gemeindeamt und ich in die Schule. An diesem Morgen war offensichtlich alles anders. Ich wurde durch lautes Rufen und Klopfen an unser Fenster in der Stube im Erdgeschoss geweckt, sah, wie sich Mutti aus dem Bett quälte, dabei stöhnte und ächzte. Sie ging zu dem Fenster und öffnete es. Draußen stand, vollkommen aufgeregt und aufgelöst, Ursula. „Gretel, die ersten Bauern sind schon da. Um Himmels willen – was ist denn los mit dir?“ Mutti stand da wie eine Bogenlampe. Sie schwankte. Auf dem Kopf hatte sie unheimlich viel Haarwickel, welche notdürftig von einem hellblauen Netz, welches offensichtlich die Haare zusammenhalten sollte, überspannt waren, was nur notdürftig gelang. Diese chaotische Situation mit herabhängendem Haarnetz um ihren Kopf herum, hatte ich schon häufig bei ihr gesehen und kopfschüttelnd meinen Kommentar in etwa so gegeben: „Weißt du, Mutti, mit deiner Sturmhaube und den vielen Wickeln siehst du aus wie eine Eule. Ich habe mal Bilder von Panzerfahrern gesehen – die haben Ledermützen auf, wo auch solche wickelähnlichen Lederpuffer angebracht sind, damit sie sich nicht im Inneren des Panzers an den vielen Ecken und Kanten stoßen können. Kannst du dir nicht, bei Gelegenheit mal, eine andere Gestaltung für dein oberstes Ende vom Kopf einfallen lassen?“ Mir kam es vor, als wenn sie ihr Gleichgewicht nicht halten konnte und kurz vor dem Umfallen war. Mutti war schlank und hielt sich sonst immer sehr gerade – heute kam sie mir eher wie ein Fragezeichen vor. Ich schaute sie mir näher an – sie sah blass und irgendwie zerknittert aus. Die Augen lagen tief in den Höhlen, die Ringe unter den Augen waren dunkel. So richtig war das nicht meine Mutti, zumindest so, wie ich sie kannte. „Was ist denn los Mutti?“, hängte ich mich in die Absprache mit Frau Walther hinein. Zu Ursula gewandt, sagte sie: „Kleinen Moment, liebste Ursula – am besten du hörst einmal zu, was ich zu erzählen habe.“ Sie drehte sich halb zu mir hin. „Was soll denn los sein, Klausmann? Wir haben bis 2 : 00 Uhr gefeiert und ich habe unheimlich viel Wein, Bier und auch Schnaps getrunken. Die Susi hat mir noch eine Zigarre angedreht. Mir geht es gar nicht gut, habe schon zweimal gebrochen. Ich muss mich sofort wieder hinlegen, aber erst einmal muss ich die Ursula beruhigen.“

      „Gretel, was machst du denn für Sachen? Wir können doch froh sein, dass wir die feine Einstellung im Gemeindeamt haben, müssen uns aber auch danach verhalten. Du weißt doch, dass ich heute Termin gegenüber dem Kreisamt habe und dazu die Aussagen der Bauern brauche.“

      „Sie haben ja so recht, Frau Bürgermeister! Ich werde es auch nie wieder tun!“

      „Du immer mit deinem Quatsch, von wegen Bürgermeister. Ich tue nur mein Bestes!“

      „Für mich bist du der eigentliche Bürgermeister, Ursula. Das weißt du auch ganz genau. Sei doch bitte so lieb und regle das mit den Bauern. Ich verspreche dir auch, dass ich morgen nicht erst um acht, sondern bereits um sieben im Gemeindeamt bin. Tschüss, meine Ursula. Ich muss mich schnell wieder hinlegen, mir wird schon wieder ganz schwindlig.“ Ich führte Mutti zu ihrem Bett. Als sie lag, sagte sie: „Hole mir doch bitte mal ein großes Glas mit Wasser, aber kalt muss es sein!“ Als ich mit eisgekühltem Wasser wieder an ihrem Bett stand, war sie bereits wieder eingeschlafen. Sie war offensichtlich fix und fertig.

      In unserem neuen Zuhause hatten meine Eltern urplötzlich wahnsinnig viele neue Bekannte. Manchmal, vor allem abends, wenn alle von Arbeit kamen, war es bei uns wie in einem Taubenschlag. Eine Taube kam, plapperte mit den anderen, flog wieder weg, kam wieder und blieb länger. Zwischendurch kamen viele andere und plapperten ebenfalls wild durcheinander. Mitunter war das Chaos perfekt. Dieses Taubenschlagmilieu gefiel aber meinen Eltern offensichtlich


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