Streben nach der Erkenntnis. Klaus Eulenberger

Streben nach der Erkenntnis - Klaus Eulenberger


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herab. „Du alter Langschäfer! Aufstehen ist angesagt, ich muss ins Gemeindeamt. Gleich nach dem Frühstück müsst ihr aber die Tiere füttern und zum Simonbäcker gehen. Oma hat sich gestern wieder sehr geärgert, da ihr es schon wieder vergessen habt. Wir müssen von euch verlangen, dass ihr zuverlässiger werdet. Ihr seid doch keine Kleinkinder mehr, Klausmann.“

      „Ach, Mutti“, quälte ich aus mir heraus. „Rede doch nicht früh, kurz nach Mitternacht, schon solche Romane und dazu nur Kritiken.“ Mama sagte das, was sie häufig von sich gab und womit sie sich verteidigen und mich noch zusätzlich anklagen wollte: „’S is’ aber ooch wirklich wohr!“ Auf Hochdeutsch hieß das: „Es ist aber auch wirklich wahr!“

      Cousin Lothar und ich fütterten die Tiere, kehrten auf Geheiß von Tante Friedel den Vorsaal, gingen zum Simonbäcker und dann wartete ich ungeduldig, dass es endlich 14 : 00 Uhr wurde, wo geplant war, dass die Mädchen antanzen. Nach dem Mittagessen mussten wir noch abtrocknen – was war das heute nur für ein Arbeitstag? Einfach belastend und ekelhaft! Fand auch Lothar. Aber auch diese Zeit verging.

      Wir holten die jungen Damen am offenen Tor ab. Wie sie halt so sind, die jungen Dinger, es war ein Gezwitscher, Kichern und teilweise auch ein Gekreische. Es rückten an: die Nürnberger, Marion, Jacobi, Waltraud, Krämer, Petra, Eschinger, Janine und meine Cousine, Lothars Schwester, Schulze, Helga. Der Schwarm kam auf uns zu und es begann das große Liebkosen. Marion gab mir sogar einen Schmatz auf die rechte Wange, strahlte mich an. „Wie geht es dir, kleener, hübscher Klaus?“ Auch die anderen Mädels drückten mich lieb, dabei kicherten sie exaltiert. Ich hatte mir schon ein paar Mal Gedanken über sie gemacht. Mir schwante, dass Mädchen vollkommen anders als wir Jungs sind. Dabei hatte ich aber ein wohliges, kribbeliges Gefühl in mir, als ich an sie dachte. Ich hatte auch schon beobachtet, dass sie sich untereinander küssten (so richtig auf den Mund) und häufig Händchen in Händchen die Dorfstraße entlangliefen. Das verwunderte mich sehr. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass ich einmal mit dem manchmal etwas knorrigen Lothar mit seinen starken Backenknochen und Basedow-Augen Hand in Hand die Dorfstraße entlanggehen würde. Wenn das der Unsauber, Hubert sehen würde – der würde ja gerade hinausquieken.

      „Na, seid ihr gut vorbereitet, Lieblingscousin?“, fragte mich Helga und zwinkerte mir zu. Die Mädchen waren alle vier bis fünf Jahre älter als wir und freuten sich offensichtlich genauso wie ich auf unsere geplanten Spiele, die schon Tradition hatten. Nur Lothar war ziemlich abwartend und hatte keinen rechten Nerv dafür. „Lutt, nun sei mal nicht so griesgrämig – es war doch immer recht lustig mit den Mädchen und ich finde, es ist eine Ehre für uns, dass sie zu uns Kleinen kommen, um mit uns gemeinsam etwas zu unternehmen.“

      „Ach, du, immer mit deinen Weibern – ich möchte wissen, was du davon hast.“

      „Ich finde die Mädchen in Ordnung und freue mich, dass sie bei uns sind. Am meisten bin ich natürlich glücklich, dass Janine wieder dabei ist. Außerdem sind das nicht meine Weiber!“

      „Klaus, du bist eine richtige Pfeife mit deiner Janine – lass uns hochgehen zu Tante Frida, damit wir es hinter uns bringen!“

      „Lothar, manchmal bist du einfach unmöglich!“

      Also marschierten wir alle durch die offene Haustür und dann die unheimlich steile, stets knarrende Holztreppe hoch in den ersten Stock in den großen Raum von Tante Frida ganz am Ende des langen Ganges. Sie war unsere Großtante. Wie alt sie war, wusste eigentlich keiner – allerdings hatte Mutti einmal erwähnt, dass sie schon weit über achtzig Jahre alt sei. Tante Frida freute sich riesig, wenn etwas in ihrem Zimmer losging. Meist saß sie hier in ihrem rotbraunen Ohrenplüschsessel mit unheimlich langer Lehne, die aber stark nach hinten gewölbt war. Meist, fast immer, saß Tante Frida in diesem Plüschgerät, hatte den Kopf entweder links oder rechts an so einem Plüschohr angelegt und schlummerte. Schlief sie nicht, schaute sie ruhig und sanft in die Welt. Ihre großen, klobigen Hände lagen auf der Schürze in ihrem Schoß. Sie waren gefaltet und die Daumen drehten sich, ganz langsam, einmal in die Richtung, vom Körper weg und einmal in die andere Richtung, zum Körper hin. Lachend, sich gegenseitig schubsend und schiebend, erschienen die Mädchen und im Gefolge wir, vor Tante Fridas Tür. Es wurde stark geklopft. Ohne die Genehmigung von der schläfrigen Frida abzuwarten, stürmte die Corona in das Zimmer. „Guten Tag, Tante, wir sind wieder da. Wie geht es dir? Haben dich die Jungs gut versorgt mit Brot, Brötchen und Butter?“

      „Ja, ja, das haben die beiden gut gemacht“, entgegnete sie mit warmherzigem, freudigem Gesichtsausdruck. „Soll ich euch Kaffee machen? Ich habe auch noch drei Brötchen – die anderen sind leider schon eine Woche alt.“

      „Ja, Frida, das ist schön so.“ Sie verschwand in dem kleinen rechteckigen Verschlag, der ihre Küche beinhaltete. Nach einer Viertelstunde – es dauerte bei ihr alles immer recht lange – brachte sie den Kathreiner Kaffee mit Milch und Zucker und stellte ein Tablett mit vielen derben Bauerntassen auf den Tisch. Dann schmierte sie die drei Butterbrötchen, legte die sechs Hälften auf ein großes Schneidebrett. Wir waren aber zu siebent. Sofort sagte Janine: „Ich brauche keines, habe vorhin erst Mittag gegessen.“ Ich wollte ihr etwas Liebes tun, schaute sie schüchtern an, spielte den Großzügigen. „Janine, du kannst gern mein halbes Brötchen haben.“ Leider wurde ich dabei rot – ich merkte richtig, wie mir die Hitze von unten in den Kopf stieg. Trotzdem sah ich sie an. Sie senkte zurückhaltend den Blick. Dann ging es aber endlich los. Helga und Marion, die zwei Spielwütigsten, hatten, wie eigentlich immer, für jeden einen vorgeschriebenen Zettel parat und verteilten diese rasch. Ihren Gesichtern sah man an, dass sie süchtig auf das Spiel waren, ihre Augen glänzten förmlich in Vorfreude. Bei Helga kam noch dazu, dass sie einen, immer kleinen, hübsch anzuschauenden, Fehlblick präsentierte. Kam sie aber in Stress, wie zum Beispiel hier, schielte sie schon beträchtlich und mir fiel auf, dass sie dann allerdings nicht mehr so adrett aussah.

      Marion kommandierte: „Janine, du buchstabierst jetzt in Gedanken das Alphabet und Helga sagt dann Halt.“ Die Angesprochene veränderte ihr Gesicht – von der lockeren Fröhlichkeit hin zum Nachdenklichen – schließlich hatte sie ja in Gedanken Schwieriges zu bewältigen. Ich schaute in ihr hübsches Gesichtchen. Sie war voll konzentriert. Die rehbraunen Augen schauten ernst und aufmerksam. „Halt“ schrie Marion und Janine rief aufgeregt „F“. „Los geht’s!“ war die nächste Ansage. Alle, einschließlich Lothar und mir, dachten nach und schrieben. Es herrschte Ruhe und Arbeitseifer. Tante Frida schaute sich das alles verwundert an. Unter Garantie verstand sie nichts von dem, was da vor sich ging und welchem Ziel das alles dienen sollte. Auf alle Fälle war es für sie interessant und eine tolle Abwechslung. „Stopp“ war der nächste Befehl von Marion. Manche kritzelten schnell noch etwas und erhielten einen strafenden Blick von der Kommandozentrale, welche die Zettel einsammelte und nachschaute, wer am wenigsten geleistet hatte. Für Lothar und mich – die Küken der Runde – war es mit Sicherheit am schwersten, schnell und gut das Notwendige zu wissen. Es ging immerhin um die Gebiete Name, Stadt, Land, Beruf, Fluss, Berg, Schauspieler. Ich hatte hingekrakelt Friedrich, Frankfurt, Frankreich, Fliesenleger, Fulda – das war’s dann. Lothar war aber nur bis Land gekommen und musste einen Pfand abgeben. „Helga, jetzt bist du mit dem Alphabet dran.“

      „Stopp“ schrie diesmal Waltraud. „I“. Schon ging der Zirkus weiter. Ich grübelte – verflucht, ein Name fiel mir partout nicht ein, eine Stadt mit I gibt es auch nicht, Land, auch nicht existent, aber halt – Indien gibt es, ist ja wie verhext – ein Beruf ist auch nicht in meinem Kopf, als Fluss Iller hatte ich schon einmal gehört. Marion hatte längst „Schluss“ gerufen und fragte ab, bzw. kontrollierte die Zettel. „Na, kleiner Klaus, was hast du denn alles? Ich beantworte es gleich selbst – Indien und Iller sind zu wenig – wir verlangen von dir einen Pfand!“ Ich sah es ja ein, dass ich dran war. Ich kramte in meiner Hosentasche. Rechts hatte ich eine grüne Murmel und eine mit blauen und roten Streifen sowie ein Stück Bindfaden, mein Taschentuch und lauter Holzspäne, die von unserer gestrigen Schnitzaktion irgendwie dahin gelangt waren. In meiner linken Hosentasche fand ich zusammengebundenen Kupferdraht, eine Kastanie und den Brocken eines knochenharten Brötchens von Tante Frida. Ich versuchte zu vermeiden, dass Marion all meine Schätze sah, was aber offensichtlich nur teilweise gelang, denn sie sagte zu mir: „Das Stück Bindfaden können wir nicht als Pfand einordnen –


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