Streben nach der Erkenntnis. Klaus Eulenberger
Allerdings bekam sie schon irgendwie mit, dass wir tricksten, um an die knochenharten Brötchen zu kommen. Wenn man in ihr Zimmer trat, waren gleich rechts am Türgewand oben viele Schlüssel zu sehen, die auf einem starken Haken hingen. Wir wussten nie so genau, wofür welcher Schlüssel existierte, hatten aber mit viel Aufwand herausbekommen, welcher für den relevanten Schrank mit dem Doktorbuch zutreffend war. Dazu mussten wir mindestens fünf Schlüssel ausprobieren, bis es schnackelte. Der Ablauf, den wir uns zuvor in mehreren Sitzungen flüsternd erarbeitet hatten, war folgendermaßen. Einer von uns, zum Beispiel in diesem Fall ich, musste Tante Frida in ihre Küche locken. Dies erfolgte mit der Bitte um Kathreiner, ein Glas Wasser oder auch wegen eines Butterbrötchens. Ging dann Tante Frida in ihr Kabuff, war dies das Signal, in diesem Fall für Lutt, einen Schlüssel zu nehmen, hinauszurennen und ihn auszuprobieren. Als wir dann den Schlüssel ermittelt hatten, wurde es einfacher, aber gleichzeitig auch aufwändiger, denn der Schlüssel musste genommen, rausgerannt, Schrank aufgeschlossen, Buch herausgenommen, unter den Schrank gelegt, Tür wieder zugeschlossen, zurückgegangen und Schlüssel wieder hingehängt, werden. Später passierte uns, dass Tante Frida bereits aus ihrer Küche zurück, aber der Schlüssel von Lothar noch nicht wieder hingehängt war. Das war aufregend, sehr sogar. Frieda schaute misstrauisch auf den Schlüsselhaken. „Wo ist denn der große Schlüssel und der Lothar?“ Statt einer Antwort sagte ich erschrocken: „Hast du noch etwas Zucker, Tante Frida?“ Sie schaute mich an, war etwas unschlüssig und gab mir dann den Rat: „Geh doch mal in die Küche, zweites Regal unten links.“ Dann überlegte sie: „Habe es allerdings gar nicht gern, wenn ihr in die Küche geht. Ich hol es lieber selbst.“ Dann drehte sie listig die Daumen weiter, ruhig, wie immer, gaaaanz laaaannngggsaaammm voooorwärts und wieder rüüüückwärts. „Worauf wartest du denn, Tante Frida?“
„Auf Lothar, natürlich!“ So was Ausgefuchstes, dachte ich, jetzt hat sie uns in der Falle. Dann kam Lothar wieder herein und sofort wurde von Tante Frida verlangt, zu wissen, wo er war bzw. herkäme. Lothar wurde bleich, seine Augen traten hervor: „Ich, ich, ich – war auf dem Klo.“ Er erhielt nur eine Antwort. „Interessant!“ Nun war Lothar natürlich in der Zwickmühle bzw. wir, denn er konnte ja nicht vor Fridas Augen den Schlüssel wieder hinhängen. Ich zeigte ihm hinter Fridas Rücken an, er solle sich hinsetzen. Das tat er. Tante Frida drehte listig die Daumen weiter, ruhig, wie immer, gaaaanz laaaannnggggsaaaammmm voooorwärts und wieder rüüüückwärts. Keiner sprach ein Wort. Offensichtlich war es ein Geduldsspiel geworden. Nach langer Zeit, für uns eine Ewigkeit, stand Tante Frida auf, ging in die Küche und holte Zucker. Lothar sprintete hoch, raste zum Schlüsselhaken und hängte das vertrackte Ding hin. Er sprintete zurück. Tante Frida kam mit dem Zucker zurück, schaute auf den Schlüsselhaken und setzte sich hin. Wir schauten in ihr Gesicht und konnten kaum eine Reaktion wahrnehmen.
Spätestens jetzt stellt sich aber doch die Frage, weshalb wir denn so nass auf das Doktorbuch waren. Es war mit Sicherheit die altbekannte Neugier der Kinder. Hören Sie sich mal den Dialog an. „Wonach müssen wir denn überhaupt in dem dicken Wälzer suchen, Lothar?“
„Na, Mensch, mich interessiert vor allem, wie die Kinder entstehen.“
„Quatsch, Lutt, wie die Kinder entstehen, ist für mich Kacke. Mich würde aber brennend interessieren, wo die Kinder herkommen und wie das alles so passiert.“
„Eu ja, ich will alles wissen. Sonst tanzen uns die Erwachsenen immer auf der Nase herum und tun so überschlau. Das kann ich überhaupt nicht leiden.“
„Lass uns doch einfach mal anfangen, Lothar.“
„Ja, ja, ist schon gut.“ Wir blätterten unsystematisch und wild in der fetten Schwarte. „Pass auf, Lutt, dass wir nichts kaputtmachen, sonst kriegen die das alles heraus.“
„Guck mal hier – Nasenbluten. Ei Gott, das sieht ja furchtbar aus, das ist ja alles Blut, was da runter läuft. Der Katarrh der Nasenschleimhaut, alles uninteressant. Asthma, Bluthusten, Blutspucken, Blutsturz – einfach grässlich, das alles. Brustfell- oder Rippenfellentzündung, Herzbeutelentzündung, Herzbeutelwassersucht, Herzvergrößerung und Herzerweiterung, Herzinsuffizienz, die Bauchhöhle mit ihren Eingeweiden – sieht ja schrecklich aus, guck mal hier, das alles – der Darm, darüber Leber, Magen, Milz, absteigender Dickdarm. Nun habe ich es aber bald satt. Sieh mal hier das Bild – der Bauch, Eingeweide, Milz, daneben der Magen. Das ist der, Lutt, in den du immer maximal viel hineinstopfst.“
„So geht das nicht, Klaus – außerdem kommt jemand die Treppe herauf, also sofort unter den Schrank damit!“ Wir gaben an diesem Tage auf. Nun begann aber das fast größere Problem, denn wir mussten den Schlüssel wieder unbemerkt holen, Schrank aufschließen, Buch zurücklegen, Schlüssel wieder stillschweigend hinhängen. Einmal hatten wir Riesenglück, indem Tante Frida auf das Klo musste. Da hatten wir ausreichend Zeit und konnten in Ruhe unseren dunklen Geschäften nachgehen. Leider ging es beim Studium des Doktorbuches weiter so, d. h. uninteressante und eklige Sachen kamen uns bei unserer Suche in den Weg. Einer von uns, in dem Fall war es Lothar, blätterte und redete darüber, während der andere nur zuhörte und schaute. Lothar legte dar: „Die Gaumenspalte oder der Wolfsrachen, Hals- und Mandelentzündung, Magenkatarrh, Mastdarmfistel, Stuhlverstopfung – du, Klaus, wollen wir hier mal lesen, denn da haben wir ja auch manchmal ein Problem.“ Wir lasen, kamen aber bei der altdeutschen Schrift nur schwer zurande. Also ging es weiter. „Wurmkrankheiten, Bandwürmer, Spulwürmer, der Peitschenwurm, die Fettleber und die Speckleber, die Schnür- und die Wanderleber. Mensch, Klaus, ich hab schon wieder den Kanal voll. Kann denn eine Leber wandern?“
„Lutt, wir machen das nächste Mal weiter!“ Nächstes Mal der gleiche Zirkus. „Gallensteine, Gallensteinkolik, zur Anatomie und Physiologie der Harnorgane, die Schrumpfniere, Krankheiten und Leiden der Geschlechtsorgane.“
„Lothar ich denke, jetzt kommen wir ran an das, was wir suchen, fein.“
„Männliche Geschlechtsorgane, zur Anatomie und Physiologie der weiblichen Geschlechtsorgane – Lutt, jetzt komm wir langsam ans Ziel. Die Frauen bekommen doch die Kinder und damit hat das unbedingt was zu tun. Sieh mal, hier ist ein Bild – äußere Geschlechtsteile, große Schamlippen, kleine Schamlippen mit dem Kitzler, Scheide, Eierstock. Großer Gott, wozu das wohl alles gut ist? Sieh mal, hier ist ein Durchschnitt durch den weiblichen Körper in der Mittellinie – Scheiße, bringt uns auch nicht weiter.“
„Klaus, hier geht’s weiter – Harnröhrenentzündung, der akute Tripper, der chronische Tripper, Blasenkatarrh, Entzündung der Vorsteherdrüse, der weiche Schanker, Syphilis mit Bildung von roten Flecken und Papeln –iiiiiiii! Das sieht ja ekelig aus, mir wird ganz schlecht.“
„Lothar, wir machen das so – wir schauen jetzt noch für fünf Minuten weiter und wenn wir das immer noch nicht gefunden haben, dann sicher das nächste Mal. Wir sind ja immerhin schon in der Mitte dieser fetten Fibel.“
„Gut, weiter – die Eichelentzündung, krankhafte Samenergüsse, Krankheiten des Hodens und des Nebenhodens, weibliche Krankheiten – Gebärmutterentzündung, Eierstockentzündung und hier, sieh mal – Erkrankungen in der Schwangerschaft, die Geburt und Entbindung, Wochenbett und Krankheiten des Wochenbettes.“
„Ich glaube, wenn die Frauen ein Kind bekommen, müssen sie ins Bett, eben das Wochenbett – du, wir machen das nächste Mal weiter. Jetzt sind wir am Kern der Dinge, hurra!“
„So ein Quatsch, was du da redest, hier steht doch Das Wochenbett beginnt mit der Ausstoßung der Nachgeburt und dauert 4 - 6 Wochen.“
„Lass mich mal lesen, Lutt – Daaas Woooochchcheeenbeeett.“
„Schluss jetzt, Klaus, du liest ja wie ein Erstklässler. Bei deinem reichlichen Schuljahr hast du noch nicht viel gelernt. Das dauert ja ewig und keiner kann dich verstehen!“
„Wegen mir, Lutt, da liest eben du. Denke aber daran, dass du ein Jahr älter bist als ich.“
„Auf alle Fälle kommt das Wochenbett nach der Geburt. Also lass uns nochmal dazu lesen. Sobald das Kind im Mutterleibe völlig ausgereift ist, ist die Natur vor die Aufgabe gestellt, den Fötus, wie man die Leibesfrucht auch nennt, ans „Licht der Welt“ zu bringen.