Streben nach der Erkenntnis. Klaus Eulenberger
fürchterlich aufgeregt mit den Armen), dass sie eine Mitteilung erhalten habe, dass Vater aus dem Krieg heimkehren würde und das schon bald. „Klausmann, überlege dir einmal, was das bedeutet. Der Herbert als dein Vater hat diese entbehrungsreiche Zeit der Kriegsgefangenschaft bei den Russen überstanden. Er lebt also und ist auch scheinbar gesund. Was denkst du denn, Klaus, wie viele deutsche Männer dort vor Hunger und Entbehrung – sie mussten ja unheimlich körperlich schwer, zum Beispiel in Steinbrüchen, schuften – gestorben sind. Du kannst dich riesig freuen, dass dein Vater es geschafft hat und zurückkehren kann. So sind wir wieder eine Familie.“ Sie schaute zur Decke, sagte abschließend „Dem Himmel sei Dank!“ und umarmte mich. In einer neuen Gefühlswallung bekam ich Küsse rechts und links auf die Wangen, auf die Lippen, die Nase, die Stirn und da ich wegen der Feuchtigkeit der Küsse, letztlich war es schon eine Knutscherei, etwas Widerstand leistete, auch auf meine abwehrenden Hände.
Alle hatten, scheinbar schon seit einiger Zeit, eine Bauernfamilie ausfindig gemacht, die unser Gut übernehmen sollte. Das war die Familie Kornblume, Kurt und Selma. Sie hatten vier Söhne – Paul, Lukas, Moritz und Erik, den wir bereits kannten und mit dem wir auch schon Verschiedenes unternommen hatten. Jeden Tag kam irgendeiner von den Kornblumes zu uns, um Angelegenheiten der Zukunft zu besprechen, bereits bei der Tierversorgung mitzuhelfen, sogar beim Essenkochen. Es war ein nettes Miteinander mit dieser Familie und offensichtlich so geplant, dass sie schrittweise in unser Bauerngut „hineinwachsen“. Natürlich waren vor allen Dingen wir Kinder recht traurig. Das betraf Lothar und mich, aber auch ganz stark Helga, welche unglücklich war, dass sie von ihren Freundinnen in der Dorfmitte weg sollte, vor allem von der Nürnberger, Marion, ihrer engsten Freundin. Eines solchen Tages, als die Kornblumes wieder einmal bei uns weilten, sagte die Selma plötzlich zu meiner Mutti: „Gretel, wir wollten, wie ja zwischen uns vereinbart, das Gut schon ab April übernehmen. Wir sollten aber vielleicht den Mai vorsehen. Ich habe zurzeit mit unseren Söhnen etliche Probleme und da wird mir das jetzt alles zu viel.“ Mutti, die im Auftrag von Oma, Opa, Heinel und Friedel die Absprachen mit Kornblumes traf, fragte: „Das ist sicher kein Problem, Selma, aber was hast du denn mit euren Söhnen?“
„Der Paul will zu seiner Freundin nach Berlin ziehen, der Lukas hat sich den Fuß verknackst, der Moritz hat eine ganz schwere Grippe und nun kommt noch der Erik mit einem Riesenproblem. Er muss im Krankenhaus operiert werden.“
„Das tut mir aber sehr leid, Selma. Also – wir verschieben den Termin. Was hat denn da der Erik? Er ist doch noch nicht einmal sieben Jahre alt.“
„Da hast du schon Recht, es ist noch ein ziemlich kleiner Junge. Umso mehr wundert mich, dass er jetzt schon am Nabel operiert werden muss?“
„Waaaaaas?“, schrie meine Mutti in Verzückung. „Da hat er sicherlich das Gleiche wie mein Klaus. Der hat einen Nabelbruch und muss in Freiberg operiert werden!“ Selma lief ein freudiger Schauer übers Gesicht. „Wieso hat mir denn die Dr. Erler-Dieda das nicht von deinem Klaus erzählt? Die haben ja beide das Gleiche. Und, Gretel“, – sie drückten und umarmten sich –, „da können die beiden ja zusammen reingehen. Ich meine, ins Krankenhaus. Hier bist du ja, Klaus, ich hatte vor Aufregung gar nicht darauf geachtet. Ist das nicht wunderbar? Da könnt ihr euch gegenseitig helfen und trösten. Angst müsst ihr aber nicht haben. Klaus, komme doch morgen mal zu uns und besuche Erik. Der wird sich sicherlich sehr freuen und ihr könnt alles besprechen.“
„Mach ich, Frau Kornblume.“
„Aber sag mal, Gretel, wie kommen denn die beiden Jungs hin und zurück?“
„Der Einzige, der ein Auto hat und den ich kenne, ist der Wittasch, Erhard.“
„Sprichst du mal mit ihm, Gretel, das wäre sehr schön?“
„Ich kümmere mich darum, Selma.“
DIE NABEL WERDEN RAUSGESCHNITTEN UND WIEDER ZUGENÄHT – SO EINFACH IST DAS!
Dann wurde Erik und mir ein Termin mitgeteilt – am kommenden Dienstag sollen wir 10 : 00 Uhr in der Poliklinik Freiberg antreten. So langsam wuchs unsere Nervosität und Sorge vor dem Ungewissen. Mit nach oben gezogenem rechten Mundwinkel (das tat er stets, wenn er irgendwelche Bedenken hatte) fragte Erik: „Schneiden die uns da den gesamten Nabel heraus und setzen ihn dann wieder ein, oder wie oder was? Mir hat meine Mutti erzählt, dass das Ganze ein Bruch ist, eher ein Riss, und dieser wird zugenäht. Niiiiiiiiemals lasse ich an meinem Bauch mit einer Nadel nähen. Das ist ja Wahnsinn und tut fürchterlich weh, nein, niiiiiiemals!“, grölte Erik in höchster Not und Sorge. Dabei zuckte sein rechter Mundwinkel nicht nur einmal, sondern mehrfach nach oben, Richtung Nase. Mir wurde richtig angst um ihn. „Beruhige dich, Erik, meine Mutti hat gesagt, dass wir überhaupt nichts davon merken, da wir eine Narkose bekommen.“
„Das will ich aber erst mal sehen. Wenn mir das weh tut, hole ich den Karabiner aus dem Fichtenwald am Kirchsteig, lege meine restlichen Patronen auf einmal ein und schieße alle tot, die mir da Schmerzen zufügen.“
„Du redest nur von dir, Erik, an meine Schmerzen scheinst du nicht zu denken“, beschwerte ich mich. „Natürlich denke ich auch an dich, Klaus. Ich mache mir große Sorgen, dass alles gut wird. Du meinst wohl, weil ich vorhin nur von mir gesprochen habe. Ich meine auch dich mit – also uns – versteh das mal nicht falsch.“ Schon am nächsten Tag fing Mutti an, meine Sachen für das Krankenhaus zurechtzulegen. Ich kümmerte mich kaum darum und meckerte immer nur. „Leg mal nicht so viel dahin – das kann ja kein Mensch schleppen!“ Dann suchte sie ein Behältnis und entschied sich für einen Koffer. „Mutti, ich bin doch kein Handlungsreisender wie Vati. Außerdem könnte jemand denken, ich will verreisen. Dabei muss ich nur in dieses blööööde Krankenhaus. Am besten, ich reiße vorher aus. Auf alle Fälle, einen Koffer nehme ich nicht. Du kannst alles in eine Decke einwickeln und ein Band darum machen oder irgendwie so.“ So wurde es denn auch und Erik und ich stiegen mit unseren Beuteln fröhlichen Gesichts in das Auto. Mutti begleitete uns. Ich weiß nur noch, dass Erik und ich uns lustig machten über den Wittasch, Erhard. Der war aber auch ein Stockfisch und ein hässlicher dazu.
„Guck dir doch mal seine Fresse an – der sieht ja aus wie ein Walfisch. Reden tut er auch nicht. Irgendwie ist der Kerl muksch, schlecht gelaunt und putzig“, flüsterten wir uns in jungenhafter Leichtigkeit und mit viel Spaß gegenseitig in die Ohren. „Hoffentlich kommen wir gut an. Sieh mal, eh der mal einen Gang reinkriegt – das knallt und donnert ja furchtbar. Ist ja auch eine alte Karre mit Holzkarosse. Ich finde, der fährt immer so weit auf, sieh mal hier, den Holzgaser-LKW vor uns. Hoffentlich sind wenigstens die Bremsen in Ordnung, sonst kommen wir nicht lebend im Krankenhaus an und damit hat sich das mit der Operation dann gleich erledigt.“
Wir kamen in ein riesengroßes Zimmer mit wahnsinnig vielen Fenstern und noch mehr alten Männern. Zwei Schwestern kamen mit irgendeinem fahrbaren Untersatz, auf den ich mich legen musste. Dann fuhren sie mit mir weg (ich konnte nur noch rasch sagen: „Erik, mach’s gut!“) und ich sah, auf dem Rücken liegend, nur Decken, Türdurchfahrten und Lampen. Plötzlich kam auf mich gleißendes Licht zu – ich erschrak fürchterlich – jemand legte ein Tuch auf mein Gesicht, irgendeine übelstinkende Flüssigkeit kam darauf und eine Männerstimme befahl: „Tief, sehr tief und lange atmen!“ Etwas Furchtbares begann – das ekelriechende Gas legte sich mir sofort auf die Lunge. Sie wurde schwer wie ein Stück Stein. Ich atmete aber befehlsgemäß weiter, konnte kaum noch tiefer atmen, da ich plötzlich ganz schnell, immer schneller kurz atmen musste. Es kamen große bunte Kugeln auf mich zugeschossen, diese wurden dann kleiner, sie schossen auf mein Gesicht, wurden dann schwarz. Ich bekam eine unheimliche Angst – es erdrückt mich – die bunten Kugeln, Kugeln, Kugeln, Kugeln! Ich wollte schreien, schreien, schreien … Ich fühlte mich so schlapp und mir war so schlecht, so schlecht. Gleichmäßig atmen, viel, viel. Ich kann aber gar nicht, es geht nicht, nur schwer atmen, atmen. Und es stinkt, das stinkt. Plötzlich hörte ich eine schrille Fistelstimme, die empört und knallig rief: „Das ist ja unverschämt, hier ins Bett zu kotzen. Schließlich hast du doch hier eine Nierenschale. Wofür soll denn die sonst da sein?“ Verschwommen sah ich in meinem desolaten Zustand aus halbgeöffneten Augen eine ältere Schwester, die die Empörung in Person war. Nach ihrem Wutanfall bei mir ging sie weg und rüber zu Eriks Bett, was höchstens zwei