Streben nach der Erkenntnis. Klaus Eulenberger
Hier siehst du, Klaus, wie der Fötus, oder wie das Ding heißt – eben das Kind – aus der Mutter herauskommt. Wir haben es geklärt. Es kommt also aus dem Arsch der Frau heraus!“
„Das klingt aber irgendwie gemein, finde ich, Lutt. Könnte man nicht auch After dazu sagen?“
„Sicher, Klaus, du Kleinkind, kannst auch Popo dazu sagen. Tatsache ist, dass wir jetzt wissen, wo es langgeht und keiner kann uns mehr etwas vormachen!“
„Ich denke, wir machen heute erst einmal Schluss. Da wir aber erst in der Mitte des Buches sind, können wir uns den Rest das nächste Mal in Ruhe anschauen.“
„Ach, war das heute wieder ein Mist, bis wir wieder mal an den Schlüssel bei Frida kamen. Sie saß aber auch in ihrem Lehnstuhl wie angeklebt“, schimpfte Lothar. „Meckere nicht so, Lutt, wir haben’s ja noch geschafft. Lass uns noch den Rest anschauen, ist vielleicht ganz interessant.“
„Krankheiten der Haut, Hautpflege, das Jucken, Nesselsucht, Krätze.“
„Lies mal bei Krätze, Lutt, die Mutti und die Oma sagen doch immer: Wenn ihr euch nicht richtig wascht, bekommt ihr die Krätze. Was ist denn das nun aber eigentlich?“
„Krätze ist eine Hautkrankheit, welche durch das Eindringen der Krätzmilbe in die Haut hervorgerufen wird. Die Milbe ist mit bloßem Auge sichtbar, hat die Form einer Schildkröte und besitzt auf der Rückenfläche Dornen und Stacheln, an den Rändern Borsten.“
„Mann Gottes, das ist ja grausig!“, riefen wir beide in großer Aufregung. „Hier, sieh dir mal das Bild der Krätzmilbe an – da kann einem ja richtig angst werden. Stell dir mal vor, wenn die unter unserer Haut ist, was da losgeht. Wie das krabbelt, kratzt und scharrt – einfach fürchterlich.“ Wir schauten beide aufgewühlt und gestanden uns (fast so feierlich wie beim Pionierehrenwort), dass wir die Händewaschaktion in Zukunft mit Seife und vor allem Bürste richtig ausgiebig vornehmen werden. Lothar sagte fast andächtig: „Unsere Mütter, die Oma, der Opa, Onkel Heinel und auch die Tante Marie werden sich noch wundern und uns ein Lob verpassen, ein Lob nach dem andern.“ Später lasen wir noch zu Impotenz und Frigidität, ohne dass wir begriffen, was das war. Danach kamen wir zu Ruhr, Cholera, Malaria, Sumpffieber, Masern, Scharlach und Windpocken. Als wir dann die Bilder dazu sahen, grölten wir beide abwechselnd: „Iiiiiiii, Äääääää – das ist vielleicht widerlich!“
„Weißt du, Lothar, jetzt langt’s! Wir haben das mit der Geburt erkundet – was sollen wir uns jetzt noch diese grauslichen Bilder angucken? Außerdem ist das ja mit der Schlüsselbesorgerei bei Tante Frida immer sehr nervenzerfetzend und geht uns auf die Ketten. Wir bringen jetzt Buch und Schlüssel zurück – und das war’s dann. Einverstanden?“
Am nächsten Morgen schrubbelten Lothar und ich uns beim Waschvorgang dermaßen eifrig die Hände, dass wir knallrot im Gesicht aussahen und der intensive Vorgang der Händebehandlung mit Bürste und Seife als Erstes dem Opa und dann auch der Oma auffielen. Opa knurrte mit seiner tiefen Bassstimme: „Was ist denn heute los? Soll ich euch die Drahtbürsten holen? Wenn ihr weiter so macht, ist der Bast an euren Händen weg und ihr könnt dann anschließend beim Frühstück mit euren verbliebenen Knochen die Butterschnitte anfassen!“ Nun wurde auch Oma aufmerksam. „Erzählt mal, ihr beiden, weshalb ihr heute so eifrig mit der Händesäuberung seid? Da werden sich ja eure Muttis über diesen Eifer freuen, prima von euch. Nun helft mir mal lieber beim Auftragen in die Stube und hört auf mit euren überzogenen Reinigungsaktionen. Das ist ja keine Händewascherei mehr, sondern eher eine Hautzerstörung. Da hat der Opa vollkommen Recht. Nun macht endlich den Mund auf – weshalb tut ihr das?“ Lothar fing an zu stammeln: „In einem Buch“, ich gab ihm mit dem Ellbogen einen Stoß in die Rippen, „äh, äh, wir hörten das von jemand.“ Ich fühlte mich bemüßigt, die Sache zu retten. „Lothar hat das von seiner Lehrerin, der Frau Konrad gehört, die der Klasse aus dem Doktorbuch vorgelesen hat und zwar besonders zur Krätze. Sie hat genau beschrieben wie die Krätzemilben aussehen und den Rest könnt ihr euch denken. Wir haben beide unheimlichen Schiss vor dieser bösartigen Milbe, die wie eine Schildkröte aussieht, nur eben ein Tausendstel kleiner ist.“ Lutt schaute mich für diese Rettungstat erleichtert und dankbar an und wir konnten nun Oma beim Auftragen helfen. Das dachten wir aber nur, denn plötzlich kamen Tante Friedel und Mutti herein. Sie wurden von Oma informiert, wie eifrig wir das Waschen betrieben hätten. Die beiden drückten uns, aber plötzlich schrie Mutti erschreckt auf und zeigte mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf meinen Nabel. „Ich hab das jetzt schon mehrfach gesehen und jedes Mal wird mir mehr angst. Dein Nabel steht doch viel zu weit vor, Klaus. War denn das schon immer so?“
„Ich kenne das nicht anders, Mutti.“
„Klaus, wir müssen unbedingt zur Frau Dr. Erler-Dieda gehen. Lothar, lass mal bei dir sehen. Siehst du, das ist ganz anders und irgendwie besser als bei dir.“ Nachmittags, nach der Schule, marschierten wir zur einzigen Ärztin im Dorf. Es wurde zwar erzählt, dass man bei ihr unheimlich lange warten muss – allerdings kamen wir schon nach zwanzig Minuten an die Reihe. Sie drückte an meinem Bauch herum, insbesondere um den Nabel. „Das wurde ja höchste Zeit, Frau Eulenberger. Sie hatten Recht mit Ihrer Vermutung, dass da etwas nicht stimmt. Die Bauchdecke ist an dieser Stelle nicht richtig geschlossen und bei körperlichen Anstrengungen kann es passieren, dass der ohnehin vorhandene Bruch sich vergrößert und sogar das Innenleben nach außen tritt.“ Meine, immer überängstliche, Mutti, schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Um Himmels willen – das Innenleben, sind das nicht die Eingeweide?“
„Sicher, es hat schon Fälle gegeben, wo dieses eingeklemmt wurde. Frau Eulenberger, Sie brauchen aber nicht solche Angst zu haben. Das Ganze ist eine Schwachstelle in der Bauchwand und eher als Riss zu verstehen. Dieser kann entweder angeboren sein oder erworben werden. Auf alle Fälle darf ihr Sohn jetzt keinesfalls Sport in der Schule mitmachen und körperliche Anstrengungen sind in jedem Fall zu vermeiden!“ Das in jedem Fall betonte sie ganz besonders. Da hatte ich nun den Salat – auf alle Fälle war dies nun nicht gerade ein erfreuliches Ereignis. Dementsprechend bedeppert schaute ich in die Welt, vor allem als Frau Dr. Erler-Dieda eröffnete, dass eine Operation unumgänglich sei und möglichst rasch durchgeführt werden müsse. Eine Einweisung in die Poliklinik Freiberg sollte möglichst schnell erfolgen. „Um die Einweisung und den Termin und alles andere, Frau Eulenberger, kümmere ich mich und melde mich bei Ihnen telefonisch im Gemeindeamt.“ Wir marschierten wieder nach Hause und unsere gesamte Corona wurde informiert. Allgemeines Erstaunen. „Armer Klausmann, da hast du nun Schulausfall.“ Lothar schob mich beiseite. „Klaus, wegen dieser Sache muss ich gleich mal mit dir reden. Du kannst da auf keinen Fall die schweren Milchkannen mit auf unsere Karre heben, geschweige denn auf die Milchrampe stellen. Das müssen wir jetzt drinnen gleich einmal klarstellen und außerdem – wenn du nicht mitmachen kannst, ist das Ganze für mich nun damit auch erledigt!“ Alle riefen gleich im Chor, als wir unser Ansinnen vorgebracht hatten. „Das ist doch klar, macht euch ja keine Gedanken! Das erledigen unsere zwei Helferinnen. Hauptsache ist, dass der Klaus bald wieder gesund ist.“ Opa hatte heute wieder einmal (das war in letzter Zeit leider sehr selten der Fall) einen guten Tag. Strahlend über das ganze Gesicht gab er von sich: „Bring das schnell hinter dich, Klaus – das bisschen Operation erledigt doch in der Poli Freiberg der Pförtner, unterstützt von einem Lehrling und in ein paar Tagen bist du wieder strahlend und gesund zurück und wir können sagen: „Ein paar Tage war das Kläuschen krank – nun hüpft es wieder – Gott sei Dank!“
Der Zeitpunkt der Erkennung meines Nabelbruchs fiel in eine Spanne, wo die Zeit unserer Großfamilie auf dem Bauerngut Straßburger irgendwie schrittweise zu Ende ging. Onkel Heinel war der Erste, der für seine Familie einen Umzug nach Zwickau nicht nur ins Auge gefasst hatte – der Umzug sollte schon in zehn Tagen erfolgen. Er hatte dort eine Stelle als Amtsleiter für Tiefbau erhalten und war sehr froh darüber. Mein anderer Onkel, der Schulze, Herbert, war erst seit wenigen Tagen bei uns und beabsichtigte, fast zehn Kilometer von uns entfernt, neben dem Bahnhof Kleinwaltersdorf, eine Mietwohnung zu beziehen. Die gesamten Veränderungen hingen damit zusammen, dass Opa aus Altersgründen die gesamte Leitung nicht mehr packte, Oma über zu viel Arbeit klagte und eigentlich keiner einen so rechten Bock auf das Bauerndasein hatte. Mein Vater war Kaufmann und auch nicht gerade geeignet, mit dem Schimmel oder