Streben nach der Erkenntnis. Klaus Eulenberger

Streben nach der Erkenntnis - Klaus Eulenberger


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der eigentliche Bürgermeister, denn wenn wir mit Aufgaben vom Kreisamt belegt werden, die gestern schon fertig sein sollten, bietet sie sich sofort an, eine Nacht, oder wegen mir auch mehrere, durchzuarbeiten, um das Beste herauszuholen. Natürlich hat sie auch bessere Bedingungen als ich, da sie nicht mehr verheiratet ist und nur mit ihrem Vater, einem Tischlermeister in Rente, zusammenlebt. Für Ursula ist der Partner ganz einfach das Gemeindeamt, für den sie alles tut. Das weiß auch der Jupp, unser neuer Bürgermeister, und ich finde, er nützt die gute Seele so richtig aus. Manchmal kommt mir der Jupp wie ein Hallodri vor, na ja, er ist ja auch aus dem Rheinland und durch die Kriegswirren hier bei uns irgendwie hängen geblieben.“ Die Ursula (ich sagte immer Frau Walther zu ihr) und Mutti freuten sich weiß Gott immer sehr, wenn ich in ihrem Büro erschien. Sie unterbrachen sofort ihre Arbeit – allerdings nur kurz, denn zumindest Ursula arbeitete, nach einer kurzen Rast, sofort weiter. Meist klingelte schon nach kurzer Zeit das Telefon und die beiden hatten eigentlich gar nicht so viel Zeit für mich. Ursula kramerte, ohne ihre Arbeit so richtig zu unterbrechen, manchmal in ihrer Tasche und, wenn ihre Hand, aus dem offensichtlichen Chaos, herauskam, umklammerte sie einen Pfefferminzbonbon, den sie mir sofort freundlich herüberreichte. Ursula war aber ganz anders als Mutti – ich meine, bezüglich ihres Aussehens und auch in ihrer Art. Sie hatte eine Frisur, die wie eine gesprengte Matratze aussah – ähnlich Angela Davis. Ihr Gesicht war schon ziemlich zerfurcht und die faltige Haut war irgendwie leicht gelblich. Sie trug eine starke Brille – eine solche, die in dem Brillenglas außen eine umlaufende Kante hatte und wo das Glas nicht konvex (wie üblich), sondern beidseitig konkav war. Zudem sprach Frau Walther so sanft, dass ich mir heimlich dazu den Passus zurechtlegte: „Frau Walter haucht“. Mutti erzählte mir später flüsternd, dass die Frau Walther überhaupt keinen Wert auf ihr Äußeres legen würde. Ich war erstaunt, da ich nicht begriff, weshalb die Ursula ihre Matratzenfrisur nicht in Ordnung bringen wollte. „Klaus, es gibt Menschen, die nur für ihre Arbeit leben. Alles andere interessiert sie nicht! Sieh mal, die Frau Schabracke, deine Klassenlehrerin! Diese gebildete Dame scheint ähnlich zu denken.“

      „Also, Mutti, nun fange mir nicht noch mit der Schabracken an. Die schaut genauso verbissen in die Welt wie ihre fettigen Haarloden!“

      „Nun ist aber Schluss! Wie redest du denn über deine Lehrerin? Das ist ja ein Skandal, mit welcher Respektlosigkeit du diese gebildete Frau hier verbal behandelst!“

      An einem Abend – zwei Jahre nach Kriegsende – holte ich meine Mama, wie fast jeden Tag, vom Gemeindeamt ab. Es war 20 : 00 Uhr und bereits ziemlich dunkel. Wie üblich, ging ich zu dem rechten Hochparterrefenster, hinter dem ihr Arbeitsraum war, stieg auf die Sohlbank des darunter befindlichen Kellerfensters und klopfte dreimal an das Fensterglas. Von innen kam die äußerst fröhliche Antwort: „Koooooomme gleich, Klausmann.“ Ich wartete. Da es mir aber zu lange dauerte, ging ich die paar Stufen hoch, durch die Haustür und dann rechts rein durch die Tür, an der Gemeindeamt stand. Ich trat ein in einen großen Raum, welcher aber, schon nach reichlich zwei Metern, durch einen Tresen von dem übrigen Arbeitsbereich getrennt war. Es war so, wie ich es eigentlich schon kannte – ich sah Frau Walther, welche wie immer (anders hatte ich sie eigentlich noch nie gesehen) äußerst fleißig arbeitete. Sie hatte handschriftliche Unterlagen vor sich liegen, wobei sie den linken Teil in die Höhe hielt, etwas suchte und dann in eine Tabelle übertrug. Mutti stand daneben und sagte in etwa so: „Ursula, du musst den Umsatz in Getreide, Ergebnis pro Bauer, auflisten und das hier dann in der Tabelle erfassen.“

      „Das ist aber mit einer unheimlichen Sucharbeit verbunden, Gretel, wie kommt das Kreisamt nur auf den Termin morgen?“ Mutti holte mitleidvoll tief Luft. „Du weißt, Ursula, für mich bist du der wahre Bürgermeister. Ich bin morgen früh pünktlich da und helfe dir. Jetzt muss ich erst mal mit dem Klaus gehen.“

      „Ja, ja, Gretel, gehe nur – ich tue mein Bestes!“ Für mich war aber kaum zu übersehen, dass Muttis Freundin Ursula arg strapaziert wirkte und abgekämpft war. Als wir zusammen gingen, sagte ich ihr dies. „Ach, mein kleiner Klaus, das Leben ist manchmal gar nicht so einfach. Die Ursula ist eine ganz liebe Freundin von mir und wahnsinnig ehrgeizig. Sie will immer alles allein machen, ist aber nicht die schnellste. Bei der Sache, die sie jetzt bearbeitet, durfte ich ihr nicht helfen. Da hat sie ganz einfach ihre schon fast krankhafte Strebsamkeit, alles allein schaffen zu wollen, in etwa so: Da muss ich durch – wenn ich dies allein für das Kreisamt fertig bringe, fragen die sicherlich, wer das denn so rasch zusammengestellt hat und ich habe dann meinen Platz hier im Gemeindeamt gesichert. Eventuell hat ja die Gretel Recht, wenn sie sagt, ich sei der eigentliche Bürgermeister – und nicht der Jupp. Vielleicht werde ich sogar dazu berufen?

      Als wir zusammen ein paar Minuten gelaufen waren, erschreckte uns plötzlich eine Stimme aus der Dunkelheit. „Gretel, bist du es?“

      „Kann das wahr sein? Herbert, duuuuuu etwa?“ Dann stürmte Mutti zu dem fremden Mann und umarmte ihn fest und inniglich. Beide strichen dem anderen, soweit ich das in der Dunkelheit erkennen konnte, mit ihren Händen über den Kopf, die Schultern, die Brust, den Bauch und sogar den Hintern. Mich verwunderte diese gegenseitige Abtasterei (heute würde ich sagen – es war schon fast ein Abscannen der Figur des anderen) enorm. Ich war wieder einmal unbeteiligt und begriff nur scheibchenweise. Außerdem ließen mich die beiden ziemlich lange, sehr lange – sie hatten ja offensichtlich ihre Befingerungsaufgaben exakt zu erfüllen – abseits liegen. Es erschallten laute Freudenrufe, danach wurde geschmatzt und geknutscht – es nahm kein Ende. „Und ich erst! Wir haben uns so ewig lange nicht gesehen!“ Erneute Umarmung, Umarmung lösen, neue Umarmung, schmatzender Kuss, glucksender Kuss, ein Kuss, den man nicht hören konnte. Ich wartete – steif und beleidigt. Heute als Erwachsener würde ich so formulieren: Ich wartete ziemlich entnervt und überlegte bereits ernsthaft, ob ich nicht vielleicht besser zur Ursula, also Frau Walther, zurückgehen sollte, denn da wäre ich sicherlich besser aufgehoben. Da plötzlich: „Hier ist auch der Klaus.“ Na, so etwas, an mich erinnerte man sich also auch noch – ganz toll, waren so meine Gedanken. Der Mann, wo ich nun wusste, wer es war, kam zu mir, umarmte mich, kramte in der Jackentasche und drückte irgendwas in meine Hände. Es fühlte sich an wie kleine Bausteine mit Ecken und Kanten. „Klaus, für dich, zum Spielen.“ Mutti drängte. „Komm, Herbert’l, wir gehen ins Gemeindeamt, damit wir uns einmal anschauen können.“ Bravo, bezaubernd, es geht rückwärts. Da hätte ich auch gleich zur Ursula gehen können. Mutti schloss zweimal auf und machte Licht. Frau Walther war nicht da. Ich erfuhr am nächsten Tag, dass sie die gesamte Arbeit mit nach Hause genommen hatte. Nun ging die Knutscherei aber erst richtig los. Ich war verblüfft, hatte ja aber die Bausteine mit Ecken und Kanten. Letztlich entpuppten sie sich als kleine Männlein, Zwerge, Bauern, Ringer, Reiter und Pferde aus Holz, hübsch geschnitzt, sie gefielen mir. Dann wandte sich der Mann an mich. „Groß geworden, Klaus, wie geht es dir? Gefällt es dir in der Schule? Hast du ordentliche Zensuren?“ Natürlich gefiel mir die Fragereihe keineswegs. Außerdem kam mir der Mann, der offensichtlich vorgab, mein Vater zu sein, äußerst fremd vor. Schemenhaft konnte ich mich besinnen, dass ich ihn einmal gesehen hatte, als er kurz auf Urlaub war. Mal sehen, wie sich die Sache mit ihm so anlässt und entwickelt, beruhigte ich mich selbst. Anschließend gingen wir dann nach Hause, wo sich alles um unseren neuen Gast, also meinen Vater, drehte. Mutti brachte mich auch nicht ins Bett wie sonst, sein Kommen war also nicht unbedingt ein Vorteil für mich. Am nächsten Morgen war der Neue nicht mit beim Frühstück anwesend. Auf meine Frage antwortete Mutti: „Vati musste jetzt erst einmal schlafen – der hat ja unheimliche Anstrengungen und Entbehrungen hinter sich. Kannst du das verstehen, Klausmann?“ Ich konnte. Zum Mittagessen war Vater dabei und sogar Mutti schaute kurz einmal für zehn Minuten zu uns herein. Das hatte es bisher noch nie gegeben – sie war immer den gesamten Tag im Gemeindeamt und kam erst am späten Nachmittag nach Hause. Plötzlich sagte Vater – zuvor kniff er mir zweimal freundlich in die rechte Wange: „Ich würde mir heute gern einmal das Dorf anschauen, das Gemeindeamt, wo Mutti arbeitet und so weiter und so fort. Du kommst doch mit, Klaus?“

      „Das wird schlecht gehen, ich muss noch im Rechnen ein paar Aufgaben lösen und ein kurzes Gedicht lernen.“

      „Wir beschränken uns nur auf eine Stunde oder vielleicht nur fünf Minuten darüber.


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