Das Akkordeonspiel. Gerald Netsch
nach vorn. Das letzte Mal, als ich auf Ausritt war, steckte mir Tante Hedel eins von ihren selbstgenähten Kissen unter meinen Po.
„Da hast du einen schönen weichen Sattel“, sagte sie, „damit dir dein Porzellanpopochen nicht wehtut.“
Mit dem Polster galoppierte ich noch wilder und lauter den Flur entlang.
„Ein bisschen leiser, du Indianerhäuptling“, hat mich Oma auf Höhe der Küchentür damals gemahnt.
Das Essen ist fertig, Opa braucht jetzt Platz für sich. Bereitwillig gebe ich meinem großen Beschützer den Raum, den er beansprucht. Beide Hände auf der Tischplatte, so hat es mir Tante Hedel gezeigt, die neben mir auf dem Stuhl mit dem Rücken zum Fenster sitzt. Ich warte ungeduldig auf meinen Teller, der nur für mich ist, denn er zeigt auf dem Tellerboden einen Teddybär mit seinen zwei Kindern. Aber nur, wenn ich aufesse, sonst bleibt das Bild mit dem verdeckt, was sich noch auf dem Teller befindet. Ich will immer diese lustige Teddybärfamilie sehen, die so glücklich aussieht.
Nach dem Essen bereitet Oma Pflaumenkompott vor. Mama sagt sehr deutlich zu allen, sie müsse mal aufs Klo. Ich beobachte, wie sie in den Flur geht. Bevor sie außer Sichtweite am Schrank entlang Richtung Wohnungstür gerät, greift sie blitzschnell nach ihrer Handtasche, die an der Garderobe hängt, und verschwindet augenblicklich aus der Wohnung.
„Mama, bleib hier!“, schreie ich.
Ebenso schnell wie ich auf die Couch gekommen war, bin ich nun runter, durch die Beine derer, die wie erstarrt am Tisch sitzen. Weit komme ich nicht. Geistesgegenwärtig hält mich Oma am Arm fest, drückt mich an sich und sagt beschwörend:
„Mama kommt bald wieder und holt dich ab. Es ist nur für ein paar Tage.“
Ich reiße mich mit aller Kraft frei, werfe mich auf den Boden, trommle mit meinen Fäusten auf den Gummibelag, schreie und quicke. Ich verliere die Beherrschung. „Wie gemein die sind, stecken mit Mama unter einer Decke. Die haben genau gewusst, dass sie mich loswerden will. Die haben dieses böse Spiel mitgespielt!“
„Ich hasse euch“, schreie ich so laut ich nur kann. „Ich hasse euch, ich hasse euch“, schreie ich unaufhörlich.
„Jetzt ist es aber gut“, sagt Oma zornig. „Du hast keinen Grund, hier so ein Theater aufzuführen, schäm dich.“
„Ich hasse euch, ich hasse euch“, tobe ich weiter.
Ein fester Griff um meinen rechten Arm lässt mich kurz innehalten. Oma zieht mich nach oben, stellt mich auf die Füße und schiebt meinen wutbebenden Körper in die dunkle, kalte Speisekammer, die sich neben dem Fenster befindet. Als es dunkel um mich ist, beginne ich, wie wild an die Tür zu trommeln. Ich verstärke noch das Geschrei, brülle mir die Seele aus dem Hals. Es hilft nichts. Ich versuche mit letzter Kraft, nochmals die Lautstärke meines Klagegesangs zu erhöhen. Da höre ich den Schlüssel im Schloss. Es wird hell um mich, obwohl die Tür nur so weit offen steht, dass gerade eine kräftige, beharrte Hand hindurchpasst. Blitzschnell schnappt diese Männerhand zu, direkt an meiner Brust, da, wo der weiße Kragen des Matrosenhemdes am unteren Rand des Ausschnittes endet. So wie die Tür sich weiter öffnet, so entferne ich mich vom Boden, schwebe wie eine Feder an dieser großen behaarten Männerhand. Zwei stechende Augen durchbohren mich. In gleicher Augenhöhe erkenne ich das zornige Gesicht von Opa. All die Freundlichkeit ist aus seinen Gesichtszügen entwichen. Ich spüre den Luftzug im Gesicht, als er mit knirschenden Zähnen ausatmet. Er setzt mich unsanft auf meinem Popo ab.
Ich starre ihn mit aufgerissenen Augen an. Kein einziger Pips entweicht aus mir. Wie versteinert sitze ich da und weiß nicht, wie mir geschieht. Oma nimmt mich Häufchen Unglück vom Boden auf, drückt meinen zitternden Körper an ihre weiche Brust, an der ich mich sofort vor Scham verberge. Ich zittere noch immer. Das tränennasse Gesicht mit dem Rotz an der Backe bis runter zum Kinn vergrabe ich fest im Blusenstoff. Ich habe nur noch ein Bedürfnis – das Bett. Oma hat auch ohne Worte den Wunsch verstanden, sie knöpft mir die Hosenträger ab auf dem Weg ins kleine Zimmer, wo nie einer ist und wo jetzt die Couch mit Bettwäsche überzogen ist. Meiner Sachen entledigt und in den frisch gewaschenen, nach Kernseife riechenden Schlafanzug gesteckt, lasse ich mich in das neue Nest betten, welches die liebe Oma hergerichtet hat.
„Schlaf gut, morgen ist wieder ein schöner Tag, versprochen“, sagt sie und gibt mir einen Kuss auf die Stirn, der sich auf meiner Haut warm anfühlt.
„Guten Morgen, du Langschläfer. Aufgewacht, die Sonne lacht“, ruft Oma mit verhaltener Stimme.
Sie will mich nicht erschrecken. Mit dem Zeigefinger tippt sie mehrfach auf meine Nasenspitze.
„Schau, die warmen Strahlen kitzeln dich auf der Haut“, lächelt sie.
Langsam öffne ich die Augen. Blinzelnd, mit verklebten Wimpern vom vielen Schlafsand, blicke ich in ihr gütiges Gesicht. Ihre grauen, streng nach hinten zum Zopf geflochtenen Haare verstärken den Ausdruck der typischen Oma, der Märchenerzählerin, der Eierkuchenbäckerin, der Frau, die die Betten schüttelt, damit es auf der Erde schneit. Ich werfe die Decke von mir und springe hoch, klammere mich Oma fest um den Hals. Ganz eng sind wir aneinander geschweißt, eins geworden. Mit mir als Halskette steht sie auf, verschränkt die Arme um mich und trägt mich in die Küche. Es duftet angenehm mit einem Hauch von Weihnachten, obwohl erst Herbst ist.
Ich darf wieder auf meinen Thron auf der Couch neben Opa steigen, der aber längst zur Arbeit ist. Auch Tante Hedels Platz am Fenster vor der Speisekammer, an deren Inneres ich mich nicht gern erinnere, ist frei geblieben. Oma muss meinen suchenden Blick erkannt haben, denn sie klärt mich auf.
„Hedel ist in der Näherei, sie sitzt an einer ganz großen Nähmaschine und näht Überzüge für Polstermöbel, so wie hier bei der Couch der Stoff. Opa arbeitet in einer Fabrik, fast ganz am anderen Ende der Stadt. Er fährt jeden Tag fast über eine Stunde mit dem Fahrrad auf Arbeit. Er ist Spitzenbohrer. Er bohrt Löcher in Platten. Winzige, in unzähligen Reihen und genau ausgerichtet. Er muss sehr gut aufpassen, dass er alles richtig macht. In der Woche sind die beiden sehr fleißig und können sich nur an ihrem freien Tag ausruhen. Das ist der Sonntag. Da arbeitet niemand, da kann man all die Dinge machen, zu denen sonst keine Zeit ist.“
„Und was macht man da, Oma?“, frage ich neugierig.
„Man geht in den Garten oder wandert irgendwohin, wo es schön ist. Und wenn es regnet oder das Wetter nicht so schön, dass man rausgehen kann, dann bleibt man zu Hause, macht es sich gemütlich und spielt Karten oder hört Musik. Man kann sich auch unterhalten, erzählen, was es Neues gibt.“
„Muss man sich dann auch anschreien?“
„Natürlich nicht. Jeder soll ganz normal mit dem anderen reden, so wie wir beide. Wie kommst du darauf?“
„Na ja, zu Hause schreien sich Mama und Papa immer an und sagen lauter böse Dinge zueinander.“
„Nein, so ist das nicht bei uns. Musst einfach drauf achten, wie man richtig miteinander spricht. Das ist für dich, wenn du mal groß bist, auch sehr wichtig“, teilt Oma mir ihre erste Lebensregel mit.
Das Frühstück in meiner neuen bekannten Umgebung ist lecker. Oma ist eine richtige Zauberin. Aus Schalen von Kakaobohnen hat sie Tee gekocht und ganz viel Milch reingetan. Das Brot bestreicht sie mit Quark und obenauf selbstgemachter Marmelade. Oma hat die Scheibe in kleine Stücke geschnitten. Ich schaufle eins nach dem anderen in mich hinein. Danach schält sie extra für mich einen Apfel, schneidet ihn auf und entfernt das Kerngehäuse. Er schmeckt genau so lecker wie alles, was ich schon in mich hineingestopft habe.
„Der ist noch von der letzten Ernte, vom vorigen Jahr. Wir legen die Äpfel im Keller in Stiegen, da bleiben sie lange frisch und man kann welche essen, wenn noch keine neuen am Baum reif sind“, teilt Oma mir ihre zweite Lebensregel mit.
Mit halb geöffnetem Mund strahle ich sie an. „Toll, was sie alles weiß“, denke ich.
Der Tag vergeht wie im Fluge. Mittags kocht Oma, wieder extra für mich, Vanillepudding mit einem kleinen Stückchen gute Butter drin. Das verfeinert den Geschmack, flüstert sie geheimnisvoll und hält den Zeigefinger