Das Akkordeonspiel. Gerald Netsch

Das Akkordeonspiel - Gerald Netsch


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Klaps auf den Hinterkopf erinnert mich daran, dass Opa mir den Platz an der Handwagendeichsel zugewiesen hat. Mit einem kurzen Satz springe ich dorthin, erfasse das Stück Holz und wie ein Pferd, welches eben vor den Wagen gespannt ist, beginne ich loszumarschieren. Tante Hedel und Opa folgen mir mit wenigen Schritten Abstand. Oma, so haben mir beide gesagt, komme später nach, sie räume noch die Wohnung auf und könne später allein und langsamer gehen. Da sie es mit der Hüfte hat, hinkt sie und braucht länger für den Weg.

      Nach der Post, als ich rechts in die „Heppe“ einbiege, einem Versorgungsweg, der steil hinaufführt bis zu der großen breiten Straße, die ans Ende der Welt führt, übernimmt Opa das Kommando. Er, als ganz starkes Pferd, zieht mühelos den Wagen hinter sich her. Tante Hedel hat mich an die Hand genommen und findet es lustig, dass ich so ausgelassen neben ihr her hüpfe. Auch sie sieht merkwürdig heiter aus, denke ich und erinnere mich, dass ja heute Sonntag ist. Daran muss es liegen, stelle ich fest.

      Im Garten angekommen, bringen wir gemeinsam unsere Schätze in die dunkle Gartenlaube. Heiß ist es darin. Die Sonne hat in der kurzen Zeit, seit sie am Himmel steht, das Innere zu einem Brutkasten für Küken aufgeheizt. Ich ziehe mir meine geliebte Popelinehose und das Matrosenhemd aus und begebe mich auf Entdeckertour.

      Opa und Tante Hedel verschwinden in der Gartenlaube. Quietschend schließt sich die Tür hinter ihnen. Das Geräusch ist mir nicht entgangen, weckt jedoch nicht mein Interesse, denn ich bin auf der Suche nach dem Maulwurf, der zwischen den Radieschen einen Erdhaufen aufgeschüttet hat. Ich grabe und grabe, kann ihn aber nicht ausfindig machen. „Hier muss schweres Gerät ran“, denke ich und eile auf die Rückseite der Gartenlaube, wo die Spielgeräte lagern. Genau das, was ich brauche, ist spurlos verschwunden. Die Schaufel ist unauffindbar.

      Dafür wecken seltsame Geräusche meine Neugier, die aus dem Inneren der Gartenlaube dringen. Ich höre deutlich Tante Hedel stöhnen, ab und zu schreit sie halblaut auf. Zwischendurch stimmt Opa mit einem Schnaufen ein, als hätte er gerade einen Dauerlauf hinter sich. Erstaunt, was dort wohl geschieht, eile ich zu der Laubentür und öffnete sie einen Spalt.

      „Tür zu!“, schreit Opa markerschütternd, sodass ich vor Schreck die Tür zuknalle.

      Etwas habe ich schon gesehen, doch keine Erklärung dafür – nämlich Opas Popo. Tante Hedel stand ganz nah bei ihm. Eingeschüchtert verziehe ich mich zu meinen Spielsachen hinter der Laube. Viel leiser als zuvor dringen Stöhnen und Schreien noch zu mir. Nur das Opas Schnaufen ist verstummt. „Wohl weil er seinen Dauerlauf beendet hat“, rede ich mir selbst ein. Nach einer Weile biegt Opa um die Ecke. Er ist schweißüberströmt, baut sich vor mir auf und belehrt mich.

      „Wenn einer von uns, auch Oma, in der Gartenlaube ist und die Tür hinter sich schließt, dann ist das für dich Tabu. Dann ziehen wir uns nämlich um und da hast du nichts zu gaffen. Verstanden?“, knurrt er mich ärgerlich an.

      Ich zucke zusammen, blicke reumütig an dem Riesen entlang nach oben und wimmere halb schluchzend:

      „Ich mach das nie wieder, Opa, versprochen.“

      „Das will ich hoffen. Verstanden? Und zu Oma kein Wort. Ist das klar?“, fragt er noch strenger als zuvor.

      Kleinlaut presse ich ein „Ja“ hervor, meine Augen füllen sich mit Tränen.

      „Dann ab, geh spielen“, sagt Opa, nun schon versöhnlicher.

      Ich flitzte um die Ecke, laufe schnurstracks zum Maulwurfhügel und grabe mit den bloßen Händen weiter, als wenn ich mich selbst eingraben wollte. Ich schäme mich für die Neugierde und das erhöht mein Buddeltempo. Der Maulwurf hat sich längst verkrochen, nach einer Weile gebe ich auf. Ich stelle mich zur Abwechslung auf die Fußbank an der Regentonne, beginne ausgiebig meine schmutzigen Hände zu waschen.

      Tante Hedel gesellt sich zu mir. Auch sie war vorhin schweißüberströmt und puterrot im Gesicht. „Das Umziehen muss sie sehr angestrengt haben“, denke ich mit einem mitleidigen Blick.

      „Bist doch ein ganz lieber Junge“, lobt sie mich, wieder mit diesem merkwürdig fröhlichen Lächeln.

      Im nächsten Moment ist ihr Kopf in der Regentonne bis zum Halsansatz im Wasser verschwunden. Luftblasen blubbern an den Ohren vorbei an die Oberfläche. Kurz bevor sie wieder auftaucht, prustet sie die restliche Luft gluckernd aus ihrer Lunge. Dann wirft sie den Kopf in den Nacken und schüttelt so einen Teil des Wassers ab. Mit den Händen nimmt sie eine Portion kühlende Erfrischung aus dem Fass und bespritzt damit gehörig mein Gesicht.

      „So, das war für deine Neugierde, mein Kleiner“, lacht sie.

      Ich versuche, sie ebenfalls vollzuspritzen, aber sie ist schon kichernd zwischen den Beeten davon.

      Ich vertiefe mich wieder in meine Jagd nach dem Maulwurf. Mit einem Stock bohre ich noch tiefer in den ehemaligen Erdhaufen, an dessen Stelle durch mein Graben ein beachtliches Loch entstanden ist. Ich stochere darin herum, nehme Erde heraus und werfe sie auf die Seite.

      „Das machst du gleich wieder zu“, ordnet Opa an, der jetzt plötzlich hinter mir steht.

      „Was soll das eigentlich werden, gräbst du nach Gold? Da wirst du hier keines finden“, fragt er neugierig nach.

      „Ich suche den Maulwurf. Vorhin war er noch hier, in diesem Haufen war er, wo ich mit dem Stock reinsteche. Ich find ihn aber nicht“, maule ich.

      „Pass mal auf, du Maulwurfjäger, du wirst damit keinen Erfolg haben, auch wenn du den ganzen Garten umgräbst“, klärt mich Opa auf. „Maulwürfe sind sehr schlaue Tiere, die haben unter der Erde Gänge gegraben und wenn du hier gräbst, ist er vielleicht schon da oder dort oder dort.“

      Opa umschreibt mit seinem Arm einen weiten Bogen, vom Gartentor bis zur Laube.

      „Da nützt dir dein Gebuddel gar nichts, mach das Loch wieder zu, sonst lacht er dich noch aus, wenn er dir von da vorne zuschaut.“

      Tante Hedel tritt an ihn heran und flüstert, sodass ich es nicht hören soll:

      „Maulwürfe sind blind.“

      „Das weiß ich, aber er glaubt es“, er nickt in meine Richtung.

      „Egal, ob er sehen kann“, murre ich lautlos und werfe das Loch enttäuscht wieder zu. Die Jagdlust ist erloschen. Ich versuche es jetzt als Sammler. An den Sträuchern entlang der Grenze zum Nachbarn, wo die Erdbeeren wachsen, hängen jede Menge rote, gelbe, schwarze und weiße Früchte. Nur die Hand ist zu klein oder der Appetit zu riesig. Mit ein paar Beeren in der Hand gehe ich zu Tante Hedel, damit sie mir hilft, am besten mit einer großen Schüssel. Aber ich werde schon wieder gebremst in meinem Tatendrang.

      „Bevor du Beeren anfasst, wasch dir die Hände, die sind ja schwarz vor Dreck“, weist mich Tante Hedel an.

      Ich mustere sie, finde sie überhaupt nicht dreckig, gehe trotzdem zum Regenfass, stecke aber erst die saftigen Schätze in den Mund. Ich halte beide Arme in das Wasser, schwenke sie ein paar Mal im Kreis und fertig ist die Wascherei. „Die werden sowieso wieder dreckig“, denke ich. Tante Hedel hat ihren Willen, ich bekomme die Schüssel und los geht’s. Von jedem Strauch pflücke ich mir ein paar Beeren. Schnell ist die Schale voll.

      „Tante Hedel, wäschst du mir die Früchte und tust Zucker drauf?“, rufe ich in ihre Richtung. Sie reagiert nicht.

      „Tante Heeeedel“, rufe ich lauter, „wäschst du mir die Beeren und tust Zucker drauf?“

      Wieder keine Reaktion. Sie muss mich doch aber gehört haben?

      „Versuch es doch mal mit ‚bitte‘“, flüstert mir Opa im Vorbeigehen zu.

      Mit dem Wort „bitte“ voran wiederhole ich das Ganze nun noch einmal.

      „Na siehst du, es geht doch“, schmunzelt Tante Hedel und kommt endlich zu mir. Nach so viel Arbeit muss ich mich nun ausruhen. Mit der Schüssel voller Beeren und dem Zucker darüber setze ich mich in den Liegestuhl, den Opa für Oma aufgebaut hat.

      „Na, wer futtert denn schon wieder?“, ruft Oma fröhlich und schließt soeben das Gartentor


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