Das Akkordeonspiel. Gerald Netsch
Zum Trost werde ich am Abend von Tante Hedel mit besonders leckeren Eierkuchen belohnt. Zu den Eiern, immer zwei mehr als bei Oma, gießt sie zum Schluss, wenn sie alles verrührt hat, noch einen Schluck Selterswasser dazu. „Das macht sie ganz luftig“, hat sie mir ins Ohr geflüstert, damit es Oma und Opa nicht hören sollen. Ich bleibe verschwiegen wie ein Grab und verrate keinem das Geheimnis, auch nicht, als Opa mich auskitzelt.
Wochen vergehen ohne Lebenszeichen von Mama und Papa. Aber dann ist es so weit. Papa holt mich ab, mit Handwagen. Opa hat von Herrn Schuster, von der Wohnung gegenüber, ein fast neues Bett für mich bekommen, geschenkt, und einen Metallbaukasten. Mit dem spiele er sowieso nicht mehr, er sei aus dem Alter raus, hatte Herr Schuster gesagt.
Stolz trage ich den Schatz mit den unzähligen Metallstreben, Schrauben und Muttern nach unten. Oma hat um den Pappkarton einen großen Gummi gemacht, damit ich unterwegs nichts verliere. Das Bett auf dem Handwagen festgezurrt, meinen Karton sicher verstaut, ich als Kutscher obenauf und Papa als Zugpferd an der Deichsel, so geht es durch die ganze Stadt. Endlich kommen wir an dem Haus mit der neuen Wohnung an.
„Hurra“, freue ich mich, als Mama von dem extra Kinderzimmer berichtet.
Als ich drin bin, in dem vermeintlich eigenen Raum, ist die Freude vorbei. Am Fenster steht schon das Bett vom Ekel, das mich, auf dem Kopfkissen sitzend, angrinst und mir die geballte Faust zeigt. Ich begrabe alle meine Pläne und beschließe, mich für seine Gemeinheiten zu revanchieren. Stolz trage ich den Metallbaukasten in die neue Wohnung, stelle ihn auf das gerade errichtete Bett, welches meines ist, und zeige überschwänglich auf die Errungenschaft.
„Das blöde Bett kannst du behalten. Aber für den Baukasten bist du noch viel zu klein und zu doof. Kannst noch nicht mal mit Schraubenzieher und Mutterschlüssel umgehen“, erklärt er großkotzig und greift nach dem Schatz.
Für nichts in der Welt gebe ich den her. Ich trete dem Ekel kräftig gegen das Schienbein, so wie er es schon öfters bei mir gemacht hat. Schmerzverzerrt zieht sich sein Gesicht in Falten. Mit dem Karton im Arm nehme ich Reißaus, komme aber nur bis zur Kinderzimmertür. Wolfgang, dieses Ekel, ergreift meine Haare und zieht mich daran zu Boden. Ich beginne zu schreien, mit Händen und Füßen zu schlagen und zu treten. Der Baukasten hat bereits den Besitzer gewechselt. So schnell gebe ich aber nicht auf. Ich springe ihn von hinten an, klammere mich mit aller Kraft um seinen Hals und beiße ihm wutentbrannt in die Schulter und danach ins Ohr. Jetzt schreit auch er. Ich will gerade zum zweiten Angriff übergehen und ihm das Ohr einfach abbeißen, da reißt mich Mama von ihm weg, gibt mir links und rechts eine Ohrfeige und stößt mich auf das Bett. Mein Bruder wird von ihr begutachtet, beruhigt und über den Kopf gestreichelt, nur ich liege weggestoßen und verachtet auf dem Bett, keiner tröstete mich, im Gegenteil.
„Der Baukasten gehört ab jetzt Wolfgang. Für so etwas bist du noch zu klein. Außerdem seid ihr Brüder und sollt teilen. Also: Du bekommst das neue Bett und er den Metallbaukasten. Kein Wort will ich mehr hören. Aus!“, schreit sie mich an und zerstört das letzte kleine Stück heile Welt.
Ich vergrabe das Gesicht im Kopfkissen, Tränen durchtränken den Bezug. „Ich will tot sein und begraben in der Erde. Mama ist nie mehr meine Mama. Sie ist nun die Mutter, die mich nicht verdient hat. Sie wird am Grab sitzen und weinen, wie ich jetzt, und niemand wird sie trösten. Ihr Karl liegt da unten und kommt nie wieder, nie mehr“, denke ich voller ohnmächtiger Wut. – Nur, wie ist man tot? Darauf finde ich keine Antwort.
13. Kapitel
Susanne hat das Krankenhaus verlassen. Sie hasst den Geruch von Desinfektionsmittel, der im Inneren dominiert. Dieses Sterile, die furchteinflößende Stille, das unheimliche düstere Licht, die unendlichen Gänge, all das legt sich auf Susannes Gemüt. Sie muss auf andere Gedanken kommen, jetzt endlich, da es doch einen Schimmer von Hoffnung gibt. Sie geht nicht direkt Richtung Bahnhof, sondern läuft einen Umweg durch die Stadt mit den Einkaufspassagen, den bunten Läden und schillernden Schaufenstern. Endlich, nach vielen Tagen und Wochen nimmt sie sich Zeit, ihr Umfeld wieder bewusst wahrzunehmen. Bisher war sie wie von Geisterhand gesteuert zwischen Bahnhof und Krankenhaus gependelt, keinen Zentimeter vom Weg abweichend. Sie erschrickt über das schrille Lachen von drei Mädchen, die ausgelassen an ihr vorbeilaufen. Sich nach ihnen umblickend stößt sie unvermittelt gegen eine alte kleine Frau mit Gehstock.
„Kannst nicht aufpassen, rennst mich ja um?“, ruft sie Susanne zu, die erschrickt und wortlos, jetzt den Schritt beschleunigend, weiter eilt. „Nur schnell weg von hier, raus aus dem Trubel, zurück in meine traurige Welt“, denkt sie. Susanne wird plötzlich bewusst, dass sie noch nicht reif ist für diese mit Leben und Freude erfüllte Welt. Es ist noch eine andere ihre Welt, so einsam sie ist, ohne Karl, in der Ungewissheit lebend, ob alles wieder so wird, wie es war.
Abends sitzt sie im großen Sessel, den sie gemeinsam kauften, der aber nur von ihr genutzt werden darf. Sie hat seit Jahren von ihm Besitz ergriffen. Er ist ihr Rückzugspunkt. Jetzt liegt auf dem Schoß ein Ordner mit der Beschriftung „Karl privat“. Ihr ist er hinter der Tür nie so ins Auge gestochen. Aber nun, wo Karl nicht da ist, will sie ein Stück von ihm in den Händen halten. Nie war sie neugierig auf den Inhalt dieses Ordners „Karl privat“, hat ihn wie selbstverständlich über die Jahre wahrgenommen, wie er so dastand in Reih und Glied mit den anderen, die im Inneren akkurat abgeheftet Antworten geben zu Auto, Versicherungen, Energie und Telefon. Sie schlägt den prallen Ordner auf, der, mit Einlegern gekennzeichnet, einen Überblick bietet über die monatlichen Lohn- und Gehaltsabrechnungen der verschiedenen Arbeitsstellen von Karl. Ein Lächeln huscht ihr über das Gesicht und für einen kurzen Moment spürt sie die Wärme im Inneren. Sie denkt an den Seniorchef, den Patriarchen, den liebenswerten aber auch unduldsamen und herrschsüchtigen Mann. Sie hatte ihn gemocht, so wie er war, mit all seinen Ecken und Kanten.
Hinter dem nächsten Einleger kommt das Zeugnis der IHK München und Oberbayern zum Vorschein. Auf dem Prüfungszeugnis steht, dass er mit „Befriedigend“ die Ausbildung zum Industriekaufmann bestanden hat. „Ja, da hat er sich wahrlich nicht angestrengt, hat die drei Jahre auf einer Arschbacke abgesessen“, denkt Susanne und grinst, „aber er hat bestanden.“ Wie doch ein solches Papier eine ganze Lebensgeschichte erzählen kann.
Sie will weiteren Gedanken keine Chance lassen, hat bereits den nächsten Einleger umgeblättert. Ah ja, die Bayerische Staatsgemäldesammlung, auch eine kurze Station im Berufsleben, eigentlich eine Zwischenstation für ein Jahr. Die Stelle hatte er sich aus den Stellenanzeigen der Süddeutschen Zeitung herausgeschnitten, damals, als sie von Sachsen nach Bayern gezogen waren und er den zweiten Monat arbeitslos war. „Von Bildern habe ich keine Ahnung, dort kann ich bestimmt etwas dazulernen“, hatte er seine Bewerbung begründet und war als Aufsichts- und Sicherheitskraft eingestellt worden.
Jetzt kommt die wilde Zeit in Sachsen, an die sie sich lieber nicht erinnern will. Flüchtig überblättert sie die einzelnen Abschnitte bis hin zur Armeezeit, die auch so ein Kapitel für sich war. „Während dieser Zeit haben wir uns kennengelernt, haben schöne aber auch schmerzhafte Momente erlebt“, ihr Blick verschwimmt, bevor ihr die Tränen in den Augen schießen, hat sie schnell bis zum letzten Einleger umgeschlagen. Vorn auf sieht sie das Urteil im Namen des Volkes in der Scheidungssache Karl und Ilse Nebel. „Kenne ich“, denkt sie und blättert weiter in den verbleibenden Seiten.
„Das gibt es doch nicht“, ruft Susanne plötzlich aus und ist erschrocken, ihre eigene Stimme zu hören, „die Rede der Standesbeamtin zu unserer Eheschließung“, ergänzt sie etwas leiser. Das Manuskript hatte sie nach der Zeremonie auf Bitten von Karl ihm überlassen. Noch immer überrascht von dem Fund überfliegt sie die vier Seiten und beschließt, sie morgen mitzunehmen zu Karl ins Krankenhaus. „Das wird ihn bestimmt freuen und vielleicht erwacht er vor lauter Freude.“ Susanne lächelt vor sich hin und die Vorfreude auf den morgigen Tag lässt ihre Bauchmuskeln vibrieren. Mit zitternden Händen heftet sie die Seiten aus. Als sie den Spanner des Ordners wieder schließt, entdeckt sie die vergilbten Blätter kleinkarierten Papiers, die sich hinter der Rede verborgen hatten. Die Überschrift auf der ersten Seite in der Handschrift, die eindeutig Karls ist, lässt ihren Atem stocken. „Versuch der Analyse einer gescheiterten Ehe“ datiert