Das Akkordeonspiel. Gerald Netsch

Das Akkordeonspiel - Gerald Netsch


Скачать книгу
Liegestuhl.

      „Das ist ja eine Sauerei, die du da gemacht hast. Da klebe ich ja fest, wenn ich mich reinsetze“, sagt Oma vorwurfsvoll.

      „Musst du halt erst abwischen“, gebe ich ihr zur Antwort und klaube die Beeren vom Liegestuhl. Ich brauche eine ganze Weile, bis ich alle aufgelesen habe. Mit meiner leeren Schüssel gehe ich zu Oma, halte sie ihr stolz hin:

      „Alles aufgegessen, und auf deinem Liegestuhl liegt auch nichts mehr.“

      „Na, da gehe ich doch lieber erst einmal nachschauen, ob das auch stimmt, was du mir da erzählst“, sagt sie mit einem Lächeln im Gesicht und dem Lappen in der Hand.

      Ich freue mich, wie schön es hier im Garten ist und dass ich Mama und Papa eigentlich gar nicht vermisse. In diesem Moment stellt sich Traurigkeit ein. Ich laufe ums Gartenhaus, setze mich in die Spielecke, unschlüssig, was ich mit mir und der Welt anfangen soll. Dann nehme ich den kleinen Metalleimer ohne Henkel und fülle Sand hinein. Als er voll ist, klopfe ich mit der Schaufel den Sand fest und stülpte den Eimer um. Oma hat mir gezeigt, wie man Sandkuchen backt. Genauso, wie ich es jetzt mache. Ich ziehe die Form vorsichtig nach oben weg und betrachte mein Kunstwerk, welches keines geworden ist. Wutentbrannt schlage ich auf den Sandberg ein, mache in platt. Immer wieder schlägt die Schaufel auf den kümmerlichen Sandhaufen.

      „Der Sand kann aber nichts dafür, wenn dir eine Laus über die Leber gelaufen ist“, spricht Oma ganz ruhig, tritt an mich heran, kauert sich zu mir.

      Einen Moment schaut sie mir ins Gesicht, nimmt mich dann kurz entschlossen auf den Schenkel und drückt meinen bebenden Körper an ihre weiche warme Brust.

      „Weine ruhig, das erleichtert, das vertreibt die bösen Gedanken“, flüstert sie mir ins Ohr und streichelt mir über den Kopf.

      Sie hat den Kummer, der mich so fest gepackt hat, erahnt. Nach einer Weile beruhige ich mich. Sie dreht mein Gesicht zu ihrem Mund und ein dicker Kuss landet auf der Stirn.

      „Musst nicht traurig sein, Mama und Papa sind doch immer für dich da. Sie haben nur gerade so viel zu tun, müssen lange arbeiten und Geld verdienen, deshalb dachten sie, dass du eine Weile bei uns wohnst. Dir gefällt es doch bei uns. Brauchst in keinen Kindergarten mehr, musst nicht so zeitig aufstehen, kannst in Ruhe frühstücken. Das ist doch fein. Oder?“, fragt sie, obwohl sie die Antwort kennt.

      „Hab dich lieb, ich hab euch alle lieb. Bei euch ist es so schön“, schluchze ich und drücke Oma so fest ich kann.

      „Weiß ich doch, wir dich auch“, sie gibt mir nochmals einen Kuss.

      „Jetzt muss ich aber hoch, mir tut das Bein weh“, stöhnt sie und rubbelt meine Haare, aus denen ein paar Sandkörner rieseln.

      „Kannst mir helfen beim Mittagessen machen“, bietet sie mir an.

      Bereitwillig folge ich ihr in die Gartenlaube. Dort steht bereits Tante Hedel, prüft die Kartoffel im Topf, ob sie schon weich sind.

      „Müssen noch ein Weilchen“, sagt sie laut zu sich selbst.

      Ich darf das Kompottglas aus der Tasche herausnehmen. „Mm, Pflaumen, lecker“, stelle ich für mich fest. Oma setzt das Eisen des Glasöffners am Gummiring an und ich darf ganz sachte den großen Hebel nach unten drücken. Der Ring gibt nach und der Deckel springt vom Glas. Zur Belohnung, weil ich das so gut gemacht habe, fischt mir Oma eine Pflaume aus dem Glas.

      „Mund auf“, befiehlt sie und lässt das Stück im großen Bogen in meinen weit geöffneten Mund fliegen.

      Dann helfe ich, die gefüllten Kompottschüsseln zum Tisch zu tragen und zu verteilen, wobei ich sehr genau darauf achte, dass die vollste Schüssel bei mir steht. Wieder komme ich in die Küche und nehme die Kartoffelschüssel. Vorsichtig, als würde ich rohe Eier auf Löffeln tragen, bringe ich die gute Porzellanschale hinaus. Oma hat derweil das Fleisch geschnitten und auf eine Platte gelegt, Tante Hedel gießt die Soße in ein Kännchen.

      „Ab auf deinen Platz und Füße stillhalten“, kommandiert Oma.

      Also sause ich los, rutsche auf der Bank bis zu meinem Ende und nehme dort eine erwartungsvolle Position ein. Nachdem wir alle sitzen, geht das große Essen los. Ich bekomme natürlich die besten Stücke, danach Opa und den Rest teilen sich die beiden Frauen. So ist es immer, wenn wir gemeinsam speisen. Noch besser ist es allerdings, wenn Tante Hedel ihr Eigenes gekocht oder Salat anders zubereitet hat. Dann bekomme ich von sowohl Oma als auch von Tante Hedel das beste Stück und noch eine doppelte Portion vom Salat. Schließlich muss ich von allem kosten. Ich bin der Verkoster. Nach dem Essen, wenn ich alles in mich hineingestopft habe, machen Opa und ich Bauchmessen, wer den größten und dicksten Bauch hat. Ich drücke meinen raus, halte ihn stolz Opa entgegen, der seinen ebenfalls anspannt. Gewinnen tue ich nie, Opas Bauch ist immer größer und dicker. Heimlich schwöre ich mir jedes Mal, dass ich, wenn ich groß bin, Opa mit meinem noch viel größeren Bauch besiegen werde. Als wenn Opa die Gedanken erraten hätte, streicht er über die kleine Kugel und meint spöttisch:

      „Da musst du dich schon noch ein bisschen anstrengen.“

      Susanne wischt sich das Gesicht ab. Blickt prüfend in die Scheibe vor ihr. Draußen ist es inzwischen dunkel geworden und so kann sie sich deutlich wie in einem Spiegel betrachten. Gealtert ist sie in diesen paar Wochen, hat tiefe Augenringe und eingefallene Wangen bekommen, stellt sie am Ebenbild fest. Sie gibt sich einen Ruck und holt die Gegenwart zurück. Sie will heute keine traurigen Gedanken mehr haben. „Ich will Karl etwas Schönes erzählen, worüber er sich freuen kann.“ Ihre Hände fahren an der Kleidung nach unten, als würde sie den richtigen Sitz prüfen. Sie tritt ans Bett. Karl liegt regungslos und unverändert, umschlungen von der Decke, die sie bis zum Hals hinauf gezogen hat. „Was sollte sich denn verändert haben? Karl ist noch immer im Koma“, erklärt sie sich selbst die Situation.

      „Damals die Hausfeten oder die Badeausflügen mit deinem Sohn und meiner Tochter, das waren schon lustige Erlebnisse. Du hattest panische Angst, wenn ich mit dem 500er Trabi die Landstraße zum Baggersee langbretterte. Festgeklammert hast du dich im Sitz, mich ermahnt, langsamer zu fahren. Ich bin meist barfuß gefahren, weil es bequemer war als mit den hohen Absätzen. Warst immer froh, wenn wir heil am See angekommen sind. Ich wäre ja lieber auf die FKK-Seite gegangen, aber das wollte ich dir und deinem Kleinen, dem Detlef, nicht zumuten. Und natürlich deiner Frau, die das sicher erfahren und Tobsuchtsanfälle bekommen hätte. Ihr wart ja immer so prüde. Hab damals gedacht: ‚Da geht der Kerl ständig fremd und hat sich so albern, sich nackt zu zeigen.‘ Später hast du es ja eingesehen, dass am Nacktbaden nichts auszusetzen ist. Einmal hatte ich das lange rote Leinenkleid an mit den großen weißen Punkten. Mann, hast du gestarrt, als ich das Kleid am Strand auszog, weil ich keinen BH drunter trug. Ich habe selten einen BH getragen, so kleine Körbchen gab es kaum. Außerdem fand ich es so viel schöner. Hat dir ja auch gefallen, hast du mir später gesagt. Da warst du eigentlich schon mein heimlicher Favorit, obwohl ich mich noch lange gesträubt habe. Erst als du mit dem Rotwein ‚Rosentaler Kadarka‘ kamst, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen. Da hat es dann begonnen, da schmolz das Eis zwischen uns. Den Rest hat es mir gegeben, als ich aus eurer Wohnung ‚Milva‘ hörte. Da war ich hin und weg. Hast es ja auch ausgenutzt, als ich mir die Platte ausborgen wollte. Ich musste dich zum Wein einladen, heimlich versteht sich. Tagelang hab ich mich damals darüber geärgert, dass ich dich reinließ. Das war wie ein Freifahrtschein für dich gewesen, hattest gedacht: ‚So bekomm ich die Kleine ins Bett.‘ Zwei Knöpfe hast du mir vom Kleid gerissen, wolltest mich unbedingt ins Bett tragen. Hab dich aber nicht gelassen. Paar Wochen später sind wir dann doch im Bett gelandet miteinander. Im Kinderzimmer, Liesa war bei den Großeltern, hast du mir deine ganze Pracht präsentiert. Ich meine deine rote Turnhose, die Kniestrümpfe mit Sockenhaltern und das gelbe Armeeunterhemd. Toll sahst du aus. Ich hätte mich biegen können vor lachen. Und gestaunt habe ich, denn so prickelnd warst du gar nicht im Bett, zumindest anfangs. Habe dir erst einmal beibringen müssen, dass die Frau auch oben sitzen kann, wenn sie Genuss wünscht. Du kanntest nur das Hausbackene, Frau unten, Mann obendrauf. Aber mit mir nicht. Das hast du schnell gemerkt


Скачать книгу