Das Akkordeonspiel. Gerald Netsch

Das Akkordeonspiel - Gerald Netsch


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nun hält sie genau das, zu Papier gewordene, Stück schmerzlicher Vergangenheit in den Händen. Ihr Atem wird schwer, ihre Brust presst sich zusammen als lägen tonnenschwere Gewichte auf ihr, das Blut scheint ihr in den Adern zu erstarren. Lange kann sie sich aus dieser Starre nicht befreien. Langsam tief ein- und ausatmend bleibt sie im Sessel sitzen, bis sie sicher ist, dass der Schmerz in ihrem Körper nicht zurückkehrt.

      Sie war überzeugt gewesen, dass er das Geschriebene, das seinen alkoholbenebelten Gedanken entsprungen war und von Selbstmitleid zerfressen, beseitigt hatte. Wütend heftet sie die Zettel aus, deren Inhalt sie damals schon mit Entsetzen zur Kenntnis genommen und später lange, sehr lange mit Karl diskutiert hatte. Nein, sie wird sich das nicht noch einmal antun. Sie wird nicht nochmals zweifeln, dass so viel Schuld bei ihr gelegen haben soll. So war es einfach nicht und die Zeit danach hatte es ja bestätigt. Aus beider Blickwinkel, dem von Karl und von ihr, hatten sie die schlimme Zeit analysiert, geklärt, was richtig und was falsch gewesen war. Nur aus der Erkenntnis heraus, dass es ein gemeinsames Vorwärts geben muss und dass Geschehenes eben geschehen war und nicht ungeschehen gemacht werden konnte, war ihnen der Neuanfang gelungen. Sie legt sowohl den Ordner als auch die kleinkarierten Blätter zur Seite, steht auf und geht ins Bad, um Dutzende Hände eiskalten Wassers über ihr Gesicht zu schütten. Ihre Sinne kehren zurück. Behutsam tupft sie die nasse Haut ab, um die wohltuende Kälte weiter zu spüren.

      Entschlossen nimmt sie die vergilbten kleinkarierten Blätter, geht ins Arbeitszimmer und lässt sie nacheinander in den Aktenvernichter gleiten. „Es ist, wie es ist“, sagt ihre innere Stimme und ihre Körperhaltung strafft sich. Sie geht zurück zum Sessel, der ihr, so glaubt sie, nun wieder Geborgenheit gibt.

      Am nächsten Tag steht Susanne zeitiger auf als sonst. Sie will sich heute besonders schön machen, nicht nur weil die Sonne scheint und der Himmel wolkenlos im tiefen Blau erstrahlt, sondern weil sie ihren Karl mitnehmen will auf eine Zeitreise zurück zu dem Tag der Eheschließung. Doch nichts wird sie sagen zu dem Anderen, den vergilbten kleinkarierten Blättern.

      Sie erkundigt sich wie jeden Tag bei Dr. Meissner, ob es Neuigkeiten gibt, ob der Zustand von Karl sich verbessert hat, ob er vielleicht schon zu Bewusstsein gekommen ist, genau wissend, dass sie nicht die so sehnlichst gewünschte Antwort erhalten wird. Karl sieht zufrieden aus, im frischen Nachthemd, rasiert und leicht duftend nach einer milden Gesichtscreme. Susanne streicht ihm über das Haar, senkt sich herab und küsst, diesmal zärtlicher und inniger als sonst, das Gesicht, die Lippen, die Stirn. Doch will sie sich nicht lange aufhalten, sie hat heute eine wichtige Mission, Karl mitzunehmen auf eine Zeitreise zum Beginn ihrer Ehe.

      Susanne zieht den Stuhl ans Bett, setzt sich so weit wie möglich in die Nähe von Karls Ohr, damit er es auch richtig hören kann. Sie hat die Situation heute Morgen förmlich einstudiert, genau festgelegt, wie sie ihn auf der Reise begleiten will. Ganz wichtig erscheint ihr, dass sie seine Hand hält, genauso wie damals, als sie vor Aufregung und Freude zitterte, ihre kalte Handfläche auf Karls Handrücken wärmte. Ja, nicht er hatte ihre Hand gehalten, sondern sie die seine, das weiß sie noch ganz genau.

      „Lieber Karl“, begann sie, „ich habe gestern zufällig in dem privaten Ordner von dir unsere Hochzeitsrede gefunden. Die hattest du der Standesbeamtin abgeschwatzt. Erst wollte sie nicht, aber dein Charme war stärker, wie immer bei Frauen. Ich habe die Rede mitgebracht und möchte uns zurückversetzen zu dem Tag, an dem das gemeinsame, amtliche Leben begann, frei von Heimlichkeiten, frei vom Versteckspiel und Notlügen. Ich werde deine Hand halten, wie damals, und den Text vortragen, wie es die Standesbeamtin tat.“

      Susanne rutscht nochmals auf dem Stuhl, um die beste Sitzhaltung zu finden, ergreift die Hand von Karl, umschließt seinen Handrücken kräftig, damit er spüren soll, wie schön es ist. Langsam beginnt sie ihren Vortrag.

      Sie liest über Beruf, Freizeit, Weiterbildung, Haushaltführung und Erziehungder Kinder. Es ist die Rede von Vertrauen, Liebe, Kameradschaft. Susanne liest über die Vorzüge der Gesellschaft, in der das Brautpaar eingebettet ist, aus der es Kraft schöpfen kann. Susanne bringt es zu Ende, merkt, dass vieles davon Floskeln sind, Bausteine, aus denen die Rede einer damaligen Eheschließung bestand.

      Dann blickt sie Karl lange ins Gesicht, hoffend, dort eine winzige Reaktion auf das von ihr Vorgetragene zu entdecken. Aber er liegt ruhig auf dem Kissen, die Geräte pulsieren gleichmäßig. Trotzdem, so redet sie sich ein, hat er bestimmt diesen glücklichen Moment, der vor vielen Jahren stattgefunden hat, in sich wahrgenommen.

      „Sehr schön und so persönlich hat sie das gemacht. Findest du nicht auch?“

      Als sie keine Antwort erhält, wandert ihr Blick wehmütig zum Fenster, wo am Himmel schwarze Wolken aufziehen.

      Ihre Verabschiedung von Karl gestaltet sich heute sehr kurz und bündig. Vielleicht liegt es an dem heranziehenden Gewitter, eventuell aber auch an der Enttäuschung, dass das bis ins Detail eingeübte Szenario keine Wirkung bei Karl gezeigt hat.

      „Ich will tot sein und begraben in der Erde. Mama ist nie mehr meine Mama. Sie ist nun die Mutter, die mich nicht verdient hat. Sie wird am Grab sitzen und weinen, wie ich jetzt, und niemand wird sie trösten. Ihr Karl liegt da unten und kommt nie wieder, nie mehr“, denke ich voller ohnmächtiger Wut. – Nur, wie ist man tot? Darauf finde ich keine Antwort, auch wenn ich zum zweiten Mal das Szenario abspiele.

      Auch wenn ich ohne Erklärung bleibe, so geht doch das Leben weiter, und wie es weitergeht. An diesem selben Tag, an dem ich die Niederlage hinnehmen muss und den herben Verlust des Metallbaukastens, brodelt und rumort es zwischen Mutter und Papa unaufhörlich wie vor dem Ausbruch des Ätna auf Sizilien. Indirekt geht es um meinen Metallbaukasten, direkt ist die Auseinandersetzung zwischen den beiden bereits auf einer völlig anderen Ebene.

      „Kannst dem Seppel nicht einfach den Kasten wegnehmen, schließlich hat er ihn von Vater geschenkt bekommen“, eröffnet sich der Streit.

      „Beruhige dich bloß, was kann Wolfgang dafür, dass deine Eltern ihn ständig ignorieren, nur weil es mein Sohn ist. Die haben ihm noch nie etwas geschenkt, für die ist er Luft. Aber das ist ja typisch bei Nebels, ihr Sohn ist der Beste, nur ich bin die Verruchte, die mit einem Kind dahergekommen ist, die ihrem anständigen Paul den Kopf verdreht hat und sich schwängern ließ, um ein Dach übern Kopf zu haben“, faucht Mutter.

      Der erste Lavastrom ist ausgebrochen. Wir werden ins Bett gejagt, damit man sich so ungestört weiterstreiten kann. Mitten in der Nacht rüttelt jemand an meinem Arm. Verschlafen drehe ich mich im Bett herum. Als ich Wolfgang mit noch halb geschlossenen Augen erkenne, raunze ich ihn an:

      „Lass mich schlafen, du Arsch.“

      Zu spät. Der Lärm, der aus zwei Zimmern Entfernung in das Ohr dringt, lässt mich vollends erwachen. Wie von einer fremden Macht gesteuert, verlasse ich das Bett, wandere barfuß durch das Schlafzimmer bis hin zu der Tür, hinter der sich meine Eltern prügeln.

      „Lass mich los, du Schwein, ich kratz dir die Augen aus“, brüllt Mutter.

      Darauf folgt ein Spuckgeräusch.

      „Du alte Sau“, schreit Papa. „Ich lass mich von dir nicht bespucken.“

      Ich höre das Geräusch zweier rasch aufeinander folgender Ohrfeigen. Meine Mutter schreit, heult, stößt gegen die Wand, fällt zu Boden, krümmt sich vor Schmerz, um sodann wieder aufzuspringen, mit den Füßen nach Papa zu treten, den sie wohl auch zwischen den Beinen erwischt. All das entgeht meinem ans Schlüsselloch geheftete Auge nicht. Auch nicht, dass Papa mit schmerzverzerrtem Gesicht zum Gegenschlag ausholt. Seine Faust trifft auf Zähne, die Lippen reißen auf und im Nu sind Mutters Gesichtshälften blutverschmiert. Wie eine Katze springt sie noch wilder schreiend auf den Rücken von Papa, zerrt ihn mit aller Kraft an den Haaren, ich sehe ein Büschel aus ihrer Hand auf den Boden fallen. Kurz darauf liegt Mutter wieder auf dem Boden. Nun kommt sie nicht mehr hoch, denn Papa kauert über ihr und schlägt mit den Fäusten auf sie ein. Das ist zu viel, denke ich. Auch wenn sie mir meinen Baukasten weggenommen hat, jetzt tut sie mir doch leid. Ich drehe mich um, ich weiß, was zu tun ist. Unvermittelt steht Wolfgang von mir, mit halb


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