Das Akkordeonspiel. Gerald Netsch

Das Akkordeonspiel - Gerald Netsch


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      Ein langes rauchiges, von Hustenanfällen unterbrochenes Lachen, laut und von tief innen heraus, schallt durch die Häuserzeile. Zwei Frauen auf der anderen Seite der Straße schauen erschrocken herüber. Dann stimmt auch Mama wie ein Weihnachtsglöckchen in den Lachgesang ein. Schließlich ebbt das Lachen allmählich ab, wie die Glocken in der Kirche nach dem Gottesdienst. Gerade noch rechtzeitig fange ich den Gesprächsfaden wieder auf.

      „Also bis Samstag um acht. Ich bring eine Erdbeerbohle mit. Hab die Früchte gestern von den Schwiegereltern gekriegt, die haben einen Garten.“

      Die rauchige Stimme mit einem Schuss Bronchialhusten erwidert:

      „Dann können wir ja deinen Walter mal so richtig aufheizen. Vielleicht wird es dann doch noch etwas mit dem Tanzengehen.“

      Das schrille Weihnachtsglöckchen kichert.

      „Wir werden dran arbeiten. Ich freu mich, bis dann.“

      Rappelnd setzt sich mein fahrbarer Untersatz in Bewegung. Mama hält das Ding in allen Ehren, es soll viel Geld gekostet haben mit seinem geflochtenen Korb, den gummibereiften Rädern, die dann und wann laut quietschen. Nicht zu vergessen die geklöppelte Spitze rundherum, an der sich so herrlich zupfen lässt. Langsam wird es grau. Alles um mich herum ist grau. Die Stimmen verstummen. Ich falle tief, immer tiefer und tiefer. In mir dreht sich alles. Mein Kopf will sich auseinandersprengen, Beine, Brust und Arme sind ohne Gefühl. Wie bei einem Plüschteddybär schlägt alles an mir herum. Nein, ich will nicht auseinanderfallen. Bitte lass mich leben, leben, leben …

      Der endlose Fall und seine kaum zu ertragenden Drehbewegungen verlangsamen sich allmählich. Ich fühle mich eingeschnürt wie ein Paket, unfähig, aus dieser Hülle herauszukommen. Ich höre um mich herum Stimmen. Kurze klare Kommandos. Armee? – bin ich wieder bei der Armee? Ist Krieg? Bin ich verwundet? Vielleicht fehlen mir Arme und Beine? – weggesprengt? Oder mein Kopf sieht aus wie ein Kürbis, den man mit einem Stein auseinander geschlagen hat? Was ist das? Warum sagt mir keiner etwas, redet doch mit mir – bitte. Ich flehe euch an, tut mir nichts. Ich will leben, leben …

      In der Notaufnahme des Klinikums herrscht Hektik. Jeder der Ärzte und Schwestern weiß, was zu tun ist, der Ablauf ist hundertfach erprobt, nach strengen Ablaufschemas eingeteilt und abzuarbeiten.

      Der erste Diagnosebericht des Notarztes am Ort des Unfallereignisses ist typisch für Verkehrsunfälle dieser Schwere: „Offene Beinfraktur linker Unterschenkel, Hautschädigungen an Händen, der linken Schulter und im Gesicht, Schädel-Hirn-Trauma mittleren bis schweren Grades verursacht durch Aufschlag der linken Kopfhälfte auf die Fahrgastzelle, seitlich wie auch frontal. Der Patient ist ohne Bewusstsein aufgefunden und reanimiert worden.“ Die Anspannung des Notaufnahmeteams ist deutlich zu spüren.

      Der Unfall birgt potenzielle lebensbedrohliche Mehrfachverletzungen, bei denen erst jetzt nicht erkennbare weitere schwere Verletzungen, meist im Brust- und Bauchbereich, offensichtlich werden. Der alles entscheidende Faktor Zeit bestimmt die Prioritäten der Notfalleingriffe. Es ist der Kampf um Leben oder Tod des Patienten. Übel hat es ihn erwischt. Trotz der nur 120 Stundenkilometer auf der Autobahn Richtung Rosenheim hatte er keine Chance gegen den Geisterfahrer, der ihm an der Anschlussstelle Brannenburg wie aus dem Nichts entgegen kam. Aus – für den Einen die Erfüllung seines Wunsches, tot zu sein, für den Anderen der seidene Faden, an dem sein Leben jetzt zu hängen scheint. Es ist ein Stunden währender Kampf. Aufbäumend und an Stärke zunehmend ist die Kraft des Sensenmannes, der diese Schlacht für sich zu gewinnen sucht. Eisern und unerbittlich die Gegenwehr, das Ringen, dieses Leben den Krallen des Todes zu entreißen. Nach einer vierstündigen Notoperation, stabilisierenden Schrauben, Platten und Stiften, die aus dem Körper wieder einen Körper machen sollen, ist das Schlimmste des sichtbaren Schadens versorgt und der Patient stabilisiert.

      Ihm, Karl Nebel, konnten die Ärzte das Leben erhalten, doch die speziellen Untersuchungen haben das schwere Schädel-Hirn-Trauma bestätigt. Die operative Entlastung des Hirndrucks und die Verödung von Blutungen im Schädel waren erforderlich. Alles ist soweit erfolgreich verlaufen. Doch niemand weiß, ob dieser Karl Nebel je wieder aus dem Koma erwacht, und wenn, ob es ein Leben, ein lebenswertes Leben dann sein wird.

      Von der schlimmen Nachricht informiert, versuchen seine Frau Susanne sowie die Töchter Veronika und Liesa vom leitenden Oberarzt das zu erfahren, worauf sie am meisten hoffen: Ja – es gibt Hoffnung. Dazu wird sich aber Dr. Meissner nicht verleiten lassen. Zu umfassend ist sein Wissen in solchen Fällen, zu unterschiedlich die Verläufe, zu ungewiss deren Ausgang. Die Medizin kann vieles tun, jedoch keine Wunder vollbringen. So bleibt den Dreien nichts weiter übrig als zu warten, zu hoffen, und ja, auch heimlich zu beten. Erst gemeinsam, dann nach Tagen, auf Anraten des Arztes, nur noch Susanne. Immer ist die Hoffnung präsent: Es wird ein eindeutiges Zeichen geben für den Weg zurück ins Leben, ins lebenswerte Leben.

      Susanne sitzt weinend, in sich zusammengesunken an seinem Bett. Sie scheint in den wenigen Stunden seit der Nachricht um Jahre gealtert. Tiefe dunkle Schatten haben sich unter den Augen gebildet. Lidschatten und Wimperntusche haben vom vielen Weinen eine breite Spur auf die Wangen gezeichnet und sich auf der weißen Bluse verewigt. Sanft hält sie Karls Hand, streicht ab und zu über seinen Handrücken in der Hoffnung, wenigstens ein kleines Zucken zu spüren. Reglos liegt er im Krankenbett, aufgebart wie für den letzten Gang hinüber in die Ewigkeit.

      „Bitte verlasse mich nicht“, flüstert Susanne leise und verzweifelt. „Wir haben doch erst jetzt richtig angefangen zu leben. Wir haben noch so vieles Gemeinsames vor. Wir wollten mit der Transsibirischen Eisenbahn fahren, eine Reise nach Südafrika unternehmen. Du hast es mir fest versprochen. Hörst du? Hör doch! Das kannst du doch nicht machen, dich so einfach aus unserem Leben stehlen. Ich liebe dich doch. Wach bitte auf, bitte, bitte!“

      Ein herbeieilender Pfleger zieht Susanne sanft zurück.

      „Frau Nebel, das hat keinen Sinn. Er wird so nicht aufwachen. Geben Sie ihm Zeit. Reden Sie mit ihm über die schönen Dinge, die Sie gemeinsam erlebt haben. Geben Sie ihm das Gefühl, dass Sie für ihn da sind, dass Sie auf ihn warten, da sein werden, wenn er zurückkommt.“

      „Ich will ja geduldig sein. Es ist nur so furchtbar schwer.“

      „Ich weiß, viele Komapatienten und deren Angehörige habe ich hier erlebt. Schicksale, die unterschiedlich endeten. Eines kann ich Ihnen aber versichern, es gab sehr viel mehr Komapatienten, die den Weg zurückfanden. Sie brauchen Mut, Frau Nebel, an das mögliche Wunder zu glauben. Teilen Sie sich ihre Kräfte ein, nutzen Sie Verschnaufpausen, um neue Kraft zu tanken. Wenn Sie Angehörige haben, die diesen Weg begleiten können, so nehmen Sie deren Angebot an. Ich werde für Sie und Ihren Mann beten.“

      Susanne ist wieder mit Karl allein. Lange denkt sie über die Worte des Pflegers nach. Er will uns in seine Gebete einbeziehen? Uns, die wir nie an Gott geglaubt haben! Vorsichtig beugt sie sich über das Gesicht von Karl, streichelt es behutsam, liebkost die Stirn, die Augen, den Mund. Sie spürt den salzigen Geschmack der Haut, die Wärme der Lippen. Sie nimmt wahr, dass Leben in ihm ist. Ein fast unmerkliches Lächeln huscht über ihr Gesicht.

      „Ich habe den Mut, an das Wunder zu glauben“, flüstert sie ihm ins Ohr.

      Ganz vorsichtig legt sie ihren Oberkörper auf den seinen. Sie will ihm nah sein, so nah wie nur möglich. „Ich darf ihm nicht wehtun“, ermahnt sie sich.

      Es ist so schön warm in der Sonne. Der gelbe Schmetterling wärmt seine Flügel an ihren Strahlen, der Wind spielt mit den tanzenden Staubkörnern, die verweht werden so wie das Leben. Nein, Leben verweht nicht. Leben lebt, pulsiert, ist spürbar. Ich spüre nichts. Lebe ich? Was ist mit mir? Grau. Alles um mich herum ist grau. Da ist es wieder, dieses absurde Gefühl, die kindlichen Gedanken an Brust, Brustwarzen, wohlige Wärme, weiche Haut und süßlich schmeckende Muttermilch. Ich suche die Geborgenheit in meinem Reich, begrenzt von geklöppelter Spitze, weicher Decke, einem Kopfkissen mit echten Daunen und der Festungsmauer aus geflochtenem


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