Das Akkordeonspiel. Gerald Netsch
Häuserzeile. Den Schlüssel fest umklammert, voller Erwartung dessen, was da kommen wird, eilt sie zum Hauseingang. Ein leiser Pfiff gibt ihr die Richtung. Ihr Auserwählter, der alles Verändernde steht bereit. Es bedarf keiner Begrüßung. Lautlos überwinden die beiden die wenigen Meter bis zum Himmel, oder besser bis zur Hölle. Wie wilde Tiere fallen sie über sich her, reißen sich die Sachen vom Leib. Annemarie denkt im Moment nicht daran, dass sie es wird erklären müssen, wenn sie mit einem Kleid ohne Knöpfe zurückkehrt. Wichtig ist ihr nur noch der Moment. Sie spürt seine Umarmung, die Liebkosung vom Hals abwärts bis ganz nach unten. Sie vibriert, verbiegt sich unter der Last der Gefühle, die sie so intensiv noch nie erlebt hat. Sie schwebt auf einer Wolke aus Wollust. Gierig gleitet sie an ihm herab, ihm Gleiches bereitend. „Komm, nimm mich“, gibt sie ihm zu erkennen. Mit brachialer Gewalt, ungestüm und von dem Drang besessen, den finalen Schuss zu setzen, dringt er in sie ein. Ihr Leib bäumt sich auf, ein Schrei der Begierde löst sich aus ihr. Im Rhythmus der Stöße gibt sie laute Schreie von sich. Er hält ihr den Mund zu, presst sie an seinen Körper, stößt immer fester zu, bis ihr Schreien verstummt und nur noch ein Beben zu verspüren ist. Zum zweiten Mal strömt der Liebessaft tief in sie hinein. Keine Verhütung kann den Strom verhindern. Annemarie ist es egal. Sie genießt das berauschende Spiel der Gefühle. Selbst Harald war ein Anfänger im Vergleich zu diesem Mann. Jetzt erst, etwas abgeklungen, merkt sie, dass sie nicht einmal seinen Namen weiß. Von nun an, so beschließt sie, soll er Herkules heißen. Die griechische Sage kennt sie nicht, aber sie ist sicher, er muss es sein, der mit dem riesigen Glied.
Als es hell wird, räumen sie das Liebesnest. Höflich verabschieden sie sich mit dem Versprechen, in Verbindung zu bleiben. Annemarie ist klar, dass es kein zweites Mal geben wird. Die Gefahr entdeckt zu werden ist einfach zu groß.
Irgendetwas tut sich nebenan. Gedämpftes Licht breitet sich im Wohnzimmer aus. Paul liegt auf dem Sofa, hat die Augen halb geschlossen, und ergibt sich dem Tun von Eva. Ihr ist es zu langweilig geworden, nur darauf zu achten, ob eines der Kinder wach wird. Vielmehr hat sie Interesse, Paul wach zu bekommen. Nur so ist es ihr möglich, sich von ihm zu nehmen, wonach sie Verlangen hat. Ihre prallen Brüste sind entblößt, sie reibt sie auf Pauls nacktem Bauch. Von meiner plötzlichen Anwesenheit aufgeschreckt, lässt sie von dem willigen Opfer ab, ergreift mich derb am Arm und bringt mich dorthin, wo ich hergekommen bin – ins Bett. Leise, aber doch sehr deutlich zischt sie:
„Unterstehe dich, noch mal rauszukommen. Ich dreh dir den Hals um.“
Ich begreife zwar nicht, was sie damit meint, aber ich empfinde es als sehr bedrohlich. Deshalb bleib ich, wo ich bin und vernehme nur aus der Ferne, was geschieht, als Mama in das Geschehen eingreift.
„Was ist denn hier los?“, höre ich Mama empört fragen.
„Ihr Schweine, müsst ihr hier rumvögeln? Das glaube ich nicht. Von dir, Eva, als meine beste Freundin, hätte ich etwas anderes erwartet. Schäm dich. Und du Bock, sieh zu, dass du wegkommst, sonst erschlage ich dich.“
Annemarie spielt die Rolle perfekt und glaubwürdig. Aber ist es überhaupt Spiel, ist es nicht doch ehrliche Entrüstung über die Entgleisung der beiden? Ist sie zurückgekehrt zu ihrer Moral, eine gute Mutter zu sein, treu und ergeben, aufopferungsvoll, leidenschaftlich und brav?
„Lass es gut sein. War’s denn wenigstens schön?“, höre ich die rauchige Stimme sagen.
„Raus, raus alle beide!“, schreit Mama, dann wird es still.
Nach einer Weile setzt ein Wimmern ein, leise, dann lauter. Schluchzen, Schreie, ein Dröhnen und Poltern. Markerschütternd, und bedrohlich zugleich. Meine Neugierde treibt mich wieder aus dem Bett. Vorsichtig öffne ich die Tür zur Wohnstube. Mama sitzt auf dem Sofa, trommelt mit ihren kleinen Fäusten auf die Tischplatte, hat soeben den Leuchter vom Tisch gefegt, der in die Ecke unter dem Fenster kullert, als wollte er sich aus dem Schlachtfeld stehlen. Mit leerem Blick und tränenüberströmt schaut sie zu der offenen Tür. Beide Arme strecken sich in die Richtung aus. Für mich die eindeutige Aufforderung, zu ihr zu kommen. Langsam, verängstigt und unsicher überwinde ich den kurzen Weg. Mama schlägt die Arme um meinen Körper, lässt sich zur Seite fallen und bedeckt mich mit ihrem Leib. Wie eine Wölfin das Junge, so hält sie mich fest, drückt mich an ihre bebende schluchzende Brust.
5. Kapitel
Nein, ich will diese Nähe nicht! Lass mich los, gib mich frei, du tust mir weh! Mein Körper ist regungslos, wie in Beton gegossen. Ich kann mich dieser Nähe nicht entziehen. Warum hilft mir keiner? Hilfe, Hilfe, Hilfe …
Ein besorgter Pfleger der Intensivstation blickt auf die Geräte, die Karl Nebel umgeben. Er regelt etwas nach, wendet sich Susanne zu und gibt ihr durch ein kurzes Nicken zu verstehen, dass alles in Ordnung ist. Am Bett sitzend wischt sie sich die Tränen aus dem Gesicht. Soeben hat sie begonnen, Karl die Geschichte ihres Kennenlernens zu erzählen.
„Weißt du noch, wie wir uns das erste Mal im Hausflur begegnet sind. Ich war mit meiner Familie von Sachsen-Anhalt nach Sachsen umgezogen, in die kleine Zweizimmerwohnung, obwohl die Tochter schon acht Jahre alt war. ‚Eine Wohnung mit Kinderzimmer haben wir nicht, müsst halt so zurechtkommen‘, hatte der Oberleutnant vom Stab gesagt, der für die Wohnraumvergabe verantwortlich war. Du warst seit mehreren Monaten gegenüber beschäftigt, so hatte ich gehört, Löcher in die Wände zu bohren. Ich konnte nicht begreifen, warum die Dreizimmerwohnung nutzlos leer stand und wir nebenan eingepfercht waren. Na gut, ich erfuhr später, dass deine Frau ihre Tochter mitgebracht hatte. Aber ungerecht war es trotzdem. Ich stehe also so vor der Tür, du gegenüber, bewaffnet mit Schrubber und Eimer, im Begriff die Treppe zu wischen. Weißt du noch, was du geantwortet hast, als ich dir meine Hilfe bei der Hausordnung anbot? Ja, mein Lieber, ohne mich anzusehen kam: ‚Das kann ich selber‘, mehr nicht. Was für ein kotzüberheblicher Heini, habe ich damals gedacht. Das habe ich dir aber auch schon ein paar Mal erzählt.“
Susanne hält inne, als warte sie darauf, dass Karl ihr antwortet. Aber er liegt noch immer im Koma und die Ärzte geben keine Prognose. Dass es dauern könne, hat sie nur erfahren, als sie besorgt nachgefragt hat.
Wieder wischt sie sich Tränen vom Gesicht. Sie kann einfach diesen ständigen Fluss nicht unterdrücken. Nach Tagen hat sie es aufgegeben, ihre Weinanfälle zu bekämpfen. Irgendwie erleichtert das auch.
„Ach ja – warst du damals arrogant. ‚Guten Tag‘, das war alles, was man aus dir herausbekam. Es reizte mich schon, dich Muffel umzukrempeln, aber dazu war ich noch nicht bereit. Ja, ich weiß, was du sagen willst: ‚Hast andere Kerle im Kopf gehabt, später jedenfalls.‘ Nein, mein Lieber, da war nichts, ich war brav wie ein Rehkitz. Ich musste mich um eine Arbeit kümmern, in dem Nest, dem trostlosen Dorf. In der Heimatstadt hatte ich eine Stelle bei der Reichsbahndirektion gehabt. Und dann ziehe ich mit meinem Mann und Töchterchen Liesa in dieses Kaff, weil er von der Dienststelle einen Zivilposten in der Kfz-Werkstatt bekommen hatte. Oh, war ich damals doof. Aber etwas Gutes hatte es sonst hätte ich dich, mein Schatz, nie kennengelernt.“
Ein flüchtiges Lächeln huscht über ihr Gesicht.
„Nach einigen Wochen seid ihr dann eingezogen. Mit deiner Frau kam ich sofort ins Gespräch. Manchmal saßen wir auf der Bank vor der Tür, im Schatten der kleinen Birke, weißt du, und sie erzählte mir, wie fleißig du als Hauptfeldwebel warst. Um alles hast du dich kümmern müssen, bis spät in die Nacht hinein, du warst die ‚Mutter der Kompanie‘, erzählte sie immer sehr stolz. Ja, mein Lieber, sie hat dir geglaubt, hat ein unendliches Vertrauen gehabt. Dabei, du Mistkerl, bist du da schon meterweise fremdgegangen. Jeder im Haus wusste es, oder argwöhnte es zumindest. Deine Frau war ahnungslos. Ein guter Schauspieler warst du ja, darauf kannst du dir was einbilden. Nach außen immer der liebe, fürsorgliche Ehemann. Da fällt mir ein, auch deine Schwiegermutter hatte dich in den höchsten Tönen gelobt. Deshalb kam sie auch jeden Früh, euch zu wecken. Ich habe das nie begriffen, dass diese Frau morgens mit dem Fahrrad zu euch geradelt kam, um ans Schlafzimmerfenster zu klopfen, bis drin das Licht anging. Ich hätte euch schlafen lassen. Spätestens nach dem dritten, vierten Mal Zuspätkommen hätten sie dich in der Kaserne behalten. Wie hieß das bei euch, ‚Kasernenarrest‘?“
Susanne