Gottes Herz für deine Stadt. Johannes Reimer

Gottes Herz für deine Stadt - Johannes Reimer


Скачать книгу
von den Ankunftsstädten als Hotspots urbaner Innovation.

      Natürlich, jeder auch noch so geringe Aufstieg resultiert in der Transformation oder auch im Wechsel des sozialen Raumes. Und schafft man den Aufstieg in die besser betuchte Gesellschaft, so landet man heute in den sogenannten „gated communities“, geschlossenen Wohnvierteln, in die man nur durch einen entsprechenden Ausweis hineinkommt. Diese Entwicklung nahm ihren Anfang in den USA8 und ist heute in den meisten Ländern der Welt zu beobachten.9 Der soziale und ökonomische Wohlstand sind gerade in der Stadt gefährdet, schließlich drängen Massen von Neuankömmlingen nach oben und beanspruchen den gleichen Stand auch für ihr eigenes Leben. Die Angst vor Kriminalität zwingt dem Erfolgreichen regelrecht ein Leben hinter hohen Mauern auf.10

      Städte sind somit keine einheitlichen sozialen Räume. Sie zeichnen sich durch ständige Veränderung, Wachstum und Verfall und vor allem Ausdehnung aus. Die kompakte, ummauerte Stadt, wie sie noch im Mittelalter existierte, gibt es so nicht mehr. Heute dehnen sich die Städte weit ins Umland aus und bilden ein metropolitanes Gebiet, das in seinen Vororten immer wieder beides sein kann, sowohl Stadt als auch Dorf mit urbanem Charakter. In der Literatur spricht man von der Zwischenstadt.11 Zeichneten sich Städte früher durch Urbanität aus, eine Haltung größerer Toleranz und Durchmischung der Bevölkerung, die die Lebensweise der Städter von der Landbevölkerung unterschied, so ist das Bild heute um ein Vielfaches differenzierter und komplexer. Die rasante Entwicklung dieser komplexen, sozialen Räume schürt seit der Mitte des letzten Jahrhunderts Angst vor dem Kollaps gesellschaftlicher Strukturen.12 Muss man tatsächlich Angst vor der Stadt haben? Oder bietet diese Entwicklung eine Chance, die wachsende Weltbevölkerung zu ernähren? Meinungen, ja sogar Untersuchungen dazu gehen weit auseinander. Und was bedeutet die Urbanisierung für die Entwicklung der christlichen Mission und den Gemeindebau? In diesem Buch gehen wir der Frage nach.

       1.2. Die Kloake Sao Paulo und der Saustall in Berlin

      Sao Paulo im Osten Brasiliens ist eine der größten Städte der Welt. 26 Millionen Menschen leben in dieser Stadt. Wie keine andere in der Region hat sie die verarmte Bevölkerung des Landes angezogen. Viele, sehr viele, haben in ihren überdimensionalen Fabriken Arbeit gefunden. Volkswagen, GM, Bosch und andere Weltkonzerne haben sich hier angesiedelt und produzieren für den Weltmarkt. Man sagt, in Sao Paulo gibt es mehr deutsche Firmenniederlassungen als in irgendeiner deutschen Stadt.

      Sao Paulo ist riesig. Das Leben hier pulsiert Tag und Nacht. Die Straßen ersticken an dem niemals endenden Verkehr. Drei Stunden brauche er für die sieben Kilometer von seinem Haus bis zur Arbeitsstelle, berichtet mir ein Mitarbeiter der Brasilianischen Bibelgesellschaft. „Bei uns gibt es immer Stau“, fügt er traurig und müde hinzu. Sicher auch, weil es keinen vernünftigen öffentlichen Nahverkehr gibt. Die städtischen Verkehrsbetriebe scheinen den Kampf gegen das Wachstum dieser Metropole längst aufgegeben zu haben. Genauso, wie die Stadtväter den Kampf gegen die Luftverschmutzung aufgegeben haben. Überall stinkt es nach Abgasen und dem längst toten Wasser des einmal so stolzen Rio Tietê. Die Einheimischen nennen ihn fast schon liebevoll „unsere Kloake“. Das Wasser im Fluss ist dunkelgrau, an manchen Stellen fast schwarz. Was da alles mitschwimmt! Sowohl die Industrie als auch private Haushalte lassen ihre Kanalisation hier abfließen.

      „Unsere Kloake“ wurde für mich, je länger ich in Sao Paulo blieb, zum Symbol der Stadt überhaupt. Ähnlich wie dem Wasser dieses Flusses, das ursprünglich aus einer sauberen Quelle in Salesópolis in der Serra do Mar stammt und das verschmutzt und ohne Leben ist, wenn es die Stadt durchfließt, ergeht es auch Millionen der Einwohner dieser Stadt. Sie kamen vom Land. Sie suchten Arbeit, Broterwerb, eine sichere Existenz. Gefunden haben viele von ihnen noch größere Armut, ärmliche Behausungen in den Favelas, den Armenvierteln, in denen das Leben gezeichnet ist von Krankheiten, Drogen und Kriminalität. „Du kommst aus diesem Zustand nur durch ein Wunder heraus“, erzählte mir Frederico, ein junger Mann, der seit Jahren auf der Straße lebt. „Auch wenn du es willst, da gibt es kaum ein Entrinnen. Diese Stadt lässt dich aus ihrem Rachen nicht mehr frei, wenn sie dich einmal hat.“

      Leben gesucht – Tod gefunden. So kann man heute das Leben großer Massen von Menschen, die in die rapide wachsenden Städte der Welt geflohen sind, beschreiben. Sie ähneln sich alle. Ob Hanoi, Johannesburg, Moskau, Nairobi, Bangkok, Mexiko-City, New York oder eben Sao Paulo. Lebensflüsse, die durch sie fließen, werden erstickt und zu Kloaken. Sie sind Orte der Sehnsucht für Millionen und werden zu Orten der Verzweiflung für die meisten von ihnen.

      Unsere deutschen Metropolen heißen Berlin, München, Hamburg, Düsseldorf, Köln oder auch das Ruhrgebiet mit Dortmund, Bochum, Essen, Oberhausen und Duisburg. Berlin ist unsere „Hauptstadt der Armut“, wie sie der Berliner Kurier genannt hat.13 Jeder fünfte Berliner lebt unter der Armutsgrenze.14 Entsprechend problematisch entwickeln sich bestimmte Bezirke der Stadt. Längst spricht man von Slums. Im Stadtteil Kreuzberg zum Beispiel. Ein Kurier-Reporter spricht gar vom „Saustall Kreuzberg“. Er schreibt:

      „Zwischen Müll und Dreck, zwischen Spree und Schlesischer Straße: Hinter zuplakatierten Bauzäunen wächst ein wahrer Slum, in dem Lebensbedingungen wie in Armenvierteln von Bombay herrschen. Oder in Favelas brasilianischer Mega-Städte. Es sind etwa 30 Bretterbuden, Wellblechhütten und Zelte – zusammengeschustert zu einer kleinen Stadt. Mitten in Berlin. In Deutschland.“15

      Foto: Sabeth Stickforth16

      Wie in den meisten Städten dieser Welt ist auch das Berliner Problem verursacht von den in die Stadt strömenden Massen an Einwanderern. Auch hier suchen Menschen besseres Leben, Arbeit, sicheres Einkommen. Leider finden viele statt sozialem Aufstieg nur einen Platz in der Gosse.

      Sicher, in Deutschland sind es noch nicht die Massen. Hier wachsen die Städte auch, weil Menschen der Faszination der Stadt mit ihrem bunten und breiten Angebot an Bildung, Kultur, Lebensfreude und Ähnlichem erliegen. Es ist eben „cool“, in der Stadt zu leben, sagen mir junge Leute. Und viele finden, was sie suchen. Aber die Schere zwischen denen, die sich in der Stadt finden, und denen, die von der Stadt „geschluckt“ werden, geht immer weiter auseinander.

       1.3. Wo der Glaube stirbt

      Städte versprechen ihren Ankömmlingen, den Glauben an sich selbst zu stärken. Hier kann jeder etwas werden. Und wer es in der Stadt schafft, schafft es auch überall sonst. Die Erfolgreichen sind die Reklametafeln der Stadt. Sie feuern Sehnsüchte an. Wer sich in der Stadt ausprobiert, wer einmal Selbstverwirklichung in der Stadt getankt hat, der wird immer mehr auf Distanz zu dem gehen, der alles Leben geschaffen hat – Gott. So geschah es im biblischen Babylon. So ist es auch heute noch.

      Heute gilt die Stadt als der eigentliche Säkularisierungsmotor der Gesellschaft. Wo immer in der Welt Städte wachsen, verlieren ihre Einwohner zunehmend den Bezug zu Gott. Das ist nicht nur in der sogenannten nachchristlichen Welt der Fall. Ähnlichen Verfall religiöser Bindungen kann man auch in islamischen, hinduistischen und buddhistischen Gesellschaften beobachten.

      Die Erfolgreichen verlieren den Gauben an Gott, weil sie der Vorstellung erliegen, nun alles aus eigener Kraft tun zu können. Schließlich gibt ihnen ihr Erfolg täglich recht. Genauso gefährdet sind aber auch die Massen derer, die in der Stadt versagen, denen Glück und Erfolg versagt bleiben. Wie Süchtige versuchen sie immer wieder aus ihrer verzweifelten Lage herauszukommen und scheitern doch an all dem, was sie krankmacht, bis ihnen nur noch der stumme Schrei bleibt: „Allein, ich bin allein. Ich habe keinen Menschen. Niemand kann mir mehr helfen.“

      In der Stadt stirbt der Glaube an Gott, an sich selbst und an die Mitmenschlichkeit. Man taucht in die Anonymität ab, verliert sich selbst und seine besten Freunde. Gefragt, ob sie ihre Nachbarn im Hochhaus kennen, antworten die meisten Städter meist mit einem Kopfschütteln. Man kennt sich in der Stadt nicht, und wenn, dann eben nur beiläufig. In der Stadt sterben die Beziehungen innerhalb der sozialen Räume ab, und das trotz der Tatsache, dass man nirgendwo


Скачать книгу