Gottes Herz für deine Stadt. Johannes Reimer
die zu gleichen Schichten gehören, ist es nicht notwendig, dass politische Orientierung oder Selbsteinordnung mit, objektiven’ sozialen Lagen übereinstimmen. Auch wenn sich Einkommen und Arbeitsbedingungen angleichen, bleiben Mentalitätsunterschiede. So können verarmte Adlige immer noch zur oberen Schicht gehören und arbeitslos und zum Teil mittellos gewordene Geschäftsleute, die durch einen Bankrott gegangen sind, zur Mittelschicht, auch wenn sie ökonomisch eher der unteren Klasse angehören. Hier spielen die Lebensart, der Stand und die Herkunft eine größere Rolle als die gegenwärtige ökonomische Lage.
Heute teilt man Gruppen von Menschen gerne in Milieus ein. Ein soziales Milieu beschreibt die Gesamtheit der räumlichen, kulturellen und sozialen Bedingungen, die ein Individuum prägen. Zu den sozialen Bedingungen gehören z. B. Normen, Gesetze sowie wirtschaftliche und politische Bedingungen.
Die Stadt kennt alle diese Gruppen und bietet jeder von ihnen Raum zur Entfaltung. Oft sind diese Räume auch geographisch voneinander getrennt.
2.5. Die Frage nach der Macht
Urbane Räume sind Gestaltungsräume. Und es sind Machtfaktoren, die den Raum so oder anders werden lassen. Macht ist in diesem Zusammenhang nicht mehr als „eine Kapazität zum Handeln“36. Walter Wink macht in seiner Studie zur Macht in der Bibel deutlich, dass Gott Macht schuf, damit diese zum Wohl der Menschen und der Gesellschaft gebraucht wird.37 Erst wenn Menschen Macht haben, können sie handeln. Und immer wenn Gott Menschen einen Auftrag erteilt, verbindet er seinen Auftrag mit der Verleihung einer entsprechenden Vollmacht. Auch die Organisation und Lebensgestaltung in der Stadt kommt nicht ohne Macht aus. Wo in der Stadt Leben gestaltet wird, da üben Menschen Macht aus. Und wer die Macht hat, hat das Sagen. Wer aber ohne Macht ist, bleibt machtlos, ohnmächtig.
Aber Macht korrumpiert, und Macht wird korrumpiert. Unter der Macht der Sünde wird die Ausübung von Macht in der Gesellschaft zu einem Akt, der immer wieder einer entsprechenden Korrektur bedarf. Ein Sinnbild der Macht, die aus dem Ruder läuft, ist das antike Babylon. Hier, am Euphrat im heutigen Irak, zogen Menschen aus der damaligen Welt zusammen. Das fruchtbare Euphrattal versprach allen Wohlstand. Sie nannten ihre Stadt Babylon, was in der akkadischen Sprache so etwas wie Tor zu Gott oder Gottestor heißt. Und hier beschlossen die Babylonier, gemeinsam einen Turm zu bauen, berichtet uns die Bibel. In Gen. 11,1-4 heißt es:
„Alle Menschen hatten die gleiche Sprache und gebrauchten die gleichen Worte. Als sie von Osten aufbrachen, fanden sie eine Ebene im Land Schinar und siedelten sich dort an. Sie sagten zueinander: Auf, formen wir Lehmziegel, und brennen wir sie zu Backsteinen. So dienten ihnen gebrannte Ziegel als Steine und Erdpech als Mörtel. Dann sagten sie: Auf, bauen wir uns eine Stadt und einen Turm mit einer Spitze bis zum Himmel, und machen wir uns damit einen Namen, dann werden wir uns nicht über die ganze Erde zerstreuen.“
Sie hatten noch die katastrophale Urflut in Erinnerung, die nahezu den gesamten Lebensraum ihrer Vorfahren zerstörte. Gott musste Noah und seine Familie retten. Sonst wären auch sie nicht mehr da. Aber auf Gottes Gnade angewiesen zu sein schränkte ein. Er hatte ihnen einen Befehl gegeben. Sie sollten sich über die Erde ausbreiten, sich mehren und über sie herrschen (Gen. 1,27-28). Das forderte heraus, zwang ihnen Gottes Willen auf. Und so wuchs in ihnen jenes Verlangen, das unsere ganze Menschheitsgeschichte auszeichnet – ohne Gott leben zu wollen. Sie kamen auf den dummen Gedanken, ebenjenen Turm zu Babel zu bauen, der bis zum Himmel reichte. So glaubten sie, den Himmel in ihre Wirklichkeit holen zu können. Und das dank eigener Bemühung. Ohne Gott. Ja, sogar gegen Gott! Wir wissen, was daraus wurde – aus Babylon wurde Babel, aus dem Tor zu Gott Wirrsal, denn Gott hatte ihre Sprache verwirrt, und so konnten sie sich nicht mehr verstehen (Gen. 11,9).
Im Neuen Testament steht der Name der Stadt Babylon für eine widergöttliche, urbane Welt, die sich Gott widersetzt. Sie ist ein Hort der Sünde und der Dekadenz – eine Hure, auf deren Stirn geschrieben steht: „Babylon die Große, die Mutter der Huren und der abscheulichen Dinge der Erde“ (Off. 17,3-5). Babylon ist der Ort, an dem die Menschen ihr eigenes Glück in die Hand nehmen. Nicht Gott, sie selbst wollen für ihr Leben Verantwortung tragen.
Und wie damals in Babylon, so streben auch heute Menschen in der Stadt nach Eigenbestimmung und Selbstverwirklichung. Fragt man einen Menschen vom Land, der in die Stadt gezogen ist, warum dieser denn alle Vorteile eines Lebens auf dem Land verlassen habe, dann antwortet dieser in der Regel so wie Roberto, der junge Bauernsohn, der dem Leben auf dem väterlichen Hof den Rücken kehrte:
„In der Stadt kannst du eher jemand werden. Hier gibt es Chancen, Geld zu verdienen und reich zu werden. Hier kannst du Tag und Nacht Spaß haben und das Leben genießen. Auf dem Land hast du nur die harte Arbeit. Ich habe das Dorf satt.“
In der Stadt lernt man, an sich selbst zu glauben, Leben zu wagen, ja sogar waghalsig zu werden. So jedenfalls die Mund-zu-Mund-Reklame. Die Stadt mit ihren tausend Möglichkeiten lässt Träume entstehen. Hier kann jeder etwas werden. Man muss nur wollen und ein Quäntchen Glück haben. Oder den richtigen Riecher, die richtige Idee – oder schlicht und einfach den richtigen Mann oder die richtige Frau treffen. Schließlich gibt es immer wieder jene berühmten Tellerwäscher, die es zum Multimillionär geschafft haben. Warum nicht auch ich?
Freilich hat die Stadt schon viele Menschen kommen und gehen sehen. Nirgendwo sonst sind so viele Träume so schnell gestorben wie in der Stadt. Und doch bleibt sie bis heute der Ort, an dem Millionen von Menschen ihr Glück suchen. Wo sonst, wenn nicht hier, müssen Christen ihr Zeugnis aufrichten. Nichts in der Stadt wird so dringend gebraucht wie eine lebendige Gemeinde, eine Gemeinde, die alle sozialen Klassen und Schichten, Millieus und Gruppen mit dem glücklich machenden Evangelium von Jesus Christus erreicht. Wie aber werden solche Gemeinden gebaut? Was sind die Gemeindebauprinzipien, die unbedingt beachtet werden wollen, wenn Gemeinden Licht im Dunkel der Stadt werden sollen? In den nächsten Kapiteln sehen wir uns die Antworten auf diese Fragen etwas näher an.
„Gott sei Dank haben wir uns mit unserer Stadt beschäftigt.“ Manfred lernt seinen Stadtteil neu kennen
Manfred, ein älterer Ältester einer bayerischen Freien Großstadtgemeinde, konnte sich kaum beruhigen. Zusammen mit den Studenten unserer Hochschule nahm er an der Sozialraumuntersuchung seiner Stadt teil. Das Ziel der Untersuchung war, herauszufinden, wie das Leben in dem Stadtteil, in dem die Gemeinde gebaut wird, pulsiert, was die Bedürfnisse der Menschen sind und welche Stärken Menschen mitbringen. So erhofften wir uns, Chancen formulieren zu können, die den Gemeindebau qualitativ verbessern würden.
Manfred hatte sich zunächst dagegen gesperrt, einer solchen Untersuchung zuzustimmen. „Was soll die ganze Rennerei und Fragerei. Ich lebe hier seit Jahrzehnten. Wenn jemand den Ort kennt, dann bin ich es. Und außerdem ist unsere Gemeinde ja seit Jahren mit der besten Kinderarbeit im Land unterwegs. Ein weiteres Programm verkraftet unsere Gemeinde sowieso nicht.“ Aber dann stimmte er doch zu, und anschließend, als die Untersuchung gelaufen war und er die Ergebnisse vor seinen Augen hielt, blieben ihm die Worte weg. Gerade sein so gelobtes Kinderprogramm erwies sich als völlig belanglos für den Ort. Weniger als 2 % der Bevölkerung des Stadtteils, für den die Gemeinde seit Jahrzehnten betete und von denen sie hoffte, sie eines Tages für Jesus zu gewinnen, bestand aus Familien. Schlicht und einfach gesagt – es gab im Stadtteil keine Kinder, über die man die Bevölkerung hätte gewinnen können. „Jetzt verstehe ich auch, warum die meisten Kinder in unseren Programmen aus den umliegenden Dörfern Woche für Woche in die Stadt gefahren werden müssen“, sagte der völlig verdutzte Älteste. „Wie wollen wir über dieses Programm Menschen für Jesus gewinnen, wenn alle Grundlagen, ein solches Programm erfolgreich aufzustellen, fehlen?“
Die Ortsanalyse hatte natürlich nicht nur diese Tatsache ans Tageslicht gebracht. Auch in anderer Hinsicht entsprach das Bevölkerungsprofil wenig dem Angebot der Gemeinde. Diese schien seit Jahren an den Menschen vorbei Gemeinde zu bauen. Die Annahme, dass das, was man anbot, auch bei den Einwohnern ankommen müsse, erwies sich als falsch und erklärte, warum die Gemeinde sich so erfolgslos um die Menschen