Kunst sehen und verstehen. Sibylle Zambon
ganz spannend sein, herauszufinden, was ein Zeitgenosse von van Eyck alles in der Arnolfini-Hochzeit „mitgelesen“ haben könnte. Vieles ist uns dank der kunstgeschichtlichen Erforschung der Bildinhalte und der Symbolik auch heute bekannt. Generell können wir davon ausgehen, dass in einem Bild aus dem 15. Jahrhundert jeder Gegenstand, ja, jede Geste eine Bedeutung haben konnte. Einige der wichtigsten seien hier genannt:
Hund: | Symbol der Treue |
Spiegel: | einerseits (Selbst-)Erkenntnis, Wahrheit, andererseits Eitelkeit, Wollust |
ausgezogene Schuhe: | Betreten von heiligem Boden |
Bett: | Hochzeitssymbol |
Kopfbedeckung: | Zeichen der verheirateten Frau |
Leuchter/Kerze: | begleitet das Ablegen eines Eides, das allwissende Auge Gottes |
Orangen: | Symbol der Fruchtbarkeit |
Apfel: | Symbol des verlorenen Paradieses |
Was machen wir aber mit einem ungegenständlichen Bild der folgenden Art?
Abb. 14: Mark Rothko, Four Darks in Red (Vier Dunkelheiten in Rot) 1958, Öl auf Leinwand, 2,59 x 2,94 m Whitney Museum of American Art, New York
Gehen Sie genau gleich vor wie im ersten Beispiel. Stellen Sie sich die Frage, ob Ihnen das Bild gefällt, fragen Sie sich anschließend genauer, was Ihnen gefällt beziehungsweise nicht gefällt. Gehen Sie dann einen Schritt weiter und stellen Sie fest, was Sie sehen. Hier könnte die Antwort folgendermaßen lauten: Ich sehe vier dunkle Flächen/Streifen auf einem roten Grund. Zwischen jedem Streifen schimmert ein schmaler Streifen des roten Grundes durch. Die drei oberen Flächen erstrecken sich über die gesamte Bildbreite, während die untere von der roten Farbe eingerahmt wird. Der oberste Streifen ist der schmalste. Er ist von dunkelgrüner Farbe. Die folgende Fläche dominiert die anderen durch ihre Größe und ihre dunkle Farbe. Die zwei unteren Streifen haben in etwa den gleichen oliven Farbton, der das Rot des Untergrundes durchscheinen lässt. Geben Sie dem Bild nun einen Titel oder ein Thema. Also etwa „Vier dunkle Flächen auf rotem Grund“ oder „Der schwarze Balken“. Vielleicht erinnern Sie die vier Streifen auch an Dünen, einen Sandstrand und das Meer mit einem Streifen Himmel im Hintergrund. Dann nennen Sie es „Am Meer“ …
Sie werden merken, dass es gar nicht so einfach ist, dieses an sich schlichte Bild zu beschreiben. Versucht man es trotzdem, wird man gezwungen, genau hinzusehen. Welche Formen sind vorhanden, in welchem Verhältnis stehen sie zueinander? Wie beschreibe ich die Farbtöne, die Nuancen etc.? Diese Fragen schulen unser Auge. Wir haben also durchaus einen Gewinn, wenn wir ein Bild genau betrachten, selbst dann, wenn es uns auf den ersten Blick vielleicht nichts bedeutet.
Notabene: Hier stößt man allerdings an die Grenzen der Reproduzierbarkeit. Denn Farben weichen in der Wiedergabe oft beträchtlich von Originaltönen ab. Zudem ist es nur begrenzt möglich, Farbmischungen wiederzugeben.
Auf die Bedeutung der Größe eines Bildes haben wir schon hingewiesen. So macht es einen wesentlichen Unterschied, ob man die Vier Dunkelheiten in Rot in der Originalgröße von 2,59 x 2,94 m oder in einer Reproduktion von einem Zwanzigstel der Größe sieht. Nicht nur die Wirkung ist eine andere, auch der Betrachter verhält sich ganz anders. Steht man vor dem fast drei Meter hohen Original, so reicht es nicht, lediglich die Augen zu bewegen, um das Bild zu erfassen. Man muss dazu schon den Kopf bewegen oder gar von einer Seite zur anderen gehen. Will man gar das Bildganze überschauen, ist man gezwungen, sich davon zu entfernen. Gleich wie bei einem Fotoapparat ohne Zoom. Erst aus der richtigen Entfernung kann man das Bild überblicken. Aus der Nähe ist man dagegen gleichsam im Bild drin. Möglicherweise ist es auch die Intensität der Farbe, die Sie dazu nötigt, zurückzutreten. So viel Rot muss man schon aushalten können! Diese Eindrücke versagt die Reproduktion, von ihr erhält man lediglich eine Idee des Bildes. Es lohnt sich also, Kunstwerke – wo immer dies möglich ist – im Original zu betrachten, um ihre tatsächliche Wirkung zu erleben.
Nachdem Sie ein Bild in seiner formalen und allenfalls inhaltlichen Dimension erfasst haben, kann noch ein dritter Schritt folgen. Er betrifft nun die geistige Dimension eines Werkes. Dieser Zugang ist freilich nicht immer gegeben und fordert vom Betrachter Zeit und Muße. Trotzdem kann es sein, dass ein bestimmtes Werk in einer Ausstellung Sie nicht mehr loslässt und Sie zum Verweilen oder mehrmaligen Zurückkehren einlädt. Vielleicht können Sie den Grund dieser Attraktion sofort benennen. Viel wahrscheinlicher ist aber, dass Sie vorerst nicht in Worte fassen können, was Sie anzieht. Eine solche Faszination könnte man am besten – um nochmals auf das Kommunikationsmodell zurückzukommen – mit nonverbaler Kommunikation vergleichen. Es sind gleichsam unterschwellige oder begleitende, nicht benennbare Bildaspekte, die zu uns sprechen und die einem Bild eine Bedeutung verleihen, die Form und Inhalt übersteigt. Es ist dann, als würde über das Materielle hinaus – und dies ist ganz ohne esoterischen Beigeschmack zu verstehen – der Geist des Malers die Bildatmosphäre durchdringen. Oder wie es der bekannte deutsche Kunsttheoretiker Werner Schmalenbach in seinem ebenso lesens- wie liebenswerten Buch Über die Liebe zur Kunst und die Wahrheit der Bilder formulierte: „In dem, was auf dem Bild passiert, […] ist natürlich Geistiges enthalten.“25 Das löst möglicherweise Fragen nach der Persönlichkeit des Malers, nach seiner Verfassung, nach seiner Motivation aus, die uns sozusagen in Konversation mit dem Werk bringen. Wenn Sie ein Werk derart ausloten, kann es auch hilfreich sein, mit jemandem darüber zu sprechen.
Das Zitat zum Thema: „Das Besondere der Kunsterfahrung ist jedoch, dass Reiz und Reaktion sich gegenseitig beeinflussen und verändern. Mit dem Empfinden wächst auch die Empfindungsfähigkeit, mit dem Sehen das Gespür für das Ansehnliche und mit dem Betrachten die Mündigkeit des Betrachters.“26
Zusammenfassung: Gehen Sie selbstbewusst auf ein Kunstwerk zu und fühlen Sie sich angesprochen! Gehen Sie von Ihrem „ersten Eindruck“ aus und versuchen Sie ihn zu begründen (gefällt mir/gefällt mir nicht, weil …). Machen Sie noch einen Schritt weiter und differenzieren Sie. Wenn Ihnen ein Bild also nicht gefällt, so suchen Sie nun etwas, das Sie trotzdem anspricht und umgekehrt. Und schließlich tragen Sie innerlich zusammen, was Sie sehen, und geben dem Bild einen Titel oder ein Thema. Scheuen Sie sich nicht, ein Werk, das Sie anspricht, weiter auszuloten.
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