Kunst sehen und verstehen. Sibylle Zambon
des Jüngsten Gerichts auf die Vergänglichkeit und die Wichtigkeit eines sündenfreien Lebens hinwiesen. Beide Motive waren beliebte Themen für die plastische Ausgestaltung von Kirchenportalen. Diese Eingangsbereiche waren – und sind bis heute – zentral gelegene, von Passanten gut frequentierte, weithin sichtbare Orte. Heute würde man sagen: prominente Werbeträger. Auf den Kirchplätzen fanden zudem an gewissen Feiertagen Kirchmessen, also Märkte, statt, zu denen die Menschen von Stadt und Land herbeiströmten. Dies war der ideale Standort, um eine zentrale Botschaft der Kirche, wie jene des Jüngsten Gerichts, zu verkünden. Das Publikum wurde dadurch ermahnt, erinnert oder gar belehrt und reagierte im Idealfall mit Andacht, Ehrfurcht oder Erkenntnis.
Das Zitat zum Thema: Die Malerei sei ein offenes Buch, in dem sowohl Gelehrte als auch Ungebildete die Ereignisse der Heils- und Menschheitsgeschichte zu lesen vermöchten. „Von daher gebührt ihr der einzigartige Ruhm, universelle Sprache zu sein, (…) denn ihre Sprache wird nicht nur von den Angehörigen einer Nation verstanden, sondern von denen aller Nationen, weil ihre Schreibart italienisch, französisch, spanisch, deutsch, türkisch, griechisch, chinesisch, chaldäisch ist und auch alle anderen Sprachen des Universums mit einschließt: ein unvergleichlicher Vorzug dieser Kunst, der nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Bei einer derartigen Vielfalt also von Menschen, Nationen und Sprachen drückt sie sich mit nur einer einzigen Sprache aus!“15
Für den modernen Betrachter eines mittelalterlichen Kunstwerks mag nicht mehr unbedingt das religiöse Moment im Vordergrund stehen. Er kann sich aber auch heute noch an seiner Schönheit oder Aussagekraft erfreuen und, wenn er sich etwas Zeit nimmt, Erstaunliches entdecken. Nehmen wir beispielsweise das Westportal des Berner Münsters, so erkennen wir ohne große Vorkenntnisse: Das Bild zeigt eine Ansammlung von Menschen. Auf der linken Bildhälfte erscheinen sie wohlgeordnet, in farbigen oder weißen Kleidern. Ihre Gesichter sind nach oben gerichtet, einige haben die Hände gefaltet. Sie scheinen zu singen und zu beten. Die ganze linke Bildhälfte ist zudem reich vergoldet. Auf der rechten Seite überwiegen dagegen dunkle Farbtöne. Hier herrscht das Chaos: Die Menschen sind nackt oder nur spärlich bekleidet. Einige sind in wilden Verrenkungen dargestellt, von anderen sind nur einzelne Körperteile erkennbar. Die Gesichter dieser Gruppe grinsen oder haben einen gleichgültigen Ausdruck. Während auf der linken Bildseite ein goldenes Tor zu erkennen ist, dominiert auf der rechten ein Feuerschlund, aus dem einige leblose Menschengesichter und Monsterfratzen starren. Auf beiden Bildhälften befinden sich gekrönte Häupter, Angehörige der Geistlichkeit und sogar Kinder. Kein Zweifel: hier wird das Böse vom Guten getrennt. Der dominant vor die Szene gestellte Engel mit Schwert und Waage in der
Bildmitte unternimmt gleichsam die Teilung in Himmel und Hölle, quer durch alle Volksschichten. Eine wahrhaft schaurige Szene, die freilich in einer Zeit, die nicht so von Bildern überflutet war wie die unsrige, noch viel gewaltiger wirken musste.
Abb. 10: Erhart Küng, Jüngstes Gericht letztes Drittel 15. Jh. Tympanon des Hauptportales des Berner Münsters, Bern, Schweiz
Allein durch das Betrachten lässt sich also schon einiges aus dem Bild herauslesen. Selbst wenn wir die Hauptfiguren nicht identifizieren können, sich uns der Symbolgehalt nicht völlig erschließt, wir die biblische Quelle nicht genau kennen, so verstehen wir die Hauptbotschaft: die Trennung von Gut und Böse.
Nachdem wir nun je ein Bild aus einer uns nicht mehr vertrauten Zeit und eines aus einer uns fremden Kultur betrachtet haben, stellen wir fest: Wir haben von der bildlichen Botschaft mehr verstanden, als wenn wir sie als mittelhochdeutschen bzw. chinesischen Text vorgesetzt bekommen hätten.
2|3 Das Publikum – das sind Sie!
Dieses Kapitel müssten eigentlich Sie schreiben. Denn es geht um den Bildbetrachter, also um Sie. Hier könnte dann etwa stehen, welche kulturellen und persönlichen Voraussetzungen Sie mitbringen, welche Interessen Sie haben und welche Erfahrungen beziehungsweise Erwartung an die Kunst. Verallgemeinernd sprechen wir nun aber vom Publikum und von seinem Umgang mit Kunst.
Abb. 11: Andrea del Verrocchio (Modell) Alessandro Leopardi (Ausführung) Reiterstandbild des Bartolomeo Colleoni 1479 – 1496, Bronze, Campo SS. Giovanni e Paolo, Venedig
Das Zitat zum Thema: „Jeder geistige Genuss führt etwas Arbeit mit sich; so wird man auch den Kunstwerken irgendwie entgegenkommen müssen, wenn man sie nicht völlig übergehen will.“16
Dieses Zitat des Schweizer Kunsthistorikers Jacob Burckhardt (1818 – 1897) mag für heutige Ohren etwas antiquiert klingen. Wer will in einer Zeit des Hier, Jetzt und Alles schon arbeiten, um zu genießen?! Trotzdem wollen wir in diesem Kapitel – ohne allzu großen Aufwand zu betreiben – herausfinden, was dieses „irgendwie“ bedeuten könnte.
Sie sind gefragt: Wo kann Ihnen Kunst begegnen?
Antwort: Die naheliegende Antwort ist: in Museen und Galerien. Doch auch ohne Eintrittsticket hat man Gelegenheit, auf Kunst zu treffen. Denken Sie an die Innenräume von Kirchen oder öffentlichen Gebäuden. Haben Sie sich schon einmal in Ihrer Bank umgesehen, bei Ihrem Arzt, vor Ihrem Rathaus?
Erinnern Sie sich an das Kirchenportal des Berner Münsters. Es richtet – bis heute – seine Botschaft an alle Passanten. Die zentrale Aussage des Bildes ist so stark, dass sie auch 600 Jahre später noch verstanden werden kann. So trifft man überall auf Kunstwerke, die darauf warten, wahrgenommen zu werden. Meist gut sichtbar auf öffentlichen Plätzen befinden sich Plastiken von bekannten Persönlichkeiten, Herrscherstatuen – oder Reiterstandbilder. Der Condottiere Bartolomeo Colleoni beispielsweise steht seit 1483 auf dem Campo SS. Giovanni e Paolo in Venedig. Wer sich die Mühe macht, einmal an dem monumentalen Sockel emporzublicken, entdeckt beinahe schon in schwindelnder Höhe Pferd und Reiter. Die Grandezza des Dargestellten lässt zweifelsfrei auf eine bedeutende Persönlichkeit schließen, auch wenn ihr Name nur wenigen der vorbeiziehenden Touristen bekannt sein dürfte. Dem Ritter ist grimmige Entschlossenheit ins Gesicht geschrieben. Seine Rüstung deutet an, dass er seine Meriten im Kampf erwarb. Die Bildbotschaft ist eindeutig: Stärke, Macht, Ruhm.
Die Anekdote zum Thema: Der Senat von Venedig schrieb einen Wettbewerb aus, worin das Modell eines Pferdes für das Reiterdenkmal des 1475 verstorbenen Feldhauptmanns Colleoni verlangt wurde, und Andrea del Verrocchio ging als Sieger hervor. Als der Künstler das Modell für das Pferd vollendet hatte und bereits den Bronzeguss vorbereitete, wurde aufgrund von Intrigen einiger Edelleute der Beschluss gefasst, Bellano aus Genua solle die Figur und Verrocchio das Pferd machen. Kaum hatte Verrocchio das vernommen, zerschlug er die Beine und den Kopf seines Modells und wandte sich voll Zorn, ohne ein Wort zu sagen, nach Florenz. Als der Senat davon hörte, ließ er ihn wissen, dass er nie mehr wagen solle, nach Venedig zu kommen, sonst würde ihm der Kopf abgeschlagen. Darauf antwortete der Meister, er würde sich davor hüten, da es nicht in ihrer Macht stünde, abgeschlagene Menschenköpfe zu ersetzen; sie könnten es ja nicht einmal bei einem Pferd, während er wenigstens seinem Pferde einen noch viel schöneren wiedergeben könne. Diese Antwort gefiel den Senatoren sehr, und Andrea wurde mit doppeltem Gehalt nach Venedig zurückgerufen. Dort stellte er sein erstes Modell wieder her und goss es in Bronze.17
Abb. 12: Marino Marini Il Miracolo (das Wunder) 1953, Bronze, Höhe: 255 cm
Während die meisten Touristen Verrocchios Standbild mehr am Rande zur Kenntnis nehmen dürften, zieht eine andere Plastik, als Teil einer Museumssammlung, die ungeteilte Aufmerksamkeit des Publikums auf sich: Marino Marinis Il Miracolo. Ein Reiterbild, das Fragen provoziert: „Was ist das?“, „Ist es ein stürzendes oder ein sich aufbäumendes Pferd?“, „Wie ist es möglich, dass sich der Reiter in waagrechter Position halten kann?“, „Warum