Kunst sehen und verstehen. Sibylle Zambon
alt. Sie wurden einst für rituelle Zwecke geschaffen, um die Jagd günstig vorzubereiten. Historisch gesehen gehen die Anfänge der Kunst also bis in die Altsteinzeit zurück.
In seiner räumlichen Ausdehnung erstreckt sich das Kunstschaffen über die ganze Welt. Überall da, wo der Mensch ist oder wo er als denkendes Wesen seine Spuren hinterließ, trifft man auf Kunst.
Abb. 2: Joseph Benoît Suvée (1743 – 1807) Dibutade oder Die Entdeckung der Malerei, 1793 Öl auf Leinwand, 131,5 x 267 cm Groeningemuseum Brügge
Allerdings nicht immer in der Gestalt von Bildern, die man an die Wand hängen kann, sondern einmal als Verzierung auf einem Gebrauchsgegenstand, als Schmuck, ein andermal als kultisches Gerät. Kunst ist also eng mit dem Menschen verknüpft, dessen Schöpferkraft Grundbedingung für ihre Entstehung ist. Oder anders gesagt: Ohne Mensch keine Kunst. Interessant wäre sicher auch die Frage, ob die Umkehrung dieses Satzes ebenso Gültigkeit hat. Kann man die Behauptung wagen ohne Kunst kein Mensch? Wir wollen uns hier nicht in philosophischen Gedanken verlieren, sondern diese Frage einfach im Raum stehen lassen. Vielleicht finden Sie im Verlauf Ihrer Auseinandersetzung mit Kunst Ihre ganz persönliche Antwort dazu.
Die Anekdote zum Thema: Laut Plinius dem Älteren (1. Jahrhundert nach Chr.) gehen die Ursprünge der Malerei auf eine Liebesgeschichte zurück: So musste Dibutade, ein Mädchen aus Korinth, von ihrem Geliebten Abschied nehmen. Bevor er sie verließ, machte sie ein Bildnis von ihm, indem sie seinen Schattenwurf an der Wand nachzeichnete.
1|3 Kunst kommt (nicht) von Können
„Das könnte ich auch!“ Eine häufig geäußerte Reaktion von Menschen, die sich mit moderner Kunst konfrontiert sehen. Mit dieser Bemerkung meinen sie nicht etwa, dass sie selbst künstlerisch tätig sind. Nein, sie wollen damit andeuten, dass unmöglich Kunst sein kann, was sie als Laien auch zustande bringen würden. Kunst ist für sie etwas, das nicht jeder kann, etwas, das eine überragende Fertigkeit erfordert. Kunst kommt für sie von Können. Und tatsächlich haben sie recht!
Kunst hatte ursprünglich die Bedeutung von Können. Das lateinische Wort ars, das wir gemeinhin mit Kunst übersetzen, bezeichnete nämlich in der Antike ganz allgemein eine Fähigkeit, Fertigkeit oder gar eine Wissenschaft. Das galt auch im Mittelalter. So meinte das mittelhochdeutsche Wort kunst ein Wissen, eine Geschicklichkeit oder aber eine Erleuchtung. Im engeren Sinne wurde also die Vervollkommnung eines Handwerks, wie beispielsweise der Buchmalkunst, aber auch einer Fähigkeit, etwa der, Reden zu halten (Redekunst oder Rhetorik), oder sogar die Kriegführung als Kunst aufgefasst. Bezeichnenderweise konnotiert der Begriff nun aber auch die Bedeutung von Wissenschaft und Erleuchtung. Das sind zwei interessante Aspekte, die im Kapitel Keine Kunst ohne Künstler noch aufgegriffen werden.
Abb. 3: Hans Holbein d. J., Heinrich VIII. ca. 1539/40, 88,2 x 75 cm Tempera auf Holz Palazzo Barberini, Rom
Notabene: Seit dem Altertum kannte man die sieben freien Künste, also die septem artes liberales, bestehend aus Rhetorik, Grammatik, Dialektik, Arithmetik, Astrologie, Geometrie und Musik. Sie ermöglichten dem freien Mann (deshalb freie Künste) den Zugang zum eigentlichen Studium. Malerei und Bildhauerei sind nicht aufgeführt. Sie gehörten zu den praktischen Künsten, den sogenannten artes mechanicae. Sie dienten dem direkten Broterwerb und wurden deshalb als niederer als die freien Künste eingestuft.
Im Mittelalter wurden Malerei, Bildhauerei und Architektur in der Regel vom Kollektiv einer Bauhütte oder einer Malschule ausgeführt. Eine zentrale Rolle kam den Skriptorien, den Schreibstuben der Klöster, zu, wo in Gemeinschaftsarbeit großartige Kunstwerke der Buchmalkunst geschaffen wurden. Mit dem Aufstieg der Städte im ausgehenden Mittelalter entwickelten sich dann die „praktischen Künste“ zunehmend im Rahmen des Zunftwesens. Obwohl die Zünfte und ihre Mitglieder gesellschaftlich angesehen waren, war man dann in der Renaissance bemüht, die Malerei gegenüber den freien Künsten intellektuell aufzuwerten. Bildnerisches Schaffen sollte fortan der Musik oder Dichtkunst ebenbürtig als freie Kunst wahrgenommen werden. (vgl. Kapitel Der Künstler).
Notabene: Der deutsche Maler Hans Holbein d. J. (1498 – 1543) erhielt 1520 durch Heirat die Gelegenheit, der Basler Malerzunft „Zum Himmel“ beizutreten. Das verschaffte ihm so lukrative Aufträge wie die Ausmalung des Großratssaales im Basler Rathaus (1521) und indirekt eine Karriere im Ausland. 1523/24 arbeitete er für den französischen König, 1532 verließ er Basel für immer, um Hofmaler Heinrichs VIII. von England zu werden. Dort porträtierte er nicht nur den König und drei seiner insgesamt sechs Ehefrauen, sondern auch zahlreiche andere Prominente aus Adel und Wissenschaft.
Eine weitere Facette des Kunstbegriffs erschließt sich aus der Bedeutung des mittelhochdeutschen Wortes künstlich, das zunächst klug, geschickt oder kenntnisreich meinte. Bald aber wurde künstlich auch im Sinne von „von Menschenhand geschaffen“ verwendet und dem Begriff natürlich gegenübergestellt. So übernahm das Gemälde als geschicktes Abbild der Natur eine wichtige Informationsfunktion in einer Zeit, als es noch keinen Fotoapparat gab. Kunstwerke entstanden also etwa, um der Welt oder Nachwelt Macht und Aussehen Heinrichs VIII. zu demonstrieren, um das Vergnügen spielender Kinder festzuhalten (vgl. Brueghel, Kapitel Genremalerei), sie entstanden beim Versuch, ein besonders dekoratives Arrangement von Früchten oder Blumen möglichst naturnah abzubilden (vgl. Kapitel Stillleben) oder eine schöne Landschaft wiederzugeben (vgl. Meindert Hobbema, Kapitel Landschaft), aber auch, um die Bombardierung der Stadt Guernica 1937 im Spanischen Bürgerkrieg zu dokumentieren (vgl. Picasso, Kapitel Historienmalerei). Aus diesen verschiedenen Bedürfnissen des Abbildens entwickelten sich im Lauf der Zeit die Kunstgattungen Porträt, Genre, Landschaft, Stillleben und Historie.
1|4 Imagination, Idee, Originalität
Abbildfunktion oder gar Augenzeugenschaft sind indessen keine unabdingbaren Voraussetzungen für die Entstehung von Kunst. So versteht es sich von selbst, dass ein Künstler nicht in jedem Fall auch (Zeit-)Zeuge sein kann oder konnte. Der Maler Matthias Grünewald (vgl. S. 129), der um 1500 die Leiden Christi am Kreuz malte, tat dies nach seiner Vorstellung. Er hatte weder Jesus Christus noch den Originalschauplatz je gesehen und doch schwebte ihm ein inneres Bild dieser Szene vor. Eine innere Anschauung, die einerseits durch Vorbilder geprägt war, andererseits aber auch durch seine individuellen Ideen. Jedem Kunstwerk liegt also eine Idee oder ein Konzept zugrunde. Dieses beinhaltet neben dem Was, nämlich dem Thema, auch das Wie, nämlich die Umsetzung.
Das bringt uns zu weiteren Kriterien dessen, was Kunst ausmacht, nämlich zu Imagination, Idee und Originalität des Künstlers. Gerade diese Dimensionen gewannen im Laufe der Jahrhunderte die Vorrangstellung über die eigentliche Kunstfertigkeit und erreichten 1917 einen Höhepunkt. In jenem Jahr nämlich wollte der französische Künstler Marcel Duchamp unter dem Pseudonym R. Mutt ein Pissoir mit dem sprechenden Titel Fontaine in einer New Yorker Ausstellung zeigen. Das Objekt wurde zwar von der Jury – der auch Duchamp selbst angehörte – abgewiesen, später aber mehr als rehabilitiert: Bis heute gilt es (beziehungsweise Fotos und Repliken davon) als ein Schlüsselwerk moderner Kunst.
Abb. 4: Marcel Duchamp (signiert R. Mutt) Das Original Fontaine 1917, fotografiert von Alfred Stieglitz
Notabene: Ein Pissoir soll Kunst sein? Kein Wunder, denken Sie jetzt vielleicht, dass ich damit nichts anfangen kann. Und in der Tat ist es, seit Kunst auf diese und andere Weise scheinbar ad absurdum geführt wurde, nicht einfacher geworden, sie zu verstehen. Allerdings: Vieles wird plausibel, wenn man die Zusammenhänge der Zeit und die Vita des Künstlers berücksichtigt.
Tatsächlich