Kunst sehen und verstehen. Sibylle Zambon
5|1 Das Mittelalter (600–1500) – Wie finster war es?
5|2 Renaissance und Manierismus (1400–1600) – Wer wird denn da wiedergeboren? Spätphase der Renaissance: Manierismus
5|3 Barock und Rokoko (1600–1789) – Mehr Schein als Sein? Spätphase des Barock: Rokoko
5|4 Klassizismus (1770–1850) – Zurück in die Antike?
5|5 Romantik (1790–1850) – Zeit für Gefühle Varianten der Romantik: Nazarener und Präraffaeliten
5|6 Die Moderne (ab 1850–1950) – Im Sog der Ismen oder: Ist weniger mehr?
a) Realismus und Naturalismus (1840–1880)
b) Impressionismus (1860–1900)
c) Symbolismus und Jugendstil (1880–1910)
d) Fauvismus und Expressionismus (1905–1925)
e) Kubismus und Futurismus (1907–1925)
f) Konstruktivismus und De Stijl (1913–1930)
g) Dadaismus und Surrealismus (1916–1945)
5|7 Die Moderne in Nordamerika
5|8 Nach 1945
5|9 Willkommen im Dschungel – Die Gegenwartskunst
Kunst: Was ist das?
Sie sind gefragt: Bevor Sie weiterlesen, sind Sie gefragt: Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an Kunst denken?
❑ Ein Gemälde in einem Museum
❑ Eine Kirche
❑ Die Häkeldecke Ihrer Großmutter
❑ Gar nichts
Antwort: Nun, wie auch immer Ihre Antwort lautet, Sie haben entweder bereits eine Vorstellung von Kunst oder Sie sind, was Kunst betrifft, noch nicht vorbelastet. Beides sind gute Voraussetzungen, um sich näher damit zu befassen.
1|1 Kunst ist …
Darüber, was Kunst sei, herrscht weitgehend Uneinigkeit. Einig ist man sich lediglich darin, dass sie schwer zu definieren ist. Selbst Künstler, die als Schöpfer den Entstehungsprozess eines Werkes miterleben und gestalten, haben Schwierigkeiten, wenn es gilt, in Worte zu fassen, was sie produzieren. Viele haben es dennoch versucht, fast ebenso viele Antworten haben sie gefunden. Hier folgt eine kleine, keineswegs repräsentative Auswahl ihrer Aussagen. Sie zeigt, dass es gar nicht so einfach ist, diesen eigentlich so geläufigen Begriff in den Griff zu bekommen.
So schwingt in den Worten des Schweizer Malers Johann Heinrich Füssli aus dem 18./19. Jahrhundert noch unüberhörbares Pathos: „Die Kunst ist die Dienerin der Natur, das Genie und Talent sind die Gehilfen der Kunst.“ Seiner Sache schon weniger sicher war sich dagegen Vincent van Gogh, er fand: „Ich kenne noch keine bessere Definition für das Wort Kunst als diese: Kunst, das ist der Mensch!“ Und Pablo Picasso, der große Maler des 20. Jahrhunderts, äußerte sich philosophisch: „Wir alle wissen, dass Kunst nicht die Wahrheit ist. Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lehrt, wenigstens die Wahrheit, die wir als Menschen begreifen können.“ Wem das zu wenig konkret ist, helfen vielleicht die Worte Joseph Beuys’ von 1985 weiter: „Das Kunstwerk ist das allergrößte Rätsel, aber der Mensch ist die Lösung.“ Der russische Maler El Lissitzky schließlich stellte lakonisch fest: „Wenn du mich fragst, was die Kunst sei, so weiß ich es nicht. Wenn du mich nicht fragst, so weiß ich es.“ Mit diesen Worten scheint er sich ganz gut aus der Affäre zu ziehen.
Trotzdem wollen wir noch zeitgenössische Gewährsleute zu Rate ziehen, die eigens für dieses Buch befragt wurden. Eine ausführliche und durchdachte Definition widmet Ihnen der Kunsttheoretiker und Kurator Jean-Christophe Ammann:
„Kunst ist dem Menschen in die Wiege gelegt, als ein Gestaltungswille. In der Kunst projiziert sich der Mensch als Künstler, sowie jeder Mensch sich projizierend seinem Leben eine Gestalt gibt. Der Mensch, der sich nicht projiziert, regrediert. Insofern ist Kunst eine Notwendigkeit. Aus abendländischer Sicht unterliegt Kunst dem Wandel. Ohne Wandel keine Kontinuität. Jedoch muss auch gesagt sein: ohne Kontinuität kein Wandel. Für beides steht der Künstler ein: für das Existenzielle und die kollektive Biografie.“
Einen etwas anderen Ansatz vertritt die Schweizer Künstlerin Pipilotti Rist: „Ziel der Kunst ist es, zur Evolution beizutragen, die Hirnkapazität zu erweitern, eine objektive Sicht auf die soziale Entwicklung zu garantieren, positive Energien zu erzeugen, Vernunft und Instinkt miteinander zu versöhnen, Klischees und Vorurteile zu zerstören.“1
Bringen wir’s zum Schluss auf den Punkt, wie der Yello-Musiker und Künstler Dieter Meier. Er findet: „Art reaches parts of my mind, other things don’t.“ Also: „Kunst erreicht Teile meiner Seele, die andere Dinge nicht erreichen.“
Abb. 1: Diese Malereien wurden 1994 in den Höhlen von Chauvet in Frankreich entdeckt. Sie sind etwa 30.000 Jahre alt und zählen zu den ältesten Zeugnissen für künstlerisches Schaffen.
1|2 Ursprünge
Immerhin stimmen doch einige der genannten Zitate darin überein, dass Kunst etwas mit dem Menschen zu tun habe. Und in der Tat reicht ihr weites Feld in seiner zeitlichen Dimension bis zu den Ursprüngen der Menschheit zurück2. Zu den ältesten