Kunst sehen und verstehen. Sibylle Zambon

Kunst sehen und verstehen - Sibylle Zambon


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und Gustave Courbet (1819 – 1877) wurden zu eigentlichen Gesellschaftskritikern, indem sie in ihren Werken Missstände aufzeigten.

      Hintergrund zum Bild: Nachdem seit der Mitte des 17. Jahrhunderts die englische Bevölkerung ermutigt worden war, Gin zu brennen und zu verkaufen, um so die Kornpreise und die Exporte in die Kolonien hochzuhalten, zeigten sich ein Jahrhundert später die negativen Auswirkungen im eigenen Lande. Sozialer Abstieg, Verzweiflung und Tod vieler waren die Folgen. Hogarth prangerte mit seinem Kupferstich die desolaten Zustände an und stellte ihnen in einer zweiten Illustration, der Beer Lane, die Alternative eines prosperierenden, auf Bierproduktion gegründeten Alltags gegenüber (vgl. auch Kapitel Genremalerei).

      Abb. 7: William Hogarth Gin Lane

      Solche und ähnliche Bilder entstanden immer häufiger aus dem Mitteilungsbedürfnis der Maler, das mehr und mehr zur treibenden Kraft ihres Schaffens wurde. Während sich der Künstler allmählich von seinen traditionellen Auftraggebern und Mäzenen emanzipierte, gewannen künstlerische Freiheit und Unabhängigkeit die Oberhand über Kunstfertigkeit und naturalistische Darstellung. Ein Prozess, der nicht selten auf Kosten sozialer Anerkennung ging. So zeugen die zu Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts entstehenden „Ismen“, wie Impressionismus oder Symbolismus, von jenem Aufbruch in der Malerei, der von der Gesellschaft vorerst mehrheitlich nicht verstanden wurde und Künstler ins gesellschaftliche Abseits manövrierte. Viele führten deshalb mehr oder weniger freiwillig ein Leben als Bohemiens. Dieses Außenseitertum ging vermehrt mit einer dezidiert antibürgerlichen Haltung einher. Der unverstandene Künstler, der an sich und der Welt leidet, der um seiner Kunst willen Entbehrung und Krankheit auf sich nimmt, der geradezu zum Märtyrer wird, wurde bald zum Inbegriff wahren Künstlertums. Gerade dieses Leben außerhalb der Konventionen scheint den Künstler seit dem 19. Jahrhundert und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zu charakterisieren. Künstlerische, oft auch moralische Freiheit und gesellschaftliche Ungebundenheit garantierten aber noch lange keine Unabhängigkeit. Denn im gleichen Maß, wie sich der Künstler von seinen Auftraggebern löste, wurde er vom freien Markt abhängig.

      Notabene: Der Versuch einer Rückbindung des Künstlers an die Gesellschaft findet sich wieder in den totalitären Regimes des Kommunismus und des Nationalsozialismus. Ersterer betrachtete die Kunst, wie jede andere Arbeit auch, als einen Sektor der Planwirtschaft. Ziel war das Kunstwerk als Produkt einer rationalisierten Gemeinschaftsarbeit unter Einbezug der neuesten technischen Entwicklungen. Stilwille und individueller Ausdruck – die als künstlerische Eitelkeit verpönt waren – wurden dagegen für die Entfremdung zwischen der Kunst und dem Volk verantwortlich gemacht. Es galt das Primat des Inhalts über die Form. Beliebt waren in beiden Ideologien Arbeitersujets.

      Seit Beginn des 20. Jahrhunderts schlossen sich einzelne Künstler vermehrt auch in Gruppen zusammen, um so einer Kunstauffassung mehr Gewicht zu verleihen. Die Brücke, Der Blaue Reiter, De Stijl, aber auch die Dada-Bewegung (vgl. Kapitel Die Moderne) machten ihr Kunstverständnis durch Gemeinschaftsausstellungen oder -veranstaltungen und theoretische Schriften publik. Eine solche Bewegung jüngeren Datums war in den 1960er-Jahren die Fluxus-Bewegung. Diese Kollektivkunstbewegung wollte den Kunstbetrieb anonymisieren und zugunsten des Kollektivs auf das Signieren der Werke verzichten. Hand in Hand mit der Forderung nach Entpersonalisierung des Künstlers ging der Wunsch, das Gefälle zwischen Künstler und Kunstpublikum zu überwinden. Bestrebungen dieser Art finden sich bis heute in der Kunstszene. Mittlerweile zeichnen zahlreiche Künstlerkollektive oder -paare gemeinschaftlich für ihre Werke (Christo und Jeanne Claude, Gilbert & George, Fischli/​Weiss). Nicht selten sind sie auch selber nicht mehr Ausführende ihrer Kunst, sondern lediglich Ideengeber, Konzepter oder, um einen Begriff aus der Wirtschaft zu verwenden, Manager.13

      Die Nähe von Kunst und Wirtschaft hat selbstverständlich auch ihre Wirkung auf die Künstlerlaufbahn. So scheint gegenwärtig der Karriereerfolg in erster Linie von der Marktnische oder vom Trend abzuhängen, die sich Kunstschaffende zunutze machen können. Das heißt, ob es ihnen gelingt, durch etwas ganz Neues oder durch die originelle Umsetzung einer bereits bestehenden Idee auf sich aufmerksam zu machen. Ist ein Künstler dann erst einmal etabliert, wird alles zum Kunstwerk, was den Weg ins Museum schafft oder seine Unterschrift trägt. Was so eine Signatur für eine Bedeutung haben kann, zeigt ein Tagebucheintrag von Andy Warhol vom 8. März 1981:

      Die Anekdote zum Thema: „Wir frühstückten mit Joseph Beuys. Er bestand darauf, dass ich in sein Haus komme und mir sein Atelier anschaue. Ich sollte sehen, wie er lebt, mit ihm Tee trinken und Kuchen essen. Es war sehr nett. Er schenkte mir ein Kunstwerk, das aus zwei Flaschen mit Sprudelwasser bestand. Sie explodierten in meinem Koffer und zerstörten alles, was ich mithatte. Ich kann den Koffer nicht aufmachen, weil ich nicht weiß, ob es sich noch um ein Kunstwerk handelt oder nur um zerbrochene Flaschen. Wenn er nach New York kommt, muss ich ihn dazu bringen, den Koffer zu signieren, denn sonst ist er zu nichts mehr zu gebrauchen.“14

      In diesem Abschnitt soll Kurt Tucholsky beim Wort genommen werden. Sagt ein Bild tatsächlich mehr als tausend Worte? Sie haben bereits erfahren, dass Kunst so alt ist wie die Menschheit. Man malte oder zeichnete an die Wände von Höhlen, schnitzte in Holz oder Knochen oder errichtete Monumente für rituelle Zwecke, wie etwa die berühmte Anlage von Stonehenge in England. Auch wenn sich die Forschung über die genaue Bestimmung der Anlage nicht einig ist, so war sie doch unbestritten ein Monument von überragender Bedeutung. Das belegt die Tatsache, dass Stonehenge über mehrere Jahrtausende benutzt und erweitert wurde, von der Jungsteinzeit bis in die Bronzezeit.

      Noch bevor sich die Menschheit einer Schrift bedienen konnte, kommunizierte sie also durch Bilder. Bei jedem einzelnen Menschen ist das nicht anders: Bevor ein Kind lesen und schreiben lernt, zeichnet es. Dabei sind in der frühkindlichen Zeichnung durchaus kulturübergreifende Aspekte ersichtlich, bevor sich kulturell bestimmte Entwicklungsschritte bemerkbar machen: angefangen beim Kritzeln, zum Zeichnen von Inhalten, bis hin zu planmäßig angelegten Bildern aus seiner Umwelt. In gewissem Sinne scheinen Bilder als einfachste Ausdrucksform des Menschen einer grundlegenden Verständigung zu dienen.

      Abb. 8: Stonehenge bei Salisbury in Südengland: Ein Grabmal oder Denkmal oder doch eher eine Art Kalender, wie es bestimmte, zur Sonnenwende und Tagundnachtgleiche markierte Steine nahelegen?

      Sie sind gefragt: Machen Sie die Probe aufs Exempel.

      Was sehen Sie auf Abb. 9 rechts?

      Abb. 9: Yan Li-pen, Cao Pi, Kaiser von Wei (eines von 13 Kaiserporträts des chinesischen Künstlers) 7. Jh. n. Chr., 51,3 x 53,1 cm Tinte und Farbe auf Seide Boston Museum of Fine Arts

      Antwort: Auf den ersten Blick unterscheidet man drei Männer in Dreiviertelansicht. Der mittlere ist in einem größeren Maßstab dargestellt als die beiden anderen. Auch trägt er ein prächtiges Gewand mit reichem Faltenwurf und schönen Verzierungen. Der Größe und Kleidung nach muss er sehr bedeutend sein. In der rechten oberen Ecke erkennt man Schriftzeichen.

      Hätten sie einen chinesischen Text vor sich, der einen wichtigen Mann und seine zwei Begleiter beschreibt, so würden die meisten Europäer im besten Fall die Schriftzeichen als chinesische identifizieren. In der bildnerischen Umsetzung dagegen erkennt man auf Anhieb Anzahl, Geschlecht und den gesellschaftlichen Rang der Dargestellten. Kunst vermag also etwas, das Geschriebenes nicht kann: über Sprachgrenzen hinweg Inhalte zu vermitteln.

      Gerade im Mittelalter, einer Zeit also, in der die meisten Menschen weder lesen noch schreiben konnten, baute die Kirche auf die Wirksamkeit der bildlichen Darstellung. So entstanden viele Kunstwerke im Auftrag der Kirche, um den Gläubigen die biblischen Botschaften vor Augen zu führen


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