Meine persönliche Reformation. Maria Katharina Moser

Meine persönliche Reformation - Maria Katharina Moser


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nach dem Mehrwert. Meine Zeit als Ministrant habe ich in guter Erinnerung: Das Geheimnisvolle, Fremde, Besondere als Kind zu erleben – es zwar nicht zu verstehen, aber es zu erleben, das ist etwas Unvergessliches. Ich erinnere mich auch daran, dass ich den katholischen Religionsunterricht sehr gerne besuchte, immerhin treu bis zur Matura – einen Unterricht, der mich sehr interessierte und der in meinem Schulalltag eine besondere Rolle spielte. Denn da wurden Fragen des Lebens und Glaubens angesprochen, die auch meine Fragen waren – und ich muss gute Religionslehrer gehabt haben, auch wenn die Erinnerung an sie heute verblasst ist. Da war wohl eine tiefe religiöse Sehnsucht, die schon in meiner katholischen Zeit stark war, aber in ihr nicht erfüllt wurde.

      Bald schon fingen mein evangelischer Freund und ich an, den Jugendkreis der Pfarrgemeinde zu leiten und auch sonst in der Gemeinde mitzuarbeiten. Und faszinierend – niemand fragte danach, ob ich denn evangelisch sei. Es wurde entweder stillschweigend angenommen, oder man sprach einfach nicht darüber, weil es nicht wichtig war. In dieser Zeit wurde mein Kontakt zum damaligen evangelischen Pfarrer immer enger. Er imponierte mir sehr als Mensch und Pfarrer mit seiner Familie. Ich begann, ernsthaft darüber nachzudenken, ob ich nicht vielleicht auch Pfarrer werden könnte. Von Anfang an war klar, dass ich mir nicht vorstellen konnte, Priester zu werden. Warum, das kann ich eigentlich gar nicht sagen. Es war mehr ein unbestimmtes Gefühl als ein reflektiertes Wissen. Vielleicht waren mir die Priester, die ich damals kannte, zu fern, zu wenig geerdet, zu wenig persönlich als Menschen erreichbar. Aber sicher bin ich mir nicht. Nur eines ist mir immer klar gewesen: Ich möchte heiraten, eine Familie gründen, Kinder haben, so wie der evangelische Pfarrer, den ich besser kennengelernt hatte – und so war es auch ein sehr pragmatischer Grund, der mir den Weg zur evangelischen Theologie und schließlich ins Pfarramt gewiesen hat.

      Es begann ein langer Weg über den Zivildienst, die Sprachhürden Latinum, Graecum und Hebraicum zum Theologiestudium in Wien und Zürich. Inzwischen war ich auch „so nebenbei“ aus der römisch-katholischen Kirche ausgetreten und evangelisch geworden – wenig spektakulär, einfach logisch und konsequent, da ich zu diesem Zeitpunkt schon fünf Jahre sehr aktiv in der evangelischen Pfarrgemeinde mitarbeitete. Wenn ich das heute, 40 Jahre später, reflektiere, merke ich: Es war wohltuend, damals keinerlei Druck von irgendeiner Seite gespürt zu haben, so nach dem Motto: „Jetzt musst du aber schon evangelisch werden.“ Es waren auch diese Weite und Offenheit, die mich bewusst oder unbewusst in meinem Weg bestärkten. Ich wusste – besser: Ich spürte, ich hatte Heimat gefunden in der evangelischen Kirche und in der Pfarrgemeinde in Innsbruck. Ich ging also nach Wien und wurde Student der evangelischen Theologie. Für mich noch heute faszinierend: Gerade in dieser Zeit habe ich die katholische Theologie und Kirche richtig kennen- und besser verstehen gelernt – egal, ob im Fach Kirchengeschichte, in dem mich Personen wie Franz von Assisi genauso faszinierten wie ein Dietrich Bonhoeffer, oder in der Beschäftigung mit Personen und theologischen Fragen der ersten nachchristlichen Jahrhunderte bis hin zum Mönchtum, das von jeher eine große Faszination auf mich ausübte. Vieles Katholische begann ich jetzt auf einmal zu verstehen, bewusst zu achten und zu schätzen, aber auch kritisch zu betrachten (wie z. B. die hierarchischen Strukturen in der römischen Kirche, die mich bis heute befremden, und ich bin stolz auf die manchmal mühsamen demokratischen Strukturen unserer Evangelischen Kirche A.B. in Österreich). Und mir wurde immer bewusster, dass es ein Evangelisch-Sein ohne intensive Beschäftigung mit dem Katholischen gar nicht geben kann. Diese kritisch-wertschätzende Auseinandersetzung konnte ich in meinem Studium führen, und sie ist mir geblieben – bis heute.

      Und dennoch war es das typisch Evangelische, das mich in den Bann gezogen hat: das intensive Studium des Alten und Neuen Testaments. Das kritische Lesen biblischer Texte hat mich fasziniert und bis heute ist (fast) jeder biblische Text für mich immer wieder neu beglückend und fordernd zugleich. Mich dem biblischen Text auszusetzen, ihn zu verinnerlichen, ihn mehr und mehr zu begreifen und einen Weg zu suchen, ihn für andere Menschen hör- und verstehbar zu machen, gehört zu den schönsten Herausforderungen für mich als Mensch und Pfarrer.

      Vielleicht gehört es auch gerade zu meiner Geschichte, dass ich gleich zu Beginn meines Studiums meine erste Frau kennenlernte, die selbst Theologin und Tochter eines evangelischen Pfarrers ist. So habe ich evangelisches Leben und evangelische Kirche in sehr positiven und vielfältigen Formen kennengelernt, die mich in meinem Evangelisch-Werden sehr geprägt haben.

      Seit mehr als dreißig Jahren bin ich als evangelischer Pfarrer tätig. Eine schöne, lange und erfüllte Zeit, in der ich den Segen Gottes in vielfältiger Weise erleben durfte und – so hoffe ich jedenfalls – auch zum Segen für einzelne Menschen in den verschiedensten Lebenssituationen wurde. In diese Zeit fallen auch unzählige Begegnungen mit katholischen Priestern, unzählige ökumenische Feiern in Schulen, in der Öffentlichkeit, bei Trauungen und Begräbnissen. „Ökumene XL“ habe ich in den letzten 30 Jahren erlebt. So erinnere ich mich zum Beispiel an Schulweihnachtsfeiern, bei denen wir die Schüler mit unseren Sketcheinlagen zum Lachen und zum Nachdenken gebracht haben, oder an gemeinsame Trauungen, wo die Hochzeitsgäste über das selbstverständliche gute Miteinander so erstaunt waren, dass sie manchmal fragten: „War das jetzt evangelisch oder katholisch?“

      Fast immer waren diese gemeinsamen Gelegenheiten ein Miteinander. Wir versuchten, durch unseren gemeinsamen Einsatz Wege zu finden, damit Menschen etwas von der Nähe Gottes spüren konnten – egal, ob auf dem Friedhof oder bei der „Segnung“ einer Bank. Wir wollten zum Nachdenken anregen, auch herausfordern, aber über allem: den Menschen Gottes Segen zusprechen. Nie wurde mir das Gefühl vermittelt, ich als Konvertit sei weniger wert, man nehme mich nicht ganz für voll oder sehe mich gar als abtrünnig – nie hat mich dieses Gefühl beschlichen. Viele Freundschaften mit katholischen Geistlichen haben sich entwickelt und halten bis heute, und wir sind nicht nur freundschaftlich miteinander verbunden, sondern führen manch theologisches Streitgespräch und lernen immer wieder voneinander im Hören und Argumentieren vom Anderssein des anderen. Ich denke an ökumenische Fahrten nach Rom, Assisi oder zu den Waldensern, bei denen viel Raum war, den jeweils anderen in seinem eigenen konfessionellen Denken und religiösen Empfinden zu erleben, manchmal schmerzlich, manchmal aber auch befreiend offen. Immer wieder fanden wir zusammen, beteten und feierten miteinander und kamen einander näher, auch wenn wir nicht immer einer Meinung waren.

      Und – dessen bin ich mir ganz sicher: Ich habe mein evangelisches Selbstverständnis gefunden. Nach wie vor ist die Bibel für mich das Zentrum, dem ich mich immer wieder neu zuwende – und das nicht nur, wenn es um das Vorbereiten einer Predigt geht. Auch unser evangelischer Gottesdienst. Er ist mir lieb geworden und diese Liebe wächst mit meinem Lebensalter. Es sind nicht nur die vertraute Form, die bekannten Lieder, es ist auch die zentrale Stellung der biblischen Botschaft, die ich höre und hörbar machen kann. Bereichert durch immer mehr „sinnliche“ Momente ist der Gottesdienst für mich Ort der Gottesbegegnung in einem besonderen Raum zu einer besonderen Zeit. So sehr ich mich freue, ökumenische Gottesdienste zu feiern, so sehr genieße ich es, mich hineinfallen zu lassen in meinen vertrauten Gottesdienst. Er ist mir Heimat geworden in seiner Geradlinigkeit. In unseren einfacheren und manchmal kargeren Gottesdiensten spüre ich das sola gratia, diese bedingungslose Liebe Gottes zu uns Menschen, die mir im katholischen Gottesdienst oftmals durch die priesterlich-liturgische Überhöhung schwerer erkennbar scheint. In den letzten Jahrzehnten habe ich erlebt, dass die Feier des Abendmahls in unseren evangelischen Gottesdiensten immer mehr ins Zentrum gerückt ist, dass immer öfter Abendmahl gefeiert wurde und wird. Ich spüre, dass meine katholische Vergangenheit doch noch sehr stark vorhanden ist und sich nach regelmäßigem Abendmahl sehnt, und bin froh, dass Wort und Sakrament im evangelischen Gottesdienst auch in der Praxis gleichrangig nebeneinander Raum finden – eine gute Entwicklung, die mir ein großes Anliegen war und ist.

      Dennoch fahre ich seit Jahren immer wieder in ein benediktinisches Kloster ins Salzkammergut, um innezuhalten, einen Wüstentag einzulegen, mich ins Stundengebet der Mönche zu vertiefen, mich mit meinem geistlichen Begleiter zu treffen. Ich tauche gerne ein in diese Jahrhunderte alte Tradition, die nicht nur unsere Kultur geprägt, sondern auch immer wieder Menschen verändert hat. Das treue Gebet Tausender Menschen tagtäglich rund um den Globus hat etwas geheimnisvoll Schönes, Wertvolles, macht Hoffnung und Mut, dass diese Welt anders sein und werden kann – durch das Beten und Tun vieler! Diesen alten guten Geist zu spüren, diese spirituelle


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