Im Bann der bitteren Blätter. Manfred Eisner
Drogenhandels den finsteren Mächten, die dahinterstehen, die Luft aus den Segeln genommen. Weit gefehlt, denn man unterschätzt die enorme kriminelle Energie und die unendliche Geldgier jener, die mit ihrem makabren Tun und immer raffinierteren Vertriebsmethoden für den Verfall der geistigen und leiblichen Gesundheit von Millionen Menschen auf dieser Welt die Verantwortung tragen.
Sämtliche in diesem Roman vorkommende Namen der – „guten“ oder auch „bösen“ – Akteure sind frei erfunden. Etwaige Übereinstimmungen mit real existierenden Personen oder deren Position und Beruf sind nicht beabsichtigt und daher rein zufällig.
Manfred Eisner, im Sommer 2015
1. Böses Schicksal
„Ralph!“
Der angsterfüllte Ruf der Frau Ende dreißig hallt von den Wänden des menschenleeren Großraumbüros wider, was diesem Nachdruck verleiht.
Ungeduldig und von einer schrecklichen Vorahnung gepeinigt, rüttelt Melanie immer heftiger an der Klinke der verschlossenen Tür zur Herrentoilette, hinter der sie ihren Begleiter weiß, während sie wiederholt seinen Namen ruft. „Mensch, Ralph, Junge, mach doch keinen Unsinn und komm endlich da raus! Es ist höchste Zeit, nach Hause zu gehen!“
Verzweifelt trommelt Melanie mit beiden Fäusten an die Tür, während Tränen der Hilflosigkeit aus ihren blauen Augen quellen, an ihren Wangen herunterlaufen und auf dem Make-up bizarre Flussläufe hinterlassen. Das zunehmend wütende Gezerre an der Tür, die ihren Bemühungen scheinbar ungerührt zu trotzen scheint, hat ihr rotblondes, gewelltes Haar arg durcheinandergebracht.
„Ralph, bitte, bitte, um alles, was dir lieb ist, bitte, bitte, tu mir das nicht an und komm raus!“
Melanies recht hübsches und apartes Gesicht ist von der Anstrengung und vor allem von der Angst gezeichnet. Ihr Herz pocht wild in ihrer Brust und ihr Busen hebt und senkt sich rasch, während sie aufgeregt mit ihrem Atem ringt.
Es ist ein schöner und lauer Samstagnachmittag. Auch in diesem Jahr hat sich wieder eine frühlingsähnliche Luft an dem vom Kalender vorgezeichneten Rhythmus vorbeigewagt und beschert gerade an diesem Wochenende den aufgrund der langen, ungemütlichen Wintermonate besonders sonnenhungrig gewordenen Kielern ein herrliches Spazierwetter. Eigentlich würde Melanie Westphal an einem so schönen Tag viel lieber in dem Golf Cabrio nach Laboe fahren, um dort mit ihrem Joker, einem quirligen Jack Russel, spazieren zu gehen. Da ihre Eltern aber für zwei Wochen auf den Bahamas Urlaub machen, hat sie ihnen versprochen, an beiden Wochenenden für ein paar Stunden in deren Steuerberaterbüro zu gehen, um dort nach dem Rechten zu sehen und die eilige Korrespondenz zu erledigen.
Ihr um viele Jahre jüngerer Halbbruder aus der zweiten Ehe ihres Vaters, Ralph, hat sie an diesem Tage begleitet. Sie hat ihn darum gebeten, weil sie sich bei dem Gedanken, sich wieder einmal allein ein paar Stunden lang in diesen menschenleeren Büroräumen aufhalten zu müssen, nicht gerade wohlgefühlt hatte. Am vorangegangenen Wochenende war sie schon einmal hier gewesen und es war ihr unheimlich vorgekommen.
Außerdem ist es ihr wohler, wenn sie Ralph bei sich weiß, denn so kann sie besser auf ihn aufpassen, als wenn er allein zu Hause geblieben wäre. Es schien ihr sicherer, ihren labilen Bruder, der erst im Herbst vorigen Jahres von einer monatelangen und qualvollen Drogen-Entziehungskur wieder heimgekommen war, nicht allzu lange aus den Augen zu lassen. Allem Anschein nach ist Ralph von seiner Sucht endgültig geheilt – also clean, wie man heute zu sagen pflegt. Er hat kurz nach seinem Entzug sein für fast zwei Jahre unterbrochenes Architekturstudium, diesmal jedoch in Lübeck, also so nahe wie möglich an Kiel, wieder aufgenommen.
Ironie des Schicksals – hatten es doch die Eltern mit ihm besonders gut gemeint! Nachdem ans Licht gekommen war, dass Ralph schon während seiner Gymnasialzeit mit der Neigung, Haschisch zu rauchen, seine arge Mühe gehabt hatte, beschlossen sie ihn nach seinem doch noch mit Ach und Krach geschafften Abitur zum Architekturstudium in eine kleinere Stadt zu schicken, wo die Drogengefahr augenscheinlich geringer war. Und gerade dort, in Konstanz am Bodensee, war es dann passiert. Von dem sogenannten „weichen“ Gift war für Ralph, wie für viele andere, der Schritt zum harten Kokain nur ein sehr kleiner gewesen, als ihm die Versuchung dazu eine Gelegenheit bot.
Ralph war von frühem Kindesalter an schon immer ein in sich gekehrter, stiller Junge gewesen. Mit den Jahren hatten sich seine musischen Neigungen – allen voran die für Poesie und Musik – in besonders ausgeprägter Manier ausgebildet, eine Entwicklung übrigens, für die bei dem bodenständigen, praktisch und kaufmännisch veranlagten Vater trotz langwieriger und ausführlich geführter Diskussionen keinerlei Verständnis aufgekommen war.
Ralph beherrschte das Spielen der spanischen Gitarre besonders gut. Bei einem Sommerurlaub im spanischen Torremolinos hatte ihm seine Mutter aufgrund seines nicht enden wollendes Bettelns ein schönes und teures Instrument gekauft. Schon bald fand der damals Zwölfjährige in einer dunklen Bodega einen bereitwilligen Lehrer, der ihm mit Freuden die ersten Grundgriffe beibrachte. Lange Übungsstunden im Hause eines gleichgesinnten Freundes – wobei die beiden sich das meiste gegenseitig beibrachten – und später auch das gelegentliche Musizieren in einer Schülerband ließen Ralphs Musikalität und Fingerfertigkeit zu einer gewissen Spielkunst heranreifen.
All dies geschah hinter dem Rücken des strengen Vaters. Überhaupt, bei Mutter und Schwester hatten seine künstlerischen Bestrebungen weit mehr positiven Widerhall, aber deren Ehrfurcht vor der väterlichen Abneigung gegen alles Musische ließ in ihnen die aufkommende Bewunderung für Ralphs Musizieren gegenüber dem Familienoberhaupt verhehlen. Nach dem Stimmbruch wandelte sich zudem Ralphs piepsiger Kindersopran in eine weiche, harmonische Tenorstimme, mit der er bekannte Lieder und eigene Chansontexte sang. Unter Freunden und Kommilitonen war seine Begabung durchaus gefragt und nicht selten verhalf ihm seine Musik zu einer ansehnlichen Aufbesserung des sonst nicht allzu üppigen Taschengeldes.
Allerdings, und dies scheint wiederum den Kreis des Verderbens um den jungen Mann zu schließen, waren es augenscheinlich gerade jene musische Umgebung und einige jener Menschen, für die er oft spielte und denen er vorsang, die ihn entsprechend beeinflussten. Hier fühlte er sich besonders wohl, da er voll akzeptiert wurde, jedoch war bei diesen Menschen die Schwäche für den Drogenkonsum bereits unterlegt. So war es eine unausweichliche Folge, dass deren Verlangen nach Drogen auch ihn wie eine schleichende und ansteckende Seuche befiel. Und so kam es, wie es kommen musste: Ralph verfiel den süßen Träumen und vernachlässigte allmählich das Studium. Immer seltener besuchte er die Vorlesungen, was dazu führte, dass er die geforderten Leistungsnachweise nicht erbringen konnte.
Mit tiefer Besorgnis nahm der Vater die erschütternde Nachricht entgegen, die ihm die um ihre Mietzahlungen arg vernachlässigte Wirtin über Ralphs traurigen Zustand zukommen ließ. Es muss dem rechtschaffenen und schwer betroffenen Heinz Westphal zugutegehalten werden, dass er dieser bösen und für ihn besonders peinlichen Situation voll gewachsen war: Er setzte sich sofort in den Wagen und fuhr nach Konstanz, um seinem hilflosen Sohn beizustehen. Er begegnete Ralph ohne ein Wort des Vorwurfes oder der Enttäuschung und umarmte ihn, während beide von Weinkrämpfen geschüttelt wurden.
„Du bist erkrankt, mein Sohn, aber das kriegen wir schon wieder hin!“
Eiligst hatte Vater Heinz Westphal noch vor seiner Abreise bei seinem Hausarzt fachlichen Rat eingeholt. Dieser hatte ihm ein Schweizer Sanatorium in der Nähe von Bern genannt, das eine besonders hohe Erfolgsquote bei der Entwöhnung solcher Fälle – und allerdings auch dementsprechend hoch angesetzte Arzthonorare – aufzuweisen hatte. Nachdem Ralphs Koffer gepackt und seine zahlreichen offenen Rechnungen beglichen worden waren, fuhren Vater und Sohn in das besagte Heilinstitut im Berner Oberland, wo sie nach der Anmeldung von Klinikleiter Dr. Reto Buri bereits erwartet wurden. Nach einer durchaus gründlichen, drei Tage andauernden physischen und psychischen Untersuchung des Patienten eröffnete Dr. Buri dem besorgten Vater eine für diesen ziemlich argen Fall etwas ambivalente Prognose: Die beabsichtigte und ungefähr zwei bis drei Monate dauernde Drogenentzugsbehandlung zur Entgiftung, Stabilisierung und sozialen Wiederintegration würde in Form von medizinischen, psychologischen und psychosozialen Behandlungen sowohl in Einzel- als auch in Gruppentherapie erfolgen und mit