Im Bann der bitteren Blätter. Manfred Eisner

Im Bann der bitteren Blätter - Manfred Eisner


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wieder einen eigenständigen Verbleib für Juden zu gestalten – ihre sechs Semester an der Fachhochschule für Verwaltung und Dienstleistung in Altenhof bei Eckernförde sowie danach das Praktikum an der Polizeischule in Eutin absolvierte, trafen sie sich regelmäßig. Melanie machte zwischenzeitlich ihre Ausbildung als Finanzwirtin beim Finanzamt Kiel-Nord. Deswegen verbrachten die beiden Freundinnen die gemeinsamen Stunden meistens in Kiel, wo Nili auch gelegentlich im Hause der Westphals übernachtete und dabei die Bekanntschaft mit Melanies Halbbruder Ralph machte. Sie mochte den verträumten, netten jungen Mann und war auch ab und zu bei seinen gelegentlichen musikalischen Auftritten zugegen. Melanie hatte ihr später von der Entziehungskur berichtet und ebenso, äußerst erleichtert und froh, von Ralphs Wiederaufnahme des Studiums in Lübeck. Und jetzt diese furchtbare Nachricht!

      Nili geht in den Toilettenraum der kleinen Polizeidienststelle in Oldenmoor, um sich die Tränen abzuwischen und das Gesicht zu waschen. Das Bild, das ihr oberhalb des Waschbeckens aus dem Spiegel entgegenblickt, ist das noch recht jugendliche, faltenlose Gesicht einer hübschen Enddreißigerin mit kurz gestylten, brünetten Haaren, freundlich blickenden dunkelbraunen Augen und einem sehr schön geformtem Mund. Der eng sitzende Rollkragenpulli verrät einen wohlproportionierten Busen, die blaue Uniformhose vermag es nicht vollständig, ihre weiblichen Rundungen zu kaschieren. Trotz der offensichtlich seelischen Belastung wegen des soeben Erfahrenen eine aparte und sympathische junge Frau. Ein wenig erholt von dem Schreck kehrt sie wenig später an ihren Arbeitsplatz zurück.

      Ihrem wohlbeleibten Vorgesetzten, Hauptkommissar Boie Hansen, Leiter der Polizeidienststelle Oldenmoor, ist die Aufruhr, die das Telefonat bei seiner tüchtigen Mitarbeiterin verursacht hat, nicht entgangen. In seiner ihm eigenen, stets kurz gehaltenen Ausdrucksweise fragt er sie: „Nun vertell, mien Deern, wat hesst du op’m Haarten?“ Der umfangreiche Kahlkopf grient sie freundlich an. Auch der Kollege, Oberkommissar Hauke Steffens, hebt neugierig den Kopf.

      Nili berichtet kurz von dem, was sie soeben erfahren hat. Dabei muss sie sich zusammenreißen, damit nicht wieder Tränen fließen.

      „Ist wohl kein Einzelfall“, kommentiert Hauke Steffens. „Ich traf neulich durch Zufall auf Waldi Mohr, den Kieler Drogenfahnder. Er erzählte mir, es gäbe da neuerdings eine gemeine Bande, die es besonders auf jüngere Schüler und Studenten, die mit der Bahn zwischen Kiel und Lübeck pendeln, abgesehen hat.“

      Nili reagiert spontan: „Könnte passen. Der Tote wohnte in Kiel und fuhr täglich mit der Bahn nach Lübeck. Melanie, seine Schwester, hat mir soeben erzählt, dass er vom Bahnhof aus immer mit seinem Fahrrad zur Hochschule fuhr.“ Sie überlegt einen Augenblick. „Er verstarb aber im elterlichen Steuerbüro in Kiel. Demnach müsste sein Drahtesel noch am Lübecker Bahnhof sein, oder?“

      Boie Hansen greift zum Telefonhörer. „Dann wollen wir doch mal sehen, ob wir diesem Waldi einen nützlichen Tipp geben können. Ich rufe das Kieler Drogendezernat an.“

      „Ach, Chef, ich muss Sie um einen Gefallen bitten. Dürfte ich mir den Mittwoch freinehmen? Melanie bat mich, sie zu begleiten, um ihre Eltern vom Hamburger Flughafen abzuholen. Sie kommen an dem Tag aus dem Urlaub zurück und wissen noch gar nichts von dem Unglück.“

      Boie Hansen grient abermals: „Dann fier man een paar Överstundn af, geiht in Ordnung!“ Anschließend spricht er in den Hörer: „Hier Hauptkommissar Boie Hansen, Polizeidienststelle Oldenmoor. Kann ich bitte Ihren – wie heißt der Waldi wirklich? –, also Ihren Kommissar Walter Mohr sprechen? Habe einen wichtigen Hinweis für ihn.“

      Polizeimeister Willi Seifert betritt das Büro. Seine Ledermontur ist völlig durchnässt und an der linken Seite mit dem dunklen Schlamm der Marscherde verschmiert. „So’n Shiet aber ok!“ Wütend wirft er seinen Motorradhelm auf den Stuhl. „Beinahe hätte ich die Golfdiebe erwischt, da kommt mir doch so ein blödes Rehkitz in die Quere! Ich musste so stark bremsen, dass ich auf der nassen Fahrbahn mit meinem Krad inne Grippe geschliddert bin. Hatte noch Glück im Unglück, ist nichts Schlimmes passiert, aber die Kerle sind mir durch die Lappen gegangen. Ich habe die Kollegen in Wilster, Sankt Margarethen und Glückstadt per Funk alarmiert, aber ich glaube nicht, dass wir sie kriegen. Ganz schön dreiste Hunde! Brechen doch heute in aller Früh im Autohaus Scholz ein, holen sich den Schlüssel aus dem Laden und klauen einen nagelneuen schwarzen VW Golf GTI vom Hof!“

      „Ja, wir haben Ihren Funkruf gehört, Seifert. Na, wir werden die Kerle schon fassen – früher oder später. Jetzt gehen Sie man erst mal nach Hause und ziehen sich um, in so einer Aufmachung können Sie ja hier keinen Staat machen.“ Diese Worte sind Boie Hansens Art, Trost zu spenden. „Dann bringen Sie Ihr Motorrad sicherheitshalber zur Inspektion nach Heiligenstedten, dort soll man sicherstellen, dass alles okay ist. Am besten, Sie fahren mit dem Transporter gleich mit, Seifert, und bringen ihn dann wieder her.“

      Nili wirft ein: „Und auf der Rückfahrt fahrt ihr bitte beim Autohaus Scholz vorbei und holt euch die Bänder von der Überwachungskamera ab, ja? Wir sehen uns genau an, wer da alles in den letzten Tagen in den Geschäftsräumen war und den Laden ausbaldowert haben könnte. Sagen Sie mal, Seifert, Sie waren doch ziemlich nah dran am Golf. Wie haben Sie überhaupt bemerkt, dass es sich um den gestohlenen Wagen handelt?“

      „Ich kam gerade von der Streifenfahrt zurück, da bemerkte ich im Rückspiegel, wie der schwarze VW plötzlich aus der Ausfahrt vom Jammertalweg kam. Ich wendete und nahm die Verfolgung auf. Die Typen gaben Gas und versuchten, in Richtung Brokdorf davonzujagen. Muss ein verdammt geübter Fahrer sein, er nahm die engen Kurven mit mindestens 120 Sachen, obwohl sie ja nur für 70 Stundenkilometer zugelassen sind. Beim Überholen eines Pkws drängten sie sogar einen entgegenkommenden Lieferwagen von der Straße, einen Sprinter. Ich hielt kurz an. Der Fahrer war okay und machte mir deutliche Zeichen, ich solle weiterfahren. Ich gab wieder Vollgas und kam allmählich ziemlich nahe ran, sie hatten ein Lübecker Kennzeichen, KS 727, am Heck. Irgendwann kam eine Kurve, ich musste runter vom Gas, und dann schoss plötzlich das verdammte Rehkitz quer auf die Fahrbahn.“

      „Das Nummernschild ist ganz sicher gestohlen, aber wir checken es trotzdem.“ Nili greift nach dem Telefonhörer. „Und nun ab mit euch!“

       ***

      Nili wartet schon vor ihrer Haustür, als Melanie in dem Mercedes Kombi ihres Vaters in die Theodor-Heuss-Straße einbiegt und neben ihr anhält. Sobald sie eingestiegen ist, fahren sie los.

      „Vielen Dank, liebe Nili, dass du mich bei meiner so schweren Mission begleitest“, sagt Melanie und drückt ihrer Freundin fest die Hand.

      „Ist doch selbstverständlich, wozu sonst hat man denn Freunde? Nochmals mein allerherzlichstes Beileid.“ Nili blickt auf ihre ganz in Schwarz gekleidete ehemalige Schulkameradin, die nur wortlos nicken kann. Sie selbst hat einen grauen Pulli und eine schwarze Hose angezogen.

      „Wie geht es deiner Mutter?“, fragt Melanie etwas später.

      „Ach, eigentlich wieder ganz gut!“ Nach einer kurzen Pause setzt Nili fort: „Seit sie auf dem Eulenhof der Familie Carstens ihre freilaufenden Hühner betreut, ist sie wieder ganz in ihrem Element.“

      Danach schweigen sie. Während sie entlang der Bundesstraße in Richtung Autobahn und dann weiter nach Hamburg fahren, versinkt jede in ihren eigenen Gedanken.

      Nachdem Nilis Großeltern, Heiko und Clarissa Keller, Anfang der fünfziger Jahre aus dem langjährigen Exil in Bolivien nach Oldenmoor zurückgekehrt waren, hatte ihre Mutter, Elisabeth Keller, damals noch Teenager, ihre beiden letzten Jahre bis zum Abitur in Hamburg verbracht. Danach machte sie aber ihren bereits in Bolivien gefassten Entschluss wahr, nach Israel auszuwandern. Eigentlich meinte Lissy, wie sie von allen genannt wurde, sie sei ja gewissermaßen nur „eine vierteljüdische Deutsche“, jedoch hatten sie die schwerwiegenden Begleiterscheinungen der argen nationalsozialistischen Ära, die sie, ihren Bruder Oliver und ihre Eltern zur Auswanderung genötigt hatten, derart geprägt, dass sie sich innerlich uneingeschränkt ihrem Judentum verbunden fühlte. Dies allerdings in einer absolut konfessionslosen Manier, denn ebenso wie ihr Vater und auch ihr Bruder hielt sie absolut nichts von irgendeinem Glauben und dessen Religionsausübung.2

      In Israel eingetroffen, trat Lissy in den Kibutz Halonim


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