Im Bann der bitteren Blätter. Manfred Eisner
ihrer vormaligen La Pazer jüdischen Jugendbewegung. Schon während der Kindheit war sie betont naturverbunden gewesen. In den zumeist auf der Hacienda ihrer Nennonkel und -tante verbrachten Schulferien hatte sie sich immer schon besonders für die Aufzucht und Hege von Federvieh interessiert. Diese Vorliebe brachte sie auch bald dazu, hauptsächlich im großen Hühnerstall des Kibutz, dem Lul, beschäftigt zu werden. In der La Pazer Jüdischen Primärschule, die sie sechs Jahre lang besuchte, hatte sie im einschlägigen Religionsunterricht eine solide Grundlage der alttestamentarischen hebräischen Sprache mitbekommen, die es ihr jetzt ziemlich erleichterte, sich rasch der neujüdischen Sprache, dem Iwrith, zu bemächtigen. Es dauerte dann auch nicht lange, bis sie bei der Kibutzleitung den Antrag stellte, Geflügelzucht wissenschaftlich zu studieren, wie ihre „Tante“ Frauke ihr in deren Nachlassbrief ans Herz gelegt hatte. Der Kibutz war erst kurz vor der Staatsgründung Israels von den aus mehreren südamerikanischen Ländern eingewanderten jungen Chalutzim3 gegründet worden und deshalb auch noch nicht besonders wohlhabend. Wegen seiner risikoreichen Grenzlage wurde er zudem von der syrischen Seite aus häufiger von marodierenden Eindringlingen heimgesucht und man stand deswegen stets in angespannter Wachsamkeit bereit. Dennoch rechnete man sich gute Zugewinnmöglichkeiten durch eine Erweiterung der Eier- und Geflügelwirtschaft aus und beschloss, neben Lissy auch ihren Mitarbeiter Iakov an eine spezialisierte Ausbildungsstelle zu entsenden und die dadurch entstehenden Kosten zu tragen. Mit ihrem Freund Ruben Masal, den Lissy noch aus ihrer La Pazer Zeit so gut kannte, weil er in der Bäckerei ihres Vaters gelernt und danach dort als tüchtiger Geselle gearbeitet hatte, war sie erst vor einigen Wochen eine engere Beziehung eingegangen. Ruben war deshalb auch überhaupt nicht begeistert von ihrer ganzwöchentlichen Abwesenheit im Internat, die sich voraussichtlich über die nächsten zwei Jahre erstrecken würde. Sie konnten sich ab jetzt nur an den Wochenenden sehen. Mit großem Eifer widmeten sich alsdann die beiden Ausgewählten ihrem Studium an der Landwirtschaftlichen Ruppin-Akademie in Hefer nordöstlich von Netanya, zwischen Tel Aviv und Haifa gelegen. Lissy war natürlich durch ihr Abitur im Vorteil und konnte ihrem Kollegen in den Fächern Mathematik, Chemie, Physik, Biologie und Englisch erfolgreich unter die Arme greifen. Bei der besonderen Ernährungslehre und den im zweiten Studienjahr schwerpunktmäßig gelehrten Fächern Tierheilkunde und Anatomie sowie Futterlehre traf sie aber ebenso auf Neuland wie Iakov. Dieser revanchierte sich jedoch, indem er anfänglich manche bei Lissy noch vorhandene Sprachlücke überbrückte, denn das Studium stellte nicht alltägliche Forderungen an die Eleven.
Liliths – wie Lissys neuer hebräischer Name in Israel lautete – Liebesbeziehung zu Ruben blieb nicht lange ohne Folgen und so brachte sie ihren Sohn fast gleichzeitig mit der erfolgreichen Beendigung des Studiums zur Welt. Beide hatten anlässlich der Anwesenheit eines Rabbi im Kibutz noch vor der Geburt geheiratet und durften nun gemeinsam mit dem Neugeborenen von den bisherigen Junggesellen-Schlafgemächern in ihren bescheidenen Shikun – eine kleine Behausung für Ehepaare – umziehen.
Zur Erinnerung an Lissys so sehr verehrten Großvater Hans-Peter von Steinberg gaben sie dem Jungen den Namen Hanan-Peres, damit wenigstens die Anfangsbuchstaben übereinstimmten. Kurz nach der Geburt und dem Einzug in ihr neues Zuhause konnten sich beide Eltern wieder ihren Aufgaben – Ruben in der Bäckerei, Lilith mit ihren Hühnern – voll widmen. Ebenso wie alle anderen Neugeborenen im Kibutz umsorgten tagsüber geschulte Kleinkinderbetreuerinnen ihren Sprössling im Hort. Gemeinsam mit ihrem Fachkollegen Iakov und einigen weiteren Kameraden machte Lilith den Ausbau des Luls zu ihrer Lebensaufgabe. Die Stallungen wurden erweitert und den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen angepasst. Allerdings hatte man sich gleich zu Beginn für eine artgerechte Bodenhaltung der Tiere entschieden, anstatt sie in jene engen Legebatterien zu pferchen, die gerade damals überall als State of the Art in Mode gekommen waren. Lilith sah ihre Schützlinge immer noch eher als Geschöpfe und nicht nur als nackte Brathändelspießkost oder Eierlegemaschinen an. Dennoch war ihre Arbeit und die des Teams erfolgreich, und schon bald konnte das landwirtschaftliche Gemeinschaftsunternehmen einen guten Gewinn aus der Hühnerzucht und der Eierproduktion erwirtschaften.
Alles wäre so schön gewesen, wäre da nicht immer wieder zwischendurch die grausame Gegenwärtigkeit des Krieges aufgetaucht. Seit der Staatsgründung war Israel der Bedrohung durch die umliegenden feindlichen Nachbarn ausgesetzt, zu der sich nun auch der Terror der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO unter Jassir Arafat summierte. Die während des Befreiungskrieges teils geflüchteten, teils verjagten Araber hatten zwar in den umliegenden Ländern ungeliebte Zuflucht, aber keinerlei Integration oder gar eine neue Heimat gefunden. Sie wurden von deren Regierenden wohlweislich in elenden Flüchtlingscamps zusammengedrängt und lebten dort unter sehr prekären Bedingungen – eine probate Methode, um ihren Hass auf Israel zu wahren und weiter zu schüren. Neben den immer wieder vorkommenden militärischen Kriegsscharmützel, die meist von der israelischen Armee erfolgreich abgewehrt werden konnten, waren es die oft vorkommenden Kommandoaktionen von PLO-Attentätern, die alle Grenz-Kibutzim und -städte zur kontinuierlichen und erhöhten Wachsamkeit zwangen. Auch Halonim befand sich in einer dieser unmittelbaren Gefahrenzonen und blieb nicht von solchen hinterhältigen Attacken verschont, die von meist im Schutz der Dunkelheit heranrobbenden, mordlüsternen Tätern durchgeführt wurden.
Ständig waren deswegen Wachen an den strategisch relevanten Posten aufgestellt und inspizierten aufmerksam das umliegende Gelände. Dennoch geschah es eines Tages, dass es einem dieser Täter gelang, sich während der sengenden Mittagshitze unbemerkt bis in die Nähe des Kinderhorts heranzuschleichen und zwei Handgranaten durch ein Fenster auf die wehrlosen Kleinen zu werfen. Eine der Betreuerinnen schaffte es noch, sich zu opfern, indem sie versuchte, mit ihrem Körper die Granatenexplosion von den Kindern abzuschirmen, die andere Granate explodierte jedoch ungehindert im Raum und verursachte ein Massaker: Sieben Kinder, darunter auch der gerade einjährige Hanan-Peres Masal, waren auf der Stelle tot, vierzehn andere teils schwer verwundet. Leider eine halbe Minute zu spät entdeckte man den Attentäter vom Wachturm aus und tötete ihn mit gezielten Schüssen. Der Schock traf die ganze Gemeinschaft zutiefst. Mit einem Schlag hatte der Mörder fast zwei Drittel der Kibutz-Nachkommenschaft vernichtet oder schwer verletzt. Untröstlich die Eltern der Getöteten, schwer traumatisiert jene der Verletzten. Verständliche Rachegefühle wurden geweckt. Während eines nächtlichen bewaffneten Überfalls auf ein unweit gelegenes syrisches Dorf auf dem Golan, in dem sich auch ein PLO-Stützpunkt versteckte, gelang es, fünf weitere dieser Terroristen unschädlich zu machen. Aber auch dies konnte das junge verblutete Leben nicht wiederbringen. Lilith musste drei Monate in einem Nervensanatorium verbringen, um über ihre schwere Depression hinwegzukommen. Als begleitende Therapie begann sie wieder mit dem Flötenspielen, das ihr schon damals in Bolivien und danach auch in ihrer Hamburger Gymnasialzeit so viel Freude bereitet hatte. Das geliebte Instrument hatte sie zwar während ihrer Auswanderung nach Israel begleitet, doch sie war seitdem nicht dazu gekommen, ihr vormals so geschätztes Hobby weiter zu betreiben.
Erst allmählich schwand der tiefe Schmerz beider Eltern über den grausamen Verlust und es stellte sich mit dem Ablauf der Jahre wieder ein gewissermaßen normaler Alltag ein. Als dann 1972 Lilith schon fast 38 Jahre alt war, schenkte sie Ruben eine Tochter, die sie Nili nannten. Bald danach schlug bei den Masals abermals und unerbittlich das grausame Schicksal zu: Israel war nach den vergangenen, für sie erfolgreich beendeten Kriegen bedauerlicherweise gegenüber den Arabern zu hochmütig geworden und wog sich in einer fatalen, falschen Sicherheit. Während des Jom-Kippur-Krieges im Herbst 1973, der den Staat für einen Moment an den Rand des Untergangs brachte, fiel Ruben bei einem der schweren Artillerie-Angriffe der Syrer, die danach trachteten, ihre im Sechstagekrieg von 1967 eingebüßten Golanhöhen zurückzuerobern. Der simultan ausgeführte ägyptisch-syrische Überfall, der gerade am heiligsten jüdischen Feiertag begann, wurde nach tagelangen Kämpfen im Sinai und am Golan mit äußerst hohem und bitterem Blutzoll zurückgeschlagen und endete dann allerdings abermals mit der militärischen Niederlage der hinterlistigen Angreifer. Der Kibutz Halonim jedoch wurde schwer getroffen, Liliths langjähriges Aufbauwerk, ihre Hühnerstallungen im Lul, Opfer der feindlichen Granateneinschläge. Ihr Bruder Oliver holte kurz danach seine abermals traumatisierte und nun verwitwete Schwester samt der gerade einjährigen Nili zu sich nach Oldenmoor, wo sie von da an verblieben.
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Abrupt werden Nilis Reminiszenzen bei der Einfahrt des Mercedes in die Ankunft-Parkgarage