Im Bann der bitteren Blätter. Manfred Eisner
Bar in der Ankunftshalle ein.
„Wie soll ich es ihnen nur beibringen?“ Melanie bricht verzweifelt in Tränen aus.
Nili legt einen Arm um sie. „Mach dir keinen Kopf, Melanie, überlasse es einfach deiner momentanen Eingebung. So etwas lässt sich nicht planen, es ergibt sich von selbst.“ Jedenfalls eilt Nili rasch voran, als das Ehepaar Westphal an der Ausganstür erscheint, und kann gerade noch Antje Westphal unter die Arme greifen, als diese beim Anblick der schluchzenden Melanie in den Armen des Vaters instinktiv das geschehene Unglück erahnt und sie die Kräfte verlassen.
Nachdem das erheblich mitgenommene Ehepaar sich ein wenig vom ersten Schock erholen konnte, fahren sie zurück nach Kiel. Nili lenkt den Wagen, neben ihr sitzt der mit steinerner Miene vorausstierende Vater. Im Fond hält Melanie tröstend ihre weinende Stiefmutter in den Armen. Nili berichtet ihnen in knappen Worten, was sich bezüglich Ralph zugetragen hat, und auch ein wenig von dem, was die bisherigen Ermittlungen ergeben haben. Nachdem sie den Wagen in der Kieler Garage der Westphals abgestellt hat, verabschiedet sie sich. „Nein, du brauchst mich nicht zurückzufahren, Melanie, ich komme schon zurecht. Du solltest jetzt vielmehr bei deinen Eltern bleiben, das ist wichtiger!“
Der halbstündige Fußweg bis zur Bezirkskriminalinspektion in der Blumenstraße tut ihr gut, um ein wenig von der Anspannung der letzten Stunden herunterzukommen. In all den Jahren als Polizistin konnte sie immer noch nicht jenes tiefe Mitleid von sich abschütteln, das sie stets gegenüber den von schlimmen Schicksalsschlägen betroffenen Hinterbliebenen empfindet. Wie leichtfüßig raten ihr immer wieder Psychologen und seelische Betreuer bei solchen Geschehnissen, sie solle möglichst Distanz zu den Opfern wahren und sich mit deren Leid nicht allzu sehr identifizieren. „Leicht gesagt, aber überwinden Sie zunächst einmal selbst die eigenen Gefühle nach dem herben Verlust des ermordeten kleinen Bruders, den ich nie kennenlernen konnte, und des geliebten, von feindlichen Granaten getöteten Vaters!“ Gerade als Nili das massive Backsteinpolizeigebäude betreten will, kommen ihr die Kollegen, die Oberkommissare Steffi Hink und Sascha Breiholz, entgegen.
„Mensch, Nili, was machst du hier? Wolltest du uns besuchen?“
Sie kennen sich von früheren gelegentlichen Zusammentreffen und Fortbildungskursen. Einige Male haben sie auch schon wirksam bei der Bildung von ortsübergreifenden Soko-Einsätzen zusammengearbeitet. Nachdem Nili von der Ankunft des Ehepaars Westphal berichtet hat, fragt sie, ob sich inzwischen in dem Fall etwa Neues ergeben hat.
„Du kommst gerade richtig, wir sind auf dem Weg zum Pathologen im Institut für Rechtsmedizin der Universität Kiel. Professor Klamm rief soeben an, er hat den Bericht fertig. Möchtest du uns begleiten? Dann erfährst du alles aus erster Hand.“
Prof. Dr. Christoff Klamm, ein noch jugendlich wirkender Mittvierziger, begrüßt sie im grünen Kittel an der Tür zum Obduktionssaal. Vier vollständig zugedeckte Leichenkörper liegen auf den rostfrei-stählernen Seziertischen unter Leinentüchern, ein jeder mit einem Identifikationsetikett, das am großen Zeh von einem Band herunterhängt. Nili kann den kalten Schauer, der ihr den Rücken herunterfährt, nicht unterdrücken. Er befällt sie immer wieder beim Betreten solch makabrer Stätten.
„Ralph Westphal, männlich, Alter 25 Jahre, Statur 1 Meter, 80 Zentimeter, Gewicht 79 Kilogramm.“ Der Professor deckt das Tuch über dem Kopf der Leiche auf. Ralphs Gesichtszüge zeigen eine leichte Anspannung. Als ob er einen starken Schmerz empfände, denkt Nili. „Der Tod trat am vorigen Sonnabend gegen Mittag ein. Er wurde verursacht von einem akuten Herzinfarkt als unmittelbare Folge einer überstarken Dosis Kokain, die der Betroffene sich selbst kurz davor durch die Nase zugeführt hat. Da er sich dazu eigens in einer Toilette eingeschlossen hatte, ist Fremdeinwirkung auszuschließen. Das ist das Ergebnis der ebenfalls durchgeführten forensischen toxikologischen Untersuchung. Kokain ist bei Weitem tückischer, als viele glauben. Es ist sogar eine sehr gefährliche Droge, die nicht nur innerhalb kürzester Zeit zur Abhängigkeit führt, sondern lebensbedrohliche Schäden am Herzen verursachen kann. Der Verstorbene galt zwar als von seiner vormaligen Kokainsucht geheilt, hatte sich aber als deren Folge bereits eine Angina Pectoris, also eine Herzmuskelschwäche, zugezogen. Deswegen wurde ihm der Konsum dieses Mal zum Verhängnis. Aufgrund der plötzlichen Zufuhr des starken Gifts verkrampften sich die geschwächten Herzgefäße schlagartig und der akute Sauerstoffmangel verursachte schließlich den Herzstillstand. Es ist bedauerlich, dass nur sehr wenige Kokainschnupfer über die Gefährlichkeit ihres leichtsinnigen Tuns Bescheid wissen. Koksen gilt ja sogar bis in die hohen gesellschaftlichen Kreise als ungemein schick!“ Nach einer Pause setzt Prof. Dr. Klamm hinzu: „Übrigens, was bei der toxikologischen Untersuchung besonders auffiel, war die ungewöhnliche Reinheit des Stoffes. Entgegen des üblicherweise für den Konsum mit anderen Zutaten wie Puderzucker oder Stärke gestreckten Pulvers, das dann nur etwa 34 bis 36 Prozent der Droge enthält, handelt es sich bei den neben der Leiche gefundenen Spuren und geringfügigen Restmengen seltsamerweise um 95-prozentig reines Kokain. Dies bewirkte wohl auch das fast sofortige Auslösen des Herzinfarktes.“
„Könnte man aus diesem doch nicht alltäglichen Drogenbefund vielleicht den Verdacht auf eine arglistig beabsichtigte Herbeiführung oder zumindest Inkaufnahme der wahrscheinlichen Todesfolge ableiten?“
Auf Nilis Frage folgt eine Denkpause aller Beteiligten.
„Sie denken an Totschlag oder Körperverletzung mit Todesfolge? Ausschließen möchte ich dies nicht, es kann durchaus sein, dass jener, der diesem Verstorbenen eine derart hoch letal dosierte Droge vermittelt hat, in einer solchen Absicht gehandelt haben könnte.“ Prof. Dr. Klamm zuckt mit den Schultern. „Dürfte allerdings schwer zu beweisen sein, denke ich mal. Aber vielleicht hilft Ihnen dies ein wenig weiter: Uns ist noch etwas Wesentliches an der Kleidung des Toten aufgefallen: Er muss, wenn vielleicht nicht gerade am Tage seines Todes, dann zumindest am Vortage, Geschlechtsverkehr gehabt haben. Wir haben fremde DNA von seiner Kleidung isoliert, diese wird noch untersucht. Schriftlicher Bericht folgt auf dem Amtswege.“
Die drei Oberkommissare danken und verabschieden sich von dem Pathologen. Beim Herausgehen bemerkt Sascha Breiholz: „Und um nochmals auf deine Frage, liebe Nili, zurückzukommen: Wir müssten erst einmal den Übeltäter eindeutig ausmachen.“
„Ich befürchte auch, dass in diesem dubiosen Fall der Staatsanwalt die Akte mit dem Vermerk ‚Versehentliche Selbsttötung durch Drogenkonsum‘ schließen wird.“
Steffi Hink setzt fort: „Aber dies bedeutet keineswegs, dass wir nicht weiterhin mit allen verfügbaren Kräften nach der Pendlerdrogenbande fahnden, die wir auch hierfür verantwortlich halten. Kollege Waldi hat jedenfalls dank deines klugen Hinweises auf Ralph Westphals Fahrrad am Lübecker Bahnhof schon einen Kandidaten ins Visier genommen.“
Während sie zum Wagen gehen, bittet Steffi: „Nili, könntest du deine Freundin, Frau Westphal, fragen, ob ihr Bruder vielleicht eine weibliche Beziehung hatte? Ich meine, wegen der Einordnung der DNA, die Prof. Klamm soeben erwähnte.“
„Ich frage nach und lasse es euch wissen, okay?“ Nili fährt fort: „Ich danke euch. Übrigens, ich würde gern euren berühmten Waldi kennenlernen. Könnt ihr mir bitte seine Handynummer geben?“
***
Wenige Tage später sitzt Walter Mohr alias Waldi an einem Tisch im Restaurant des Lübecker Hauptbahnhofs vor dem halb vollen Glas Latte macchiato und zieht gelegentlich ganz in Gedanken versunken an seiner kalten Pfeife, während er, so scheint es, in die Lektüre der Lübecker Nachrichten vertieft ist. Dem uneingeweihten Beobachter erscheint der in einem edlen Harris Tweedanzug gekleidete stramme Vierziger mit seiner leicht ergrauten lockigen Haarmähne, der altmodischen vernickelten Brille und dem gepflegten Kinnbärtchen wohl eher wie ein Gelehrter als ein Zivilfahnder des Drogendezernats. Unauffällig, jedoch aufmerksam beobachtet er das ungleiche Paar, das in der Ecke des Lokals sitzt und sich angeregt unterhält. Der Mann, offensichtlich ein aus Afrika stammender schwarzer Migrant, redet eindringlich auf sein Gegenüber ein, eine recht hübsche und zierliche weibliche Person mit langem schwarzem Haar und orientalischen Zügen. Den Afrikaner hat er schon vor einigen Tagen am Hauptbahnhof ausgemacht, als dieser sich unbeobachtet glaubte und mit einer Klauenzange die Sicherungskette an Ralph Westphals Fahrrad durchtrennte,