Von diesem Sommer bis zum nächsten. Susanne Margarete Rehe

Von diesem Sommer bis zum nächsten - Susanne Margarete Rehe


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      Mit einem langen Satz und einem triumphierenden „Ha, ich hab dich!“ bekam Hanna ihre Großmutter schließlich am Arm zu packen und umtanzte sie mit gespieltem Indianergeheul bis Gerdi, vor Lachen und Anstrengung gänzlich außer Puste, nach „Gnade!“ rief.

      In ausgelassener Stimmung traten die beiden Frauen wieder auf den Feldweg hinaus und setzten ihre Wanderung durchs Ried fort.

      Die Sonne des späten Sommertages wärmte ihnen den Rücken und Hannas Haar wurde vom auffrischenden Wind in alle Richtungen geweht. Gerdi schlug sich ein leichtes Wolltuch aus orangefarbenen, gelben und roten Farbtönen um die Schultern, um ihren erhitzten Körper zu schützen. Dabei ruhte nun Hannas Blick auf ihr.

      „Oma, es steht dir gut, das Tuch. Sehr gut schaust du aus damit!“

      „Vielen Dank, dein Kompliment weiß ich zu schätzen! Und ich kann es auch gleich an dich zurückgeben. Allerdings mit dem kleinen Unterschied, dass du für dein Aussehen noch nicht einmal ein schönes Tuch brauchst. Du wärst sozusagen auch in Sack und Asche noch überaus hübsch.“

      Hanna strahlte ihre Großmutter an.

      „Na also, so gefällst du mir schon besser!“, lächelte Gerdi sie an, „ich bin froh, dass du dein Lachen doch nicht ganz verloren hast. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht um dich.“

      „Ja, ich weiß. Das tut mir auch leid“, sagte Hanna etwas verlegen.

      Sie warf einen kurzen Seitenblick auf ihre Großmutter, bevor sie weiter sprach.

      „Und – eigentlich weiß ich auch gar nicht wirklich, was in mir drin passiert ist … nur, dass ich in meinem ganzen Leben noch nie einen solchen Schmerz erlebt habe. Ich wusste einfach nicht, wie weh es tun kann, wenn eine tiefe Beziehung zerbricht. So etwas hatte ich noch nie zuvor erfahren.

      Weißt du, es gab natürlich auch früher Freundschaften, die nicht gehalten haben. Das war aber mehr ein Ausprobieren gewesen, als ein wirkliches aufeinander Einlassen.

      Das, was jetzt passiert ist, war etwas anderes. Die Trennung hat eine Wunde in mir hinterlassen, die noch lange wehtun wird. Ich glaube, um den Schmerz überwinden zu können, brauche ich noch Zeit … viel Zeit.“

      „Ja, Hanna, du brauchst Zeit. Zeit braucht es immer, um wieder heil zu werden.

      Aber ob es dafür viel oder wenig Zeit braucht, ist relativ. Es hat vielmehr damit zu tun, was in der Zeit, die vergeht, geschieht und ob du verstehen und auch annehmen kannst, was das Leben in jedem Moment dieser Zeit dir zeigt.

      Auch die Tage, die wir beide hier im Ried noch miteinander verbringen werden, sind ein Teil dieser Zeit. Lass dich ganz einfach überraschen!“

      Hanna sah nachdenklich aus.

      Dann blieb sie stehen, nahm Gerdis Hände und hielt beide fest.

      „Weißt du“, sagte sie leise, „ich bin sehr froh darüber, dass du mich diesen Sommer wieder einmal mit hierher genommen hast. Danke! Ich fühle jetzt schon, dass es gut ist.“

      Sie nahm ihre Großmutter zärtlich in den Arm und drückte ihr ein bisschen verlegen einen dicken Kinderkuss auf die Wange.

      Gerdi sagte nichts, sie sah ihre Enkeltochter nur an mit einem Blick, wie er für gewöhnlich von Erwachsenen auf Kindern ruht, und nickte kaum wahrnehmbar. Es schien, als würde sie einem inneren Gedanken Zustimmung verleihen. Dann strich sie Hanna ordnend die wilden Strähnen aus dem Gesicht.

      Die beiden Frauen setzten ihren Weg fort, begleitet vom hellen Gezwitscher der Feldlerchen. Der Gesang der kleinen Vögel glich ihrem Fluge, der sich unvermittelt weit in die Lüfte hinaufschwang und dann im plötzlichen Fall in einem taumelnden Auf und Ab über die Felder zog.

      Hanna wandte sich erneut an Gerdi:

      „Sag mal, warum fährst du eigentlich jedes Jahr hierher? Ich meine, es ist schön hier, sehr schön, das ist keine Frage, aber es gibt doch noch andere schöne Landschaften. Die Berge zum Beispiel! Wir könnten doch mal gemeinsam in die Berge fahren oder ans Meer … das wäre auch schön!“

      Gerdi lachte und zwinkerte Hanna zu.

      „Ja, du hast schon Recht. Natürlich gibt es andere und sicherlich genauso schöne Gegenden, nur – mit diesen Landschaften verbindet mich nichts.

      Wenn ich aber hierher komme, ins Ried, erfüllt mich die Landschaft, wie keine andere es vermag. Es ist, als tauchte ich ein in einen Teil meines Lebens, der mir einmal sehr viel bedeutet hat.“

      „Was meinst du damit? Was hat dir hier viel bedeutet?“

      „Ach, Hanna!“, die Gedanken schienen Gerdi davon zu tragen. Sie lächelte ein wenig in sich hinein und schloss für einen Moment die Augen.

      „Das ist eine lange Geschichte … und sie hat begonnen vor langer Zeit – ich glaube, es war in dem Jahr, als du zur Welt kamst.“

      Gerdi machte eine Pause und überlegte, wie sie weitersprechen sollte.

      „Weißt du, so wie jetzt bei dir, lag auch bei mir damals der Schmerz einer zerbrochenen Liebe hinter mir. Damals hatte ich geglaubt, hier unten, in dieser Gegend ein neues Glück und einen neuen Anfang finden zu können. Und tatsächlich begann hier im Ried auch ein neues Kapitel meines Lebens, allerdings in einer ganz anderen Weise, als ich es mir gewünscht hatte und mir jemals hätte vorstellen können.“

      „Jetzt hast du mich aber neugierig gemacht. Erzähl weiter! Erzähl mir von dir!

      So, wie du mir früher oft erzählt hast, als ich noch klein war. Weißt du noch?

      Bloß damals hab ich dir öfter mal nicht so gern zugehört. Daran kann ich mich zumindest noch erinnern. Ich weiß nicht mehr genau, weshalb das so war, aber ich glaube, du bist mir manchmal zu ernsthaft und irgendwie streng erschienen.

      Aber jetzt ist es – naja, eben anders geworden. Jetzt will ich etwas wissen von dir!

      Und ich bin mir auch sicher, dass du Vieles weißt, was vielleicht gerade jetzt wichtig sein könnte für mich.“

      „Ja, ja – ich weiß, wovon du sprichst“, entgegnete Gerdi, „du hattest schon als kleines Kind immer deinen eigenen Kopf und der kollidierte eben manchmal mit meinem Eigensinn. Das hab ich natürlich ebenfalls gemerkt, Hanna, und manchmal hat es mir schon auch den einen oder anderen Stich versetzt – das hast du sehr wohl vermocht.

      Aber ich war mir immer sicher, dass dir meine Art nicht schaden wird und dass du daran ruhig auch wachsen darfst.“

      Gerdi schaute Hanna ein wenig verschmitzt an.

      „Und außerdem bist du heute ja auch kein Kind mehr. Eine junge Frau bist du geworden. Wie schnell die Jahre vergangen sind!

      Du bist jetzt gerade alt genug geworden, um die Türe zu dem langen Frauenleben, das noch vor dir liegt, öffnen zu können. Und ich – ich stehe dir heute mit meinem Alter genau gegenüber, gewissermaßen auf der anderen Seite.“

      Sie schwieg, unsicher, ob Hanna verstehen könne, was sie ihr sagen wollte.

      Und als Gerdi wieder zu sprechen begann, war Hanna sich nicht sicher, ob die Worte ihr galten oder ob ihre Großmutter zu sich selbst sprach.

      „Zwischen uns beiden liegt fast ein halbes Jahrhundert an Lebensjahren als Frau mit vielen Höhenflügen und Abstürzen, mit Sehnsüchten, Liebe, mit Wissen und Hoffnungen, mit Lust und mit Schmerzen und allem, was nun mal zu einem erfüllten Leben dazu gehört.

      Und ich, hier auf meiner Seite, öffne gerade ebenfalls die Türe zu einem Neuland.

      Aber hinter meiner Türe wartet etwas ganz Anderes auf mich.

      Hinter meiner Türe wartet die Erfahrung des Alters, das Vergessen und das Verschwimmen von Gestern und Heute.

      Ich weiß, dass mit dem Verrinnen der Zeit auch meine Erinnerung an die vergangenen Tage verblassen wird. Und vielleicht wird eines Tages das Vergessen all diese gelebten Jahre in eine sanfte Decke hüllen. Alte Wunden


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