Von diesem Sommer bis zum nächsten. Susanne Margarete Rehe

Von diesem Sommer bis zum nächsten - Susanne Margarete Rehe


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Abende am Feuer mit dem duftenden warmen Stockbrot, von dem die Butter tropfte.

       Erinnere dich, dass die Welt und die Form des Lebens, das dich umgibt, rund ist und dass im vermeintlichen Ende der Neubeginn bereits enthalten ist. Du brauchst gar nichts dazu zu tun. Es ist alles schon da.

       Du musst nur wieder lernen, wach zu sein und deine Seele offen zu halten für das, was dir tagtäglich begegnet. Lerne, deinen Blick wieder auf die kleinen Wunder des Lebens zu richten.

       Es ist nicht unmöglich, du konntest es mal. „Spielend“ einfach ist dir diese Welt der Wunder zugefallen. Geh ein Stück den Weg in dir zurück und hol sie dir wieder!

       Vielleicht kannst du dann wahrnehmen, was auf dem Bild noch zu sehen ist.

       Pass auf, ich sage dir, was ich darin sehe:

       Unten, im rechten Bildrand zwischen der Hauswand und dem Stiefel des jungen Mannes, der ganz außen steht, ist der Gehsteigbelag aufgebrochen. Daraus wächst ein Busch hervor. Den hat keiner dahin gepflanzt. Der ist dort einfach gewachsen. Unter den miesesten Bedingungen hat er sich seinen Lebensraum erobert und wahrscheinlich war genau dieser Lebensraum seine Chance, überhaupt wachsen zu können.

       Stell dir vor, der Wind hätte den Samen, aus dem er einmal entstanden war, einen Stadtteil weiter in den glatt rasierten und zurechtgestutzten Vorgarten von Familie Mayer geweht. Was glaubst du wohl, wäre dort mit ihm geschehen?

       Okay, der Busch hatte keine wirklich guten Bedingungen, um sich zu entwickeln, vielleicht hat er dafür auch sehr lange gebraucht. Und klar, es gibt andere, die hatten es einfacher. Aber wichtig ist doch, dass er lebt, dass ihm Blätter und Früchte wachsen, wie all den anderen seiner Art.

       So, wie er ist, und da, wo er wuchs, war er seine eigene Chance. Und – er hat sie genutzt!

      „Leon“, begann sie leise, „ich bin unendlich dankbar, dass es dich und Luisa gibt. Mein Leben hat gehalten, so grade noch an einem einzigen dünnen Faden. Es hielt, weil es euch beide gibt. Was geschehen ist, tut mir sehr leid. Ich war verzweifelt darüber, ich habe oft geweint und mir Vorwürfe gemacht. Ich habe nicht nur um mich, sondern auch um euch geweint.

      Leon, ich glaube, was in dir zerbrochen ist, ist das unbedingte Vertrauen ins Leben, das zur Kindheit gehört, wie die Sonne zum Tag. Und leider ist es viel zu früh passiert. Es wird Zeit, das Zerbrochene wieder zusammen zu fügen.“

      Gerdi stand auf, machte die DVD, die sie zuvor abgewürgt hatte, wieder an und sagte:

      „Komm, setz dich zu mir aufs Sofa. Lass uns das Stück von vorhin nochmal zusammen anschauen.

      Ich hab mir ein paar Gedanken dazu gemacht. Pass auf, ich sage dir, was ich darin sehe: Unten, im rechten Bildrand, zwischen der Hauswand und dem Stiefel des jungen Mannes, der ganz außen steht, ist der Gehsteigbelag aufgebrochen …

      Dieses Gespräch lag jetzt über ein Jahr zurück.

      Der Boden, auf dem Leon und Gerdi sich allmählich aufeinander zu bewegten, war dünn, aber er hielt und hat sie beide getragen.

      Leon hörte noch immer die gleiche Musik, sah dieselben Clips, chattete wild durchs Internet, votete für diesen und jenen Rapper … es war nach wie vor seine Welt.

      Aber jetzt war sie mehr in seinem Bewusstsein angelangt.

      Leon begann zunehmend, einen Blick auf die Welt zu richten, die ihn umgab. Er machte es auf seine Weise und mit seinen Mitteln. Er hatte einen weitaus deutlicheren Blick auf die Zustände der Gesellschaft, in der er lebte, als andere in seinem Alter und hatte sich vermutlich zum Ziel gesetzt, die Integration notfalls im Alleingang zu verwirklichen.

      Seine Freunde kamen mittlerweile aus aller Herren Länder, und Leon fühlte sich zugehörig und verstanden im Babylon der Neuzeit.

       Ich versteh dich, Leon.

       Du bist sechzehn und du rebellierst, weil du spürst, dass etwas in der Welt gewaltig schief läuft. Du reagierst auf das, was dich direkt umgibt, ohne Vorwarnung und ohne Schere im Kopf. Du hast das Recht der Jugend für dich gepachtet, in dem es ein klares Schwarz und Weiß gibt.

       Um die Erkenntnis der vielen Nuancen, die verbindend dazwischen liegen und auch ein Teil der Wahrheit sind, wirst du erst noch ringen müssen.

       Manchmal auch mit deiner Mutter.

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