Von diesem Sommer bis zum nächsten. Susanne Margarete Rehe

Von diesem Sommer bis zum nächsten - Susanne Margarete Rehe


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sie den Wald hinter sich gelassen hatte, öffnete sich im selben Moment vor ihren Augen eine ebene Flusslandschaft und breitete sich wie ein unregelmäßiges buntes Schachbrettmuster in fruchtbarer Weite vor ihr aus.

      Vereinzelte schlanke Pappeln und mächtige Weiden hoben sich eindrucksvoll vor dem Hintergrund üppiger Maisfelder und Getreideäcker ab. Die schräg einfallenden Strahlen der tief im Westen stehenden Sonne überzogen das weite Land mit einem goldfarbenen Weichzeichner und hoben gleichzeitig die Konturen einzelner Baumgruppen fast surrealistisch scharf in den Vordergrund.

      Gerdi sog den Blick auf die liebliche Landschaft wie einen befreienden Atemzug nach bedrängender Enge tief in sich hinein.

      Es schien ihr, als müssten sich irgendwann auf diesem Teil der Erde Magritte, van Gogh und Monet wohl allesamt getroffen haben, um sich Anregungen für ihre Bilder zu holen. Nur um anschließend wieder in unterschiedliche Richtungen auseinander zu streben, der Eine den Anderen in Sichtweise, Ausdruck und Farbenspiel überbietend, um die Schönheit dieser Gegend auf ihren Leinwänden festzuhalten.

      Fasziniert tauchte sie ein in das Bild einer toskanisch anmutenden Landschaft, die sich mit dem unwiderstehlich lockenden Charme und der runden Fülle einer italienischen Signora in ihr Herz schlich.

      In der Weite der fruchtbaren Ebene fühlte sie sich mit einem Mal frei und leicht, ganz leicht, wie ein vom lauen Wind geschaukeltes Blatt und war bereit, an dem Ort zu landen, an den der Wind sie entlassen würde.

      Als Gerdi schließlich auf Pauls Hof fuhr, glitt sie auf einem zarten Windhauch sanft zu Boden.

      Sie stieg aus ihrem Bus und ging auf das Haus zu.

      Es war ein gediegenes altes Bauernhaus, weiß gestrichen und mit vielen Fenstern, die sie durch die geöffneten grünen Läden anzublicken schienen.

      Sie nahm all ihren Mut zusammen, lief zur Türe und drückte auf die Klingel.

      Es öffnete ihr aber niemand.

       Keiner da? Na, so was aber auch!

       Schau ich mich halt mal ein wenig um. Irgendwo werde ich Paul schon finden.

       Er hatte mir ja geschrieben, dass er zwar „eigentlich“ keine Zeit hat, mich aber „eigentlich“ trotzdem ganz unbedingt sehen will.

       Na gut, schau’n wir mal!

       Wenn der Bauer gar zu stoffelig und ungehobelt ist, fahr ich einfach wieder heim.

       Wär schad drum, aber dann war es halt nur ein netter Ausflug, eine kurze Bekanntschaft, eine flüchtige Hoffnung.

       Es gibt nichts, was sein muss, aber alles, was sein kann!

      Sie drehte sich um und ging den Weg entlang, der vom Hof aus zu den Feldern führte, ein wenig unsicher, ob sie Paul wohl erkennen würde. Bisher kannte sie sein Aussehen nur von einem Foto, das er ihr in seinem ersten Brief geschickt hatte.

      Aus einiger Entfernung kam ihr jetzt ein Traktor entgegen und Gerdi wurde peinlich bewusst, dass sie ihre Brille nicht aufgesetzt hatte. Wenn sie Paul überhaupt erkennen konnte, dann sicher auch nur, wenn er schon direkt vor ihr stand.

      Sie war noch immer dabei, ihre Unsicherheit und wirren Gedanken zu sortieren, als ihr bereits zwei blaue Augen und ein breites gewinnendes Lachen entgegen strahlten.

      „Griaß di, guat dass’d do bisch! Gang scho vor an Hof, i komm glei’!“

      Sie drehte um.

      Gerdi lief und Paul fuhr nach einem kurzen Abstecher übers Feld, ebenfalls dem Hof entgegen.

      Als er dort angekommen vom Traktor stieg, groß und kräftig, kariertes Hemd, kurze Hose und noch kürzere kupferrote Haare auf dem Kopf, eine Pfeife lässig im Mundwinkel und barfuß, blickte er direkt in Gerdis lachende Augen.

      Und Gerdi sah auch ohne Brille, dass dieser Mann ihr gefiel.

      Paul streckte ihr zum Willkommen herzlich beide Hände entgegen und nahm sie mit sich in die Küche, um für sie beide Kaffee zu kochen.

      Der erste Blick, den Gerdi in die alte Küche auf Weilersried warf, sollte sich ihr unauslöschlich ins Gedächtnis brennen und schlüpfte noch im Moment der ersten Begegnung mitten hinein in ihr Herz.

      Die dämmrige Geborgenheit, die von den dunklen Holzwänden und alten Schränken ausging und sich mit dem gedämpften Licht vermischte, das beharrlich durch dichtes Blattwerk umgebender Bäume sickerte und verstohlen durch die Küchenfenster schlüpfte, umfing Gerdi mit einer heimeligen Behaglichkeit. Die Küche nahm sie auf und war ihr erstaunlich vertraut, so als hätte sie diesen Raum schon immer gekannt.

      Die von unzähligen Schritten ausgetretenen Stellen der dunkel gestrichenen Dielen, an denen das bloße Holz zum Vorschein kam, schienen ihr alte Ahnengeschichten zuzuflüstern.

      Vom Spülstein zum Herd, vom Herd zum Tisch, zur Tür und zurück zum Spülstein, zum Herd und wieder zur Tür … spannen sich die Erinnerungen.

      Einen Moment lang schloss Gerdi die Augen.

      Wie in einer plötzlich auftauchenden Vision sah sie vor ihrem inneren Auge alte Frauen in langen Gewändern und fleißige Hände, die zugriffen. Sie lauschte flinken Schritten und vernahm das leise Tappen nackter Kinderfüße auf den Holzbohlen. Sie roch den dampfenden Kartoffelgeruch und Fettgebackenes, heiße Milch und beißenden Tabakqualm alter Männer, der von der langen Sitzbank unter dem Fenster zu ihr herüber quoll.

      Die Küchengeschichten, die dieser Raum ihr erzählte, überschlugen sich und umwoben sie. Geschichten und Bilder vergangener Zeiten kullerten ihr zu Füßen und baten sie schmeichelnd, den leeren Platz in dieser Stube zu füllen. Sie forderten sie auf, das Feuer im großen Kochofen wieder anzuzünden, die Fenster weit zu öffnen, zu backen und zu kochen, damit ein neuer und doch uralter Geruch von Wohnlichkeit und Wärme wieder durch das Haus wehen könne.

      Dieser alten Küche, dem Herzstück des Hauses, war Gerdi ohne Vorwarnung schutzlos ausgeliefert.

      Und vor ihr stand Paul. Ein Mann, der ihr zunehmend gefiel mit seiner ruhigen Gelassenheit und einem vertrauensvollen Lächeln, und hielt sie mit seinen Augen fest. Passend zur Haarfarbe sprenkelten unzählige Sommersprossen sein Gesicht.

      Er reichte ihr eine dampfende Tasse Kaffee und fragte mit bübisch gespieltem Unschuldslächeln, ob er ihr vielleicht ein „Busserl“ auf die Backe geben dürfe.

      Das war schon harter Tobak, den Paul da ins Gefecht führte und Gerdi, die auf plumpe Anmache, auf „Busserln“ jeglicher Art von fremden Männern und vorschnelles Jagdverhalten grundsätzlich schroff oder brüskiert reagierte, erkannte sich selbst kaum wieder. Sie lachte Paul an, fiel ihm um den Hals und küsste ihn selbst.

      Jetzt schob Gerdi die Erinnerung an diese erste Begegnung mit Paul beiseite.

      Sie war fast angekommen in ihrer alten Heimat und in der kurzen Zeit, die ihr hier blieb, wollte sie ganz da sein.

      Als sie die Türe aufschloss, schlug ihr laute Hip-Hop-Musik entgegen. Oder war es Rap? Den Unterschied hatte sie nie wirklich verstanden, obwohl Leon es ihr schon öfter und ausführlich erklärt hatte. Aber das war ihr jetzt egal. Auf jeden Fall signalisierte die Begrüßungsmusik, dass Leon zuhause war. Und sie freute sich, wieder bei ihm zu sein.

      „Hi, mein Schatz, wie geht’s dir? Komm, lass dich drücken!“

      „Joooah, alles klar, passt schon. Und bei dir?“

      „Na ja, ganz gut …“

      Ein kurzer Blick in die Augen und beide wussten, dass es nicht stimmte – nicht bei Leon und nicht bei Gerdi.

      „Du, sei so lieb und mach mir einen Getreidekaffee, mit viel Milch, du weißt schon. Und bitte, mach die Musik leiser, so können wir uns unmöglich unterhalten.“

      „Aber


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