Von diesem Sommer bis zum nächsten. Susanne Margarete Rehe

Von diesem Sommer bis zum nächsten - Susanne Margarete Rehe


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über Leons Unordnung, in sein Zimmer polterte. Fast immer waren es kleine belanglose Alltagssituationen, die durch die Musik und ihre Auseinandersetzung darüber eine Bedeutung bekamen.

      Hip Hop, Rap, „Gangsta“-Musik – manchmal stellten sich Gerdis Nackenhaare auf, wenn stumpfer Hass und ein verachtender Sexismus sie in dieser widerlich verrohten Sprache ansprangen. Dann zog sie schon auch mal ohne Diskussion das Kabel aus der Steckdose.

      Aber neben all dem gab es auch noch etwas anderes, was bei diesen obercoolen Jungs mit dem finsteren Outfit mitschwang. Sie wusste, dass es falsch wäre, nicht hinzuhören, welche Aussage sich hinter ihrer Ghetto-Sprache verbarg. Diese Jungs waren schließlich Kinder unserer Zeit – Kinder einer Gesellschaft, deren Spiegelbild sie auf ihre Art und Weise zurückwarfen.

      Und nichts anderes tat Leon.

      Gerdi dachte zurück an die Zeit vor einem Jahr, als kaum ein Tag vergangen war, an dem nicht stundenlang die finstersten Rap-Songs aus den Lautsprechern dröhnten und bleischwere Videoclips über den Bildschirm flimmerten.

      Fast war es ein schizophrenes Bild, in dem sich Gerdi mit ihrem Sohn gefangen sah. Vor dem Fenster schönste Landschaft, in der zufrieden im Zeitlupentempo Kühe auf der Weide grasten. Idylle pur!

      Und drinnen im Zimmer tobte der Krieg im Dschungel der urbanen Vororte über die Mattscheibe. Aufgegebene Viertel, unkontrollierbare Zonen, heruntergekommene Blocks und Straßenzüge, trostlose Betonkästen. Paris, Detroit, Lyon, Berlin-Marzahn … wie auch immer sie heißen mochten und wo auch immer sie lagen, es spielte keine Rolle.

      Hier zählten nicht die Grenzen zwischen Staaten und Kulturen. Hier zählte nur eine Grenze – nämlich die zwischen Oben und Unten.

      Und eigentlich spielten auch die Ghettos keine Rolle.

      Sie waren nur der Ausdruck einer zu Stein gewordenen Menschenfeindlichkeit. Sie waren lediglich Hülle und perfekte Kulisse für einen wahnsinnigen Film, den das echte Leben spielte. Die Hauptrollen darin waren verteilt auf die Menschen, die hinter den verwahrlosten und abweisenden Mauern lebten.

      Auf Kinder, die in verdreckten, nach Urin stinkenden Hinterhöfen spielten, auf halbwüchsige Jungs, die im besten Fall ihre Energie mit dem Basketball im vergitterten Areal zwischen zwei Blöcken verspielten und auf minderjährige Mädels, die im Hauseingang darauf warteten, dass ihr Leben für einen kurzen Traum noch weiter in den Dreck getreten wurde.

      Die weniger spektakulären Rollen gingen an die Alten, die hinter ihren Fenstern hockten und auf eine Welt starrten, die sie ausgesondert hatte und an die, denen nur noch vollgestopfte Plastiktüten und Heizungsschächte blieben.

      Die Dramaturgie hatte System, war simpel und perfide und überall gleich:

      Verpatzte Integration, Ausgrenzung und Gewalt; Profitgier, Arbeitslosigkeit und sozialer Abstieg; Perspektivlosigkeit, Kriminalität und Drogen; Entfremdung und soziale Verrohung … in unterschiedlicher Konstellation ergab sich daraus der Stoff für ein Horrorszenario in Endlosfolgen, das reichen würde bis in die nächste Ewigkeit.

      Es war die Welt der ungeliebten und ausgespuckten Schmuddelkinder, die aus dem Bildschirm in Gerdis Seele kroch und mit ihr die Angst um Leon. Sein Kopf war voll davon.

      Er sah nicht aus dem Fenster. Er ging nicht hinaus. Er sah keine Kuh und sah kein Grün und wenn, dann interessierte es ihn nicht.

      Leon tauchte ab in eine Schattenwelt, die immer mehr Raum in ihm füllte.

      Gerdi schätzte sein Interesse an sozialen Themen, aber sie fühlte die Unausgewogenheit seiner Wahrnehmung und dass etwas in ihm in bedenkliche Schieflage geraten war und zu kippen drohte.

      „Warum, Leon?“

      Gerdi stöhnte entnervt auf und schaltete das DVD-Gerät aus.

      Es war nicht mehr zum Aushalten, sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.

      „Warum dröhnst du dich den ganzen Tag mit dieser Musik zu? Siehst du nicht, dass die Welt noch aus etwas anderem besteht, als nur aus Dreck und Gewalt? Das ist nicht deine Welt! So habe ich dich nicht erzogen!“

      „Woher willst du wissen, dass es nicht auch meine Welt ist?“

      „Du bist nicht zwischen Müll und Betonwänden aufgewachsen, du hast diese Gewalt nicht erfahren! Was zieht dich da so an?“

      „Verdammt, lass mich in Ruhe!“, schrie Leon sie an.

      „Du hast doch nur deine scheiß Bauernhofwelt im Kopf, als wäre da irgendwas besser gelaufen! Schau doch mal hin, was aus deinem Leben geworden ist! Was gibt es denn da außer Arbeit und Stress?“

       Okay! Der erste Treffer geht an dich, Leon.

       Du hast einen empfindlichen Punkt erwischt.

       Aber es geht mir nicht um einen Schlagabtausch, mein Kind! Ich will wissen, wonach du suchst. Du hast kaum noch Freunde, gehst nicht raus, wirst immer schweigsamer. Ich hab Angst um dich, hab Angst, dass du schlechte Wege gehst, hab Angst, dich zu verlieren, dich nicht mehr zu erreichen.

       Und jetzt, Gerdi, pass auf, was du sagst! Halt dich zurück, auch wenn du bereits ahnst, dass es vielleicht gleich ungemütlich werden könnte für dich.

       Worum geht es dir? Wahrheiten auszublenden oder deinen Sohn zurück zu gewinnen?

      Sie setzte sich neben Leon.

      „Was verbindet dich mit dieser Welt? Was hat sie mit deinem Leben zu tun?“

      Leon schwieg.

      „Leon, bitte, antworte mir!“

      Er starrte geradeaus, an Gerdi vorbei, trostlos, mit einem blassen Gesicht. Und was sie daran erschreckte, waren seine Augen. Sie fand keine Freude darin, keinen Glanz. Kein Funkeln, das mit Mühe die Kraft und Lebensfreude in Zaum hielt, die sich eigentlich in seinem Alter dahinter hätte verbergen müssen.

      Leon war groß, schlank, fünfzehn Jahre alt und auf seinem Gesicht zeigten sich, ungeachtet der in Abständen wiederkehrenden Kuschelattacken auf seine Mutter, zunehmend markantere Züge.

      Als sie eine Antwort auf ihre Frage schon fast abgeschrieben hatte, wandte Leon seiner Mutter ganz unvermittelt sein Gesicht zu und begann zu sprechen:

      „Willst du die Antwort wirklich hören?“, fragte er leise.

      „Ja, Leon, freilich. Ich will dich verstehen können.“

      „Weißt du, ich glaube es fing an, als wir letztes Jahr von Mattes’ Hof weggezogen sind. Vielleicht war’s auch schon davor … ich weiß es nicht mehr.

      Diese drückende Stimmung, bevor du und Mattes euch getrennt habt, war ätzend.

      Dir ging es nicht gut, du hast ständig geheult und fingst auch noch an, nichts mehr zu essen. Ich konnte nichts machen, wusste überhaupt nicht, was ich tun sollte.

      Aber das war alles nichts gegen die Zeit, die dann kam.

      Als wir tatsächlich weggezogen sind. Als wir in diesem kleinen Holzhaus neben dem Bauernhof gewohnt haben, zusammen mit dem polnischen Landarbeiter und ich schon wieder auf einem scheiß Hof festsaß, im allerletzten Kaff, am Ende der Welt. Genau da, wo ich nie hin wollte.“

      „Leon, ich hatte keine andere Möglichkeit gesehen. Ich hatte keine Arbeit mehr und wir brauchten ein Dach über dem Kopf.“

      Er sah sie etwas schief von der Seite her an.

      „Ja, vielleicht war es so. Vielleicht war’s aber auch anders. Vielleicht wolltest du ja auch nur dein Ding durchziehen und einen Traum nicht loslassen, der längst verloren war. Und mich hast du mitgeschleppt, wieder weg von dem Ort, an dem ich mich endlich mal zu Hause gefühlt hab.“

      In Gerdis Hals breitete sich zunehmend ein würgendes Gefühl aus. Das Bauchbarometer schickte Warnsignale nach oben.

       Achtung, Sie verlassen jetzt die Sicherheitszone! Treten Sie zurück vom ungesicherten Randbereich!


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