Von diesem Sommer bis zum nächsten. Susanne Margarete Rehe
anderen Weg, sie musste weitergehen. Schritt für Schritt und langsam, ganz langsam, um dabei den Boden nicht unter den Füßen zu verlieren. Es ging um Leon, das war sie ihm schuldig.
Ihre Finger verhakten sich ineinander, als suchten sie nach einem Halt. Nach Irgendetwas, an das sie sich klammern konnte, um nicht abzustürzen.
„Du hast Recht, Leon. Mit einem Teil hast du Recht. Ich wollte einen Fuß in der Landwirtschaft behalten und versuchen, wieder auf beiden Beinen zu stehen. Ja, daran hing mein Herzblut! Es war meine Freiheit und Überzeugung. Das wollte und durfte ich nicht verlieren! Der andere Teil der Wirklichkeit ist, dass ich nicht weiß, ob ich … ob ich überlebt hätte in einem Zwei-Zimmer-Wohn-Klo mit Glasbausteinchen im Treppenaufgang, ohne Perspektive, ohne Ziel, ohne Aufgabe, ohne Arbeit.
Ich weiß nicht, ob ich es jemals wieder geschafft hätte, meinen Blick nach vorn zu richten ohne die Motivation, an meinem Traum festzuhalten, um ihn wieder Wirklichkeit werden zu lassen. Das Loch, in das ich gefallen war, als wir von Mattes und dem Hof weggingen, war bodenlos. Und ich hatte noch nicht einmal den Grund erreicht, der Fall ging immer noch weiter. Ich wusste nicht, wo und wie er enden würde.“
Gerdis Stimme stockte. Sie hatte Angst, weiter zu sprechen. Mit jedem Wort, mit jedem Satz, den sie sich weiter wagte, drängten Bilder aus ihrer dunkelsten Zeit an die Oberfläche.
Gerdi sah Leon an.
Hinter der Staumauer in ihrem Innern schlugen die Tränen brodelnd gegen die Wand und drohten, den Damm zu durchbrechen.
Nein, bitte, ich will nicht!
Ich will nicht wieder weggespült werden von Tränen, die sich nicht mehr aufhalten lassen. Nicht wieder versinken in diesem unendlich tiefen Loch.
Ich will nicht! Ich will nicht!
Sie atmete tief durch, versuchte sich zu beruhigen, sich herunterzuzählen und mit dem Atem die Spannung, die sich schon gegen ihre Schädeldecke presste und sich in einer Explosion zu entladen drohte, aus ihrem Körper zu entlassen.
Als sie spürte, wie ganz allmählich der Druck nachließ, zwang sie sich, weiter zu sprechen:
„Wie oft hab ich damals im Auto gesessen, schreiend vor Angst, vor Wut und Scham, in einer wahnsinnigen Fahrt durch die engen Täler. Tausendmal gedacht: der nächste Baum gehört dir, Gerdi, den nimmst du mit! Brüllend über meine vermeintliche Blödheit und Unfähigkeit, dieses eine Leben, das ich hatte, ins Gute zu wenden. Ich fühlte mich, als wäre ich ein widerliches Monster. Ein Monster, dem es Recht geschah, hinausgeworfen zu werden.
Wenn ich in den Spiegel schaute, sah ich eine Frau, die es nicht wert war, geliebt zu werden. Mein Selbsthass war so groß, dass ich mich zerstören wollte. Deshalb hab ich nichts mehr gegessen. Diesen feigen letzten Notausgang wollte ich mir offen halten.
Ich weiß, dass ich dir all das gar nicht sagen dürfte und dass du das nicht wirklich verstehen kannst, Leon. Das ist auch nicht deine Aufgabe. Aber für mich gab es damals keinen anderen Weg, als dorthin zu gehen, wo ich mein Gemüse wieder anbauen konnte und wo sich mir die Bedingungen boten, den Verkauf wieder aufzunehmen, um davon zu leben. Ich habe damals keinen anderen Weg gesehen.“
Während Gerdi sprach, war sie ruhiger geworden. Der Damm hatte gehalten.
Aber aus Leon brach es jetzt heraus:
„Meinst du, ich bin total verblödet, dass ich nicht gemerkt hätte, was mit dir los war?
Aber hast du dich auch mal gefragt, wie’s mir damit ging? Wenigstens ein einziges Mal?
Du willst wissen, was ich mit diesen Ghetto-Kids zu tun habe? Warum ich mir diese Musik reinziehe und was ich da suche?
Diese Musik, die dich manchmal so ankotzt, ist mir sauwichtig!
Sie hat mir geholfen, weil ich da gesehen hab, dass es außer mir auch noch andere gab, denen es ebenso beschissen oder noch übler ging. Dass es andere gab, die auch so ein Leben hatten.
Weißt du, wie ich mich damals gefühlt habe?
Alle anderen in meiner Klasse und beim Fußball, die hatten ein normales Zuhause, eine schöne Wohnung. Die sind auch mal in Urlaub gefahren. Deren Eltern hatten eine normale Arbeit. Nicht so wie du, du hast ja eigentlich immer nur gearbeitet. Nie war Schluss, nie war Zeit für was anderes. Und trotz der vielen Arbeit hatten wir kein Geld, bis du dann eben auch noch nicht mal mehr eine Arbeit hattest! Zufälligerweise war das auch noch die Zeit, als mein Vater nicht wusste, ob er seine Arbeit behalten würde. Nee, klar, war echt super! Vielleicht auch noch beide Eltern arbeitslos und beiden ging’s beschissen!
Bei meinen Freunden waren die Mütter daheim oder wenigstens jemand Anderer aus der Familie. Meine Mutter war dann auch irgendwann mal zuhause, aber dummerweise wollte sie dann nicht mehr leben.
Und eine eigene Wohnung gab’s auch nicht mehr. Dafür hatte ich ein düsteres Zimmer im Kellergeschoss. Da hat man ganz besonders viel Lust, Freunde einzuladen!
Ich weiß nicht, aber damals, da ist einfach was zerbrochen in mir. Und – ich hab dort meinen Halt gesucht, wo’s anderen genauso ging.
Kapierst du das endlich?“
Plötzlich war eine tiefe Stille im Raum.
Eine Ruhe wie nach einem Sturm, wenn die aufgewühlten Elemente, die alles durcheinander gewirbelt hatten, sich beruhigten. Es gab jetzt nichts zu sagen. Leons Worte und die Botschaft, die sie enthielten, waren klar.
Gerdi suchte seinen Blick.
Vorsichtig nahm sie sein Gesicht in ihre Hände, strich ihm die Haare aus der Stirn, küsste ihn und hielt ihn, fest und lange, und ihre Gedanken tauchten ein in die Kreise, die Leon um sich gezogen hatte.
Ich weiß, mein Kind, ich hab dich nicht schützen können.
Es wäre aber meine Aufgabe gewesen, das zu tun. Meine Angst hat auch dich mitgerissen. Mein Chaos wurde zu deinem.
Es tut mir verdammt weh, dich hier so sitzen zu sehen, umfangen von einer Welt, die nur eine Seite des Lebens zeigt, die Dunkle, die versteckt wird, solange es geht. Aber glaub mir Leon, du schaust am Leben vorbei.
Welche Sprache sprechen deine Lieder? Was zeigen dir die Filme? – Worte und Bilder!
Was machst du daraus? – Dir deine Wirklichkeit zurechtschustern!
Aber was ist ein Wort – und was ein Bild, mein Kind?
Es ist immer nur ein kleiner Teil der Wahrheit und zugleich ein Teil der Lüge; ein winziger Stein im unendlichen Baukasten menschlicher Imagination, ein Spot, auf den sich zufällig einen Atemzug lang der Lichtkegel richtet, ein Pixel im Gefüge der Welt, manipulierbar, dienstbar einer jeden Haltung und Nutzung.
Ja, schau nur in deinen Bildschirm!
Ich frage dich nochmal: Was siehst du wirklich? Eine heruntergekommene Wohngegend, okay. Asphalt, Beton und Zäune, okay. Junge Männer, die sich zusammenrotten, Messer in den Händen, hasserfüllte Gesichter, die dir ihren Frust vermischt mit den harten Beats um die Ohren hauen.
Ist das alles? Ist das wirklich alles?
Wie armselig!
Es erinnert mich an die Katze im Versuchslabor, die nie eine andere Form sah, als den schwarz-weiß gestreiften rechteckigen Kasten, in dem sie gehalten wurde. Sie konnte den kreisförmigen Ausgang in der Wand, der ihr plötzlich den Weg nach draußen eröffnete, nicht sehen, weil ihre Wahrnehmung ein Leben lang auf Geradlinigkeit ausgerichtet war.
Du hast aber in deiner Entwicklung andere Rezeptoren erworben.
Erinnere dich!
Erinnere dich an den Garten, der dich durch deine Kindheit begleitete; an das Trommeln der Regentropfen auf dem Dach der kleinen Hütte,