Von diesem Sommer bis zum nächsten. Susanne Margarete Rehe

Von diesem Sommer bis zum nächsten - Susanne Margarete Rehe


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dem Hintergrund und ein kaum wahrnehmbares Absenken des Geräuschpegels ließen Gerdi vermuten, dass Leon ihrer Bitte nachgekommen war.

      Diese kleinen Streitereien!

      Früher, als Gerdi und Leon noch zusammen gelebt hatten, gingen sie ihr ziemlich auf den Geist. Sie zogen ihr oft den letzten Tropfen Energie ab, den sie nach einem langen und harten Arbeitstag noch in sich hatte. Streitereien – um was eigentlich?

      Um die nicht erledigten Arbeiten im Haushalt, um sein unordentliches Zimmer, um die Kleidung, die ganz bestimmt nicht zum Wetter draußen passte, um das Essen, das mal wieder nicht schmeckte, um die schlampig oder gar nicht erledigten Hausaufgaben … geschenkt! Im Grunde nichts Ernstes. Es war wohl eher normal, zeitgemäß sozusagen.

      Leon war sechzehn und steckte irgendwo inmitten der Blütezeit seiner Pubertät fest.

      Seit Gerdi zu Paul gezogen war, lebte Leon mit seinem Vater zusammen.

      Leon war nicht bereit gewesen, seine Freunde und die gewohnte Umgebung zu verlassen und Gerdi wollte nicht bleiben. So hatte sich Leons Vater entschlossen, für sich und seinen Sohn eine Wohnung anzumieten, damit Leon weiterhin an dem Ort leben konnte, an dem er bleiben wollte und hatte somit Gerdi den Weg einer freien Entscheidung ermöglicht.

      Jetzt musste Gerdi in sich hinein grinsen, wenn sie an die täglichen kleinen Querelen mit Leon zurückdachte. Und irgendwie fehlten sie ihr sogar. Dem Schlagabtausch ihrer Konflikte haftete eine Lebendigkeit an.

      Es war Leons Suchen und Ringen um seine Wirklichkeit, seinen Weg, seine Persönlichkeit, seine Stärken und Schwächen und gleichzeitig auch ihr eigenes Bemühen, ihn nicht gänzlich einer Welt zu überlassen, deren Ziele und Wertmassstäbe sie unerträglich fand. Im Grunde waren es kleine Kämpfe, in denen sie sich sagten:

      Schau her, das bin ich! So denke ich und so sehe ich die Welt!

      „Du, sag mal“, fragte Gerdi, „wie läuft’s eigentlich in der Schule? Kommst du klar?“

      „Na ja, geht so. Hab in Mathe eine Vier Minus geschrieben – Kurvendiskussion …“

      „Und warum? Hast Du nicht gelernt oder hast du es nicht verstanden?“

      „Ja, doch, schon. Aber irgendwie … im Übrigen war’s genau der Klassendurchschnitt. Die anderen war’n auch nicht besser.“

      „Doch, Leon, das glaube ich aber schon! Ganz sicher waren Einige besser und Andere waren dafür eben noch schlechter. Und ich glaube, das weißt du ganz genau! Wahrscheinlich hast du wieder am Abend vor der Arbeit angefangen zu lernen.“

      „Ja, kann sein … ich hab einfach keinen Bock mehr! Im Übrigen ist der Lehrer blöd.“

      „Bitte?“

      „Ja, er ist blöd und ich mag ihn auch nicht.“

      „Jetzt hör mir mal zu, mein Sohn. Vermutlich ist dein Lehrer nicht halb so blöde, wie du annimmst. Und selbst wenn er es wäre – das spielt doch überhaupt keine Rolle. Auch ob du ihn magst oder nicht, ist völlig uninteressant. Hier geht es einzig um dich, um deine Ausbildung, um deine Zukunft.“

      „Hey, weißt du was – es nervt langsam. Lass mich einfach in Ruhe damit!“

      „Kann sein, dass es dich nervt, Leon. Aber was erwartest du eigentlich von mir? Dass ich deine Null-Bock-Haltung akzeptiere? Ich bin deine Mutter und du bist mir nicht egal. Warum kapierst du nicht endlich, worum es geht?“

      „ …“

      Schweigen.

      Leon hippelte mit beiden Beinen auf dem Boden und fixierte äußerst konzentriert die Zimmerdecke. Er hatte sich mittlerweile in seine „Ich-bin-nicht-da-Welt“ gebeamt und somit das Gespräch beendet.

       Na klasse – das hab ich doch mal wieder geschickt hingekriegt!

       Kaum bin ich hier, liegen wir uns schon wieder in den Haaren.

       Ob sich eigentlich so eine Spannungskurve, die eben steil nach oben schoss, wohl auch mit einer Kurvendiskussion berechnen lässt?

       Wäre doch sicher ganz spannend, mal herauszufinden. Vielleicht mit den entsprechenden Koordinaten und einer mathematischen Formel: Also wenn z. B. der Erwartungsdruck der Mutter X wäre und im Verhältnis stünde zum Befindlichkeitswert Y des Sohnes, dann ließe sich unter Einbeziehung weiterer Werte und Schnittstellen vielleicht der Zeitpunkt im Voraus berechnen, wann die Spannungskurve steil ansteigt. Ich könnte dann in Zukunft ja kurz vorher auf die Toilette gehen oder zum Bäcker. Das wäre vielleicht ein Erfolg versprechender pädagogischer Ansatz!

       Vermutlich aber nur für Herrn Einstein und ähnlich lichte Geister praktikabel.

       Ich werde es wahrscheinlich doch anders lösen müssen.

      „Hey, Leon“, lenkte sie schließlich ein, „wollen wir uns nicht wieder vertragen?

      Um zu grummeln ist unsere Zeit eigentlich zu schade. Es tut mir Leid wegen vorhin. Ich weiß, dass es kein Weg ist, so miteinander zu reden. Komm, erzähl mir lieber, was du gerade so machst und denkst.“

      „Schon in Ordnung, kein Ding.“

      Leon machte eine abwehrende Bewegung. Auch er wollte keinen Streit mit seiner Mutter und wechselte das Thema.

      „Ich kann dir ja mal meine neue CD vorspielen. Hab ich die ganze Woche schon laufen lassen, hör mal! Gefällt’s dir?“

      Leon schob eine CD in die Anlage und spielte Gerdi seine Lieblingssongs daraus vor. Sie hatte es sich auf Leons Bett bequem gemacht und hörte zu. „Und“, fragte Leon, „wie findest du’s?“

      Gerdi schwieg einen Moment, bevor sie Leon antwortete:

      „Naja, also, die Musik find ich nicht schlecht. Der Part mit der Klaviermusik im Hintergrund gefällt mir sogar ganz gut. Aber weißt du, Leon, dieser rohe und verachtende Text, der manchmal so abartig brutal rüberkommt, ist einfach heftig. Was soll sich denn daraus an Veränderung ergeben? Und wohin soll das führen, wenn nicht zu Hass und Gewalt?“

      Leon verdrehte die Augen.

      „Okay, du verstehst es einfach nicht!“, entgegnete er genervt.

      „Oh, Mann! Es geht doch nicht darum, Hass und Gewalt zu erzeugen, sondern zu zeigen, dass genau das die Situation von vielen Jugendlichen ist. Dass es eben scheiße ist, so wie’s läuft. Dass vielleicht schon die Alten keine Arbeit haben und die Kids eben auch keinen Job kriegen, weil sie unter völlig miesen Bedingungen leben. Und Viele haben einfach keine andere Chance, als sich mit Dealen ihre Kohle zu verdienen oder indem sie irgendwelche Dinger drehen.“

      „Ja, ja, ja, ist ja gut“, entgegnete Gerdi, „einesteils mag es vielleicht stimmen, was du da sagst. Aber andernteils stimme ich dir überhaupt nicht zu. Denn das, was du beschreibst, ist in gewisser Weise auch ein Klischee, das hier bedient wird.

      Armut und Elend gab es doch schon immer und überall! Und trotzdem reagieren nicht alle Menschen gleich. Jeder Mensch bestimmt in jeder Situation, wie er sich entscheidet und wie er handelt, ob bewusst oder unbewusst, ob klug oder dumm, das sei mal dahingestellt. Aber er trifft seine eigene Entscheidung!

      Und was ich bei dem, was du mir erzählst, vermisse, ist die eigene Haltung, die in eine andere Richtung weist.

      Verstehst du, Leon, wenn ich Drogen verchecke und mich einen Dreck drum schere, dass ich andere damit ins Elend reiße, reagiere ich doch nach den gleichen Mustern, die andererseits aber angeprangert werden.“

      Leon schüttelte den Kopf und sah seine Mutter an.

      „Welche Muster? Ich versteh überhaupt nicht wovon du redest?“

      Es war wie so oft – ihre Worte liefen aneinander vorbei.

      Es war mühsam, eine Sprache zu finden, in der sie einander verstehen konnten. Für beide schien es so zu sein. Dabei war gerade die Musik oft ihr gemeinsamer Anknüpfungspunkt.


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